Schmöker-Schnipsel – Nudin der Wissbegierige oder: Die Langeweile des »Allwissens«

Markus Heitz lässt in seinem Fantasyroman »Die Zwerge« ((Markus Heitz, Die Zwerge, München/Zürich 2008 [8. Auflage])) sechs Magier auftreten, die alle mit einer Charaktereigenschaft näher bezeichnet werden: Lot-Ionan der Geduldige, Maira die Hüterin, Andôkai die Stürmische, Turgur der Schöne, Sabora die Schweigsame – und Nudin der Wissbegierige.

Nudin der Wissbegierige bekommt im Laufe der Geschichte die Möglichkeit, Nudin der Allwissende zu werden: Er weiß alles, seine Neugier ist in jeder Hinsicht befriedigt, ohne dass er große Anstrengungen unternehmen müsste: Nudin muss nicht mehr forschen, lesen, reisen oder experimentieren. Aber ist Nudin jetzt glücklich?

»Plötzlich überkam ihn Langeweile, denn es gab nichts mehr für ihn zu tun.« (388)

Eine für mich nahe liegende Assoziation ((Der Link führt zu einem Video des Bayerischen Rundfunks aus der Reihe »Geist und Gehirn« zum Thema »Assoziationen«)): Allwissend ist zwar kein Mensch, aber immer mehr Menschen gehen mit Wissen so um, als gebe es eine Quelle, die allwissend sei, eine Quelle, in der Menschen alle Antworten finden, ohne forschen, experimentieren oder gar reisen zu müssen – auch wenn es ganz ohne das Lesen nach wir vor nicht geht. Immer mehr Menschen verlassen sich bei Wissensfragen auf das Internet. Hier, so wird vermutet, fände sich alles Wissen, bequem abrufbar und ständig verfügbar.

Wenn jemand Bescheid-Wissen haben will stimmt das ja auch: Ich befasse mich mit einem Buch und lese schnell mal nach, was da online zu finden ist. Warum soll ich denn ein Buch selbst lesen und mir Gedanken über eine Text machen, wenn das doch schon andere Menschen getan haben?

Meine Beobachtung dabei ist aber, dass viele Bücher auf diesem Wege langweilig werden. Ich muss  keinen Weg mehr gehen, um den Inhalt für mich zu erfassen. Doch jede Spannung, die in einem Roman angelegt ist, und jede persönliche Frage, zu der mich ein Gedicht anregen kann, gehen dabei verloren. Ich werde zu einem wiederkäuenden Etwas, das eigener Gedanken immer unfähiger wird und kaum von sich behaupten kann, ein so behandeltes Buch gelesen zu haben.

Gleiches gilt für Filme: Warum soll ich mir einen spannenden Film, z. B. einen Krimi, noch anschauen, wenn ich mir die Handlung schnell im Internet anlesen kann? Tue ich das, ist der Film oft schnell langweilig, weiß ich doch eh schon, wie es ausgehen wird. ((Filme und Bücher, die diesem Bescheid-Wissen widerstehen können und trotzdem oder gerade wegen des Vorwissens spannend bleiben, sind für mich die wirklich großen Kunstwerke.))

Befriedigte Wissbegier verbreitet Langeweile. Und diese Langeweile, so lässt Markus Heitzs Gestaltung der Figur des Nudin vermuten, könnte eine Ursache sein, dass dann auf anderen Wegen das Gefühl der Spannung befriedigt werden will. In »Die Zwerge« führt dieser Weg immerhin zur Gefährdung des Lebens einer gesamten Zivilisation. ((Dies alles schließt natürlich nicht aus, dass auch Wissbegier selbst, zu enormen Bedrohungen führen kann. Beim Schmökern kam heute aber nun einmal eine andere Assoziation an die Oberfläche.))

Noch eine Assoziation: In »Die Zwerge« ist das Thema des Wissens eher ein Nebenstrang; in Goethes Faust hingegen, wird die Frage nach dem Erstreben von Wissen gleich im 1. Bild (Nacht) ins Zentrum gestellt und spielt in der ganzen Tragödie eine zentrale Rolle. ((Eine nähere Betrachtung dieses Themas würde über einen »Schmöker-Schnipsel« weit hinaus führen. Damit befasse ich mich vielleicht ein anderes Mal an dieser Stelle.))