Faust 1: Nacht – »Nachts in einem hoch gewölbten, engen gotischen Zimmer.« (Gelehrtentragödie 1 – Verse 354–521)

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Faust 1: Nacht – »Nachts in einem hoch gewölbten, engen gotischen Zimmer.« (Gelehrtentragödie 1 – Verse 354–521) von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

Goethes Faust ist nicht dumm – und das ist sein Problem. Um dies zu erkennen, muss keine Zeile des Eingangsmonolog gelesen werden, schon die Regieanweisung Goethes reicht:

»Nachts in einem hoch gewölbten, engen gotischen Zimmer. Faust unruhig auf seinem Sessel am Pulte.«

Auch ohne sich in der Kunst- und der mit ihr verbundenen Ideengeschichte auszukennen, lässt dieser Rahmen für Fausts Auftreten die Figur und ihre Situation erfassen:

Es ist dunkel, eng und das Zimmer strebt nach oben. Der Raum spiegelt hier bereits die Situation Fausts wider. Er fühlt sich eingeengt und strebt nach höheren Wissen. Wir finden uns in Fausts Studierstube. Dunkelheit umgibt ihn, obwohl er, wie wir gleich in den ersten Versen erfahren, die zentralen Fächer der Wissenschaft seiner Zeit studiert hat: Philosophie, Jura, Medizin und Theologie. (V354–357).

Das Ergebnis ist niederschmetternd:

»Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor; / Heiße Magister, heiße Doktor gar / […] / Und sehe, dass wir nichts wissen können! / Das will mir schier das Herz verbrennen.« (V358–360; V364f)

Da hat sich einer mit dem gesamten Wissen seiner Zeit befasst und doch keine Antwort auf die einzige Frage bekommen, die ihn wirklich beschäftigt, die Frage nach dem Ur-Grund von allem, nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (V382f)

Goethe platziert Faust hier in einem »Mauerloch, / Wo selbst das liebe Himmelslicht / Trüb durch gemalte Scheiben bricht!« (V400f). Der klare Blick zum Himmel ist versperrt, sein Licht bricht sich nur in den Fenstern, die wir mit unseren Werken bemalt haben, die aber auch den direkten Zugang zum Ur-Grund verbauen. Hier wird der Raum zum Symbol für den Wissenden, für den, der die Enge des Wissens kennengelernt hat und die Unschuld des »einfachen Volkes« verlor.

Die Metaphysik und die Theologie, jene Disziplinen, die sich in der gotischen Baukunst vereinen und die Faust anhand von Büchern sich anzueignen vermochten, scheitern bei der für ihn zentralen Frage nach einer Art »Weltformel«. Und so versucht es Faust mit der Magie.

Zunächst gerät ihm ein Buch des Nostradamus in die Hände: Faust meditiert das Zeichen des Makrokosmos, in dem die Natur als Gesamtheit, als ein Ganzes dem Meditierenden als harmonisches Universum entgegen tritt. Doch auch dies reicht ihm nicht:

»Welch Schauspiel! Aber ach! Ein Schauspiel nur! / Wo fass ich dich, unendliche Natur? / Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens, / An denen Himmel und Erde hängt, / Dahin die welke Brust sich drängt – / Ihr quellt, ihr tränkt, ihr tränkt, und schmacht ich so vergebens?« (V454–459)

Nun kann man sagen, Faust lasse sich auf das Zeichen nicht wirklich meditierend ein, sondern bezeichnet es intellektuell gleich als Schauspiel, letztlich also als eine von einem begrenzten Menschen geschaffene, begrenzte »Schauspielerei«. So ist er aber nun einmal von Goethe gestaltet worden, der ihn als Gegenstück zum großen Makrokosmos nun das Zeichen des Erdgeistes, ein aus dem Werk heraus kaum näher zu erklärenden Wesen, erblicken lässt.

Der Erdgeist führt Faust von der Betrachtung zum tätigen Handeln. Er beschwört den Geist (V460–481), der ihm erscheint und sich als überlegen erweist. Mit der Zurückweisung von Fausts Identifikationsphantasien – »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir« (V512f) – bricht Faust in sich zusammen.

Faust muss seine eigene Begrenztheit erkennen. Er ist ein Mensch, an die irdische Existenz, an seine Vergänglichkeit gefesselt, die ihm nur im gedanklichen Selbstüberstieg erkennbar ist. Erhoffte sich Faust eben noch im Umgang mit den Geistern eine Befreiung aus der Enge seines begrenzten Wissens, muss er nun erkennen, dass er ihnen unterlegen ist.

Und genau in dieser Situation erscheint Fausts Schüler Wagner »im Schlafrock und mit Nachtmütze, eine Lampe in der Hand« als nahezu groteske Gestalt, angesichts der Situation eines mit der tiefsten Sehnsucht nach umfassendem Wissen beschäftigten Fausts.