Faust 1 – Vor dem Tor (Gelehrtentragödie 2 – V 808–1177)

Was bereits in den letzten Versen der Nacht-Szene in Goethes Faust (V 737–807) von Engeln verkündet und von Faust in seiner tiefen Zerrissenheit vernommen wird, wird in den Versen 808–1177 (Vor dem Tor) ausgearbeitet: Es ist die Osternacht, in der Faust in seinem Studierzimmer nach metaphysischer Wahrheit strebt. Ostern: Das christliche Fest der Auferstehung Jesu Christi, das Fest, in dem sich im christlichen Glauben die Selbstoffenbarung Gottes vollendet. Faust Suchen nach Wahrheit könnte hier eine Antwort finden, doch er sagt:

»Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube; / Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. / Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben, / Woher die holde Nachricht tönt. (V 765–768)

Und doch erinnert sich Faust an die Gefühle, die das Osterfest in seiner Jugend bei ihm ausgelöst haben. Gemeinsam mit Wagner begibt er sich am Ostertage vor das Tor, so dass die folgende Szene oft auch als »Osterspaziergang« bekannt ist, wenn manche diese Bezeichnung auch alleine auf die Verse 903–940 anwenden.

Faust fühlt sich angesichts des bunten Treibens »vor dem Tor« sichtlich wohl: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein« (V 940). Doch dieses Gefühl hält nicht lange. Faust begegnet Bauern und wird von einem Alten als Arzt besonders gelobt. Dies erinnert Faust an seine eigene Biographie, in der miterleben musst, wie sein Vater angesichts der Pest als Alchimist ein unwirksames, ja giftiges, Medikament erschuf, dass er gemeinsam mit seinem Sohn vertrieb. Faust sieht sich selbst als (Sohn eines) Mörder(s) (V 1055).

Goethe erzählt diese Geschichte an dieser Stelle, weil sie möglicherweise einen biographischen Hintergrund für Fausts gegenwärtiges Streben bietet. Zumindest bringt Faust im Anschluss an diese Begegnung sein Lebensproblem auf den Punkt:

»O glücklich, wer noch hoffen kann, / aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! / Was man nicht weiß, das eben brauchte man, / Und was man weiß, kann man nicht brauchen.« (V 1064–1067)

Und kurz darauf wird es richtig kompliziert: Wagner singt ein Loblied auf die Buchgelehrsamkeit (V 1100–1109), worauf Faust antwortet:

»Du bist dir nur des einen Triebs bewusst; / O lerne nie den andern kennen! / Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen.« (V 1110–1117) ((Vgl. hierzu auch: Friedrich Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts (Brief 12 und 13). ))

So kompliziert diese Verse klingen: Im Prinzip nehmen sie das bereits im »Studierzimmer« aufgebrochene Problem wieder auf, dass Faust an der Erkenntnis seiner eigenen Begrenztheit leidet, eine Begrenztheit, die deshalb so quälend sein kann, wie Faust sie erlebt, weil der Mensch sie erkennen kann, ohne ihr entfliehen zu können. Die eine, sich an die Welt mit klammernden Organen haltende, Seele ist jene Seite des Menschen, die man auch als Sinnlichkeit beschreiben kann, die die Vernunft zwar denkend übersteigen kann, aus der die Vernunft aber nicht befreit.

Faust leidet an seiner Forschung, weil sie rein rationaler Natur ist. Er erlebt sich als lebensfern und hofft zunächst auf die Magie als eine Möglichkeit, die rein rationale Erkenntnis zu übersteigen. Doch der Erdgeist macht ihm klar: So läuft das nicht. Aus seiner Haut – und damit der körperlichen Beschränktheit und Bedürftigkeit – kommt ein Mensch nicht raus.

Der Mensch ist in der Lage Dinge zu denken, die er nicht erfahren, erreichen oder gar beweisen kann. Hierzu gehören die Begriffe »Gott« und »Unendlichkeit«. Dies ist eine der Seelen in Fausts Brust. Die andere ist jene, die ihn als Menschen an seine Sinnlichkeit, besser könnte man hier wohl von seiner Körperlichkeit sprechen, bindet, an seine Begrenztheit oder mit einem Fachbegriff – Faust leidet an seiner Kontingenz, deren Überstieg er aber zugleich denken kann.

Goethes Faust hat also nicht mit einem sehr persönlichen Problem zu kämpfen, das ihn als Wissenwollenden quält, sondern mit einem Grundproblem des Menschen – vielleicht sogar dem Grundproblem menschlicher Existenz: Wie kann ein Mensch begrenzt und sterblich sein, der Unendlichkeit und Unsterblichkeit denken kann?

An dieser Stelle begegnet Faust der schwarze Pudel, der sich als Verkörperung des Mephistopheles entpuppen wird, der schon im »Prolog im Himmel« Fausts Problem so treffend beschrieb:

»Nicht irdisch ist des Toren Trank und Speise. / Ihn treibt die Gärung in die Ferne, / Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst; / Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne / Und von der Erde jede höchste Lust, / Und alle Näh und alle Ferne / Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.« (V 301–307)

Und so ist es jetzt fast so weit. Ein wenig wird Faust in der nächsten Szene noch seinen Studien nachhängen – dann wird ihm Mephistopheles den Ausbruch aus dem Studierzimmer anbieten und ihn mit auf »Weltfahrt« nehmen, mit dem Versprechen, zumindest die tiefsten sinnliche Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. – Doch dazu später mehr…