Mit LdL anfangen – oder: Schülerorientierter Unterricht. LdL-Tag in Ludwigsburg (2. Vorbericht)

Dieser Artikel war nicht geplant, aber er ist bei meinen Vorbereitungen auf den LdL-Tag in Ludwigsburg am 9. Mai 2009 entstanden.

Schülerorientiert unterrichten! Diesen Imperativ konnte ich am Ende meines Referendariates nicht mehr hören, obwohl es von den Ausbilderinnen und (wenigen) Ausbildern redliche Versuche gab, ihren Referendaren, wir hießen damals offiziell bereits LiV – Lehrende im Vorbereitungsdienst, also auch mir, zu vermitteln, was damit gemeint sein könnte: „Sie müssen Unterrichtsarrangements schaffen, in denen Lernende zu eigenen kognitiven Leistungen gelangen“, so hörte ich immer wieder. Was damit gemeint war, hatte ich wohl zumindest in Ansätzen verstanden, denn das „literarische Gespräch“ zu Jurek Beckers Roman „Bronsteins Kinder“ führte zu einem vergleichsweise sehr erträglichem Examensergebnis.

Was und warum an den kognitiven Leistungen der Lernenden anders gewesen sein sollte, als in „normalem“ Unterricht, in dem Lernende Arbeitsaufträge durchführen und sich dabei Wissen angeignen, war mir nicht so recht verständlich. Die Rede von den beobachtbaren kognitiven Leistungen hatte ich damals nicht verstanden, obwohl ich doch sehr lange nichts anderes getan habe, als zu lernen und Denkstrukturen aufzubauen, die physiologisch betrachtet ja eigentlich Netzwerke von Verknüpfungen im Gehirn sind.

Was „Lernen“ praktisch bedeutet wusste ich also. Für den Lehrberuf reicht aber nicht das Wissen über das Lernen, das meist so unreflektiert bleibt, wie die Regeln der Sprache (Grammatik) bei Menschen, die ihre Muttersprache perfekt beherrschen. Wer Sprache lehren will, muss die Strukturen der Sprache nicht nur verinnerlicht haben, sondern auch ausdrücken können. Und wer Lernen lehren will, muss wissen, wie lernen funktioniert.

Das Können des Menschen, Sprachen, Laufen etc., entwickelt sich über die Herausbildung entsprechender Gehirnstrukturen, die diese Prozesse möglich machen. Die Möglichkeit zur Entwicklung eben dieser Strukturen ist den Menschen von Geburt an in der Regel mitgegeben und hat auch mit der Möglichkeit des Gehirns zu tun, Neuronen miteinander zu vernetzen und diese kommunizieren zu lassen. Eine Vorstellung, die mir unmittelbar einleuchtete, die mir vor Augen führte, was es heißt, kognitive Prozesse von außen erkennbar werden zu lassen, denn kognitive Prozesse sind der Aufbau vernetzter Strukturen, die Können ermöglichen. Doch wir haben die Fähigkeit, nicht nur so praktische Dinge zu lernen wie das Sprechen oder das Laufen, sondern auch abstrakte Vorstellungen zu entwickeln, mit deren Hilfe wir z. B. zu Wissen gelangen, wie bspw. Sprache funktioniert, welchen Regeln sie folgt und wie man mit Hilfe dieser Regeln anderen Menschen das Sprechen beibringen kann – oder selbst das Sprechen weiter entwickeln, z. B. beim Erlernen von Fremdsprachen.

Damit ein solches Können aufgebaut werden kann, müssen entsprechende Synapsenverbindungen im Gehirn aktiviert bzw. aufgebaut werden, es müssen Lernprozesse stattfinden, die möglichst mit positiven Emotionen verbunden sind. Und für mich als Lehrer gibt es deshalb bis heute kaum etwas erschreckenderes als wenn ich feststellen muss, dass Lernen für viele Menschen mit Gefühlen der Angst verbunden wird. Das aber nur am Rande.

Die große Frage blieb für mich über das Referendariat hinaus, wie Lernprozesse, die die Erkenntnisse der Hirnphysiologie zur Kenntnis nehmen und nutzen, aussehen und angeleitet werden können.

Im Referendariat hieß das Zauberwort „Konstruktivismus“ und dem entsprechend wurden auch konstruktivistisch orientierte Lernmethoden Gegenstand der Ausbildung, wobei ich mich allerdings nicht erinnern könnte, dass der Begriff jemals eine klarere Beschreibung erfahren hätte als den Hinweis auf von außen erkennbare kognitive Prozesse. Für mich war das zu wenig, um diesen Ansatz zu verstehen.

Und dann begegnete ich dem Ansatz von „Lernen durch Lehren“, der mir sehr deutlich vor Augen führte, was mit erkennbaren kognitiven Prozessen gemeint ist. Außerdem war mir der Ansatz sympathisch, da er auf materialreiche Methoden, die den Transport der Materialien in großen Tüten und Koffern verlangte, im Ansatz erst einmal verzichtet.

