Beim Hören Autoren entdecken

»Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier« ((Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1&2 – Gedichte, Reinbek bei Hamburg 1990 [zuerst 1975], 7.))

Es gibt Schriftsteller, die hartnäckig als »Geheimtipp« gehandelt werden oder nach kurzer Bekanntheit weiter nur noch vor allem von Liebhabern zur Hand genommen werden. Ich denke dabei an Oskar Pastior, Hans Henny Jahnn, Gertrud Kolmar und neben vielen anderen eben auch Rolf Dieter Brinkmann.

Sie haben alle auf weiße Stücke Papier geschaut. Sie haben alle ungewöhnliche Werke geschrieben. Viele von ihnen sind Dichter (Pastior, Kolmar, Brinkmann) oder waren als Künstler auf mehreren Gebieten unterwegs (Jahnn: Prosa und Orgelbau; Guibert: Prosa, Fotografie, Film; Brinkmann: Lyrik, Fotografie, Hörspiel).

Begegnet bin ich von diesen Schriftstellern alleine Oskar Pastior ((Frankfurter Poetikvorlesung, Wintersemester 1993/94: Oskar Pastior – Das Unding an sich)) während seiner Frankfurter Poetikvorlesungen im Wintersemester 1993/94. Ich erinnere mich gut, dass das von ihm angebotene Seminar zur Vorlesung – na, sagen wir einmal »bescheiden« besucht war. So bescheiden, dass wir uns im Büro eines Profs bei Rotwein und Häppchen mit dem Autor über Gedichte unterhalten konnten.

Diese Begegnung war spannend und deprimierend zugleich: Da saßen wir also mit einem nicht ganz unbedeutenden Lyriker der Gegenwart zusammen, an dem gleichzeitig nur vier Studierende des nicht gerade kleinen germanistischen Fachbereichs der Frankfurter Uni interessiert waren. – Und als er mit 78 Jahren endlich den längst überfällige Büchnerpreis erhalten sollte, starb er kurz vorher, ohne noch einmal erleben zu dürfen, dass sein Werk in einem größeren Rahmen gewürdigt wurde.

Pastior war ein Meister der Sprache, des Vorlesens und sah seine Literatur auch tatsächlich für den Hörer geschrieben an. Es war eine Freude, die auf dem Papier so unverständlich wirkenden Gedichte aus seinem Munde zu hören und plötzlich nicht nur die Freude zu entdecken, die der Autor mit diesen dadaistisch anmutenden Werken hatte, sondern von den klingenden Texten verzaubert zu werden. Da war kein auf den ersten Blick erkennbarer Sinn – und doch entführten diese Sprachkompositionen mich beim Hören in die Welt der Faszination.

Pastior packte mich, als ich ihn seine Texte lesen hörte. Und bei einem ganz anders ausgerichteten Autor ist mir das jetzt gerade wieder passiert. – Auch dieser gehört in die Liste, der nur einem eher kleinen Kreis bekannten Literaturliebhabern bekannt und hätte doch einen breiteren Leserkreis verdient.

Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband »Westwärts 1&2« steht nun schon seit 1999 bei mir, wurde immer mal wieder zur Hand genommen, dann wieder weggelegt. Auf den ersten Blick schwiegen die Texte mich an. Und dann sendete der Bayerische Rundfunk im Mai und Juni 2008 eine Reihe im HörspielArtMix mit Werken von Brinkmann.

Dabei unter anderem eine Reihe von Auszügen aus »Wörter Sex Schnitt«: Ein Autor mit dem Mikrofon unterwegs, redend, lesend, kommunizierend, schimpfend – und plötzlich begannen seine Texte in meinen Ohren zu klingen, auch wenn ich sie lese. Ich höre diese Stimme, ihren Rhythmus und Klang nun auch in den Gedichten Brinkmanns beim Blättern in »Westwärts 1&2«. Und plötzlich kann ich sehr viel mit diesen Texten anfangen.

Ich kann noch mehr Autoren nennen, die für mich viel lebendiger wurden, nachdem ich ihre Texte gehört hatte. ((Paul Celan muss in diesem Rahmen zum Beispiel unbedingt noch genannt werden.)) Dabei handelt es sich oft um Lyriker. Für mich ist das kein Zufall: Gedichte haben es an sich, dass sie sich eigentlich nur dann für das leise Lesen eignen, wenn sie systematisch analysiert werden, darüber hinaus aber gesprochen und gehört werden wollen.