Im klassischen Sinne geht es darum, dass Lernende Texte bekommen und diese dann gemeinsam erarbeiten, wobei der Lehrer die Moderatorenrolle abgibt und zum Berater und Impulsgeber wird. Das Ziel dabei: Die Lernenden sollen zum Sprechen gebracht werden.

Dieses Ziel hängt wohl unmittelbar damit zusammen, dass LdL von dem Französischdidaktiker Jean-Pol Martin entwickelt wurde. Doch genau über dieses Sprechen der Lernenden miteinander, ich spreche lieber von der Kommunikation untereinander, findet weit mehr statt als nur der Austausch sprachlicher Codes. Hier werden kognitive Prozesse idealerweise von außen erkennbar. – Was bislang in den Köpfen vorging und kaum einmal artikuliert wurde, wird nun sichtbar, wenn es gelingt, die Lernenden dahin zu bekommen, dass sie wie „Neuronen“ miteinander arbeiten, indem quasi die Struktur des Lernens von Individuen, wie sie von Neurophysiologen erforscht wurde, auf das Lernen in einer Lerngruppe übertragen wird.

Eigentlich ist der Gedanke trivial, da Lernen immer in vernetzten Strukturen stattfindet: Wer kein Gegenüber hat, der mit ihm spricht, lernt nicht sprechen, um nur ein Beispiel zu nennen. Doch bislang liefen viele Lernprozesse nicht vernetzt ab, sondern vor allem über einen Knotenpunkt, den Lehrenden, der die Fragen stellte, Fragen beantwortete und von dem aus die meisten Impulse ausgingen. Die Lernenden kommunizierten miteinander immer über die Zwischenstation des Lehrenden – also nur indirekt. Dem sollen Gruppenarbeiten, Stationenlernen, Projektunterricht entgegenwirken, mit all dem enormen Aufwand, der mit vielen dieser Methoden  verbunden ist. Aber auch hier kommt es immer nur zur Kommunikationen von Teilmengen einer Lerngruppe, es werden also die Potentiale, die in Kommunikationsprozessen der ganzen Lerngruppe liegen, immer nur teilweise genutzt, auch wenn es Auswertungsphasen gibt, in denen die Ergebnisse gegenseitig vorgestellt werden.

Wie also müsste eine Methode aussehen, die 1. möglichst viel des Denkpotenzials einer Lerngruppe nutzt und 2. zu kognitiven Prozessen führt, die durch eine 3. angenehme Lernatmosphäre zu 4. emotional in möglichst vielen Fällen positiv besetzte Ergebnissen führen?

Diese Fragen hatte ich im Hinterkopf, als ich LdL begegnete: Hier tritt der Lehrer als Kristallisationspunkt, sozusagen als Super-Neuron, zurück und es wird die direkte Kommunikation über ein Thema zwischen den Lernenden möglich. Es entsteht ein Prozess, der nicht strahlenförmig immer auf den Lehrenden zuläuft und von diesem dann wieder ausgeht, sondern das Denken der Lernenden bekommt Strukturen, die tatsächlich einem Netz ähneln, in dem es viele aktive „Neuronen“ gibt.

Wenn ein Schüler von mir seine Erfahrungen mit den Worten „Das ist wie ein kollektives Gehirn“ beschreibt, so läuft es mir zwar erst einmal eiskalt den Rücken herunter, weil ich mit Kollektivismus eigentlich immer Uniformität verbinde, doch trifft der Schüler mit dieser Äußerung genau ein Bild, das mit LdL immer wieder verbunden wurde und wird. Wenn man sich klar macht, dass die hier entstehenden Lernstrukturen eben nicht uniformieren, sondern endlich die Differenz in Lerngruppen für das Lernen selbst wirksam werden lassen, ist die Metapher vom kollektiven Gehirn (Neuronenmetapher) für mich überhaupt nicht mehr erschreckend.

Und die Methode ist so einfach: In ihrer klassischen Form geht sie von (anspruchsvollen!) Texten aus, die die Lernenden miteinander und bei großer Zurücknahme des Lehrenden einander lehren, anhand derer sie zu kognitiven Leistungen gelangen, die so nur in symmetrisch vernetzten Kommunikationsprozessen möglich sind.

Aber auch ohne Texte können solche Strukturen eingesetzt werden. Ein Beispiel aus dem Religionsunterricht der Sekundarstufe 1: Am Anfang der Stunde schreibe ich das Wort „Wunder“ an die Tafel, lege die Kreide weg und setze mich auf einen freien Platz im Klassenraum, wobei ich noch sage: „Was fällt euch dazu ein?“

Es dauerte nicht lange, bis die Schüler und Schülerinnen verstanden haben, dass sie ihre Ideen an die Tafel bringen sollen. Im Zentrum steht zunächst der Sprachgebrauch, der etwas besonders schönes und faszinierendes mit dem Wort verbindet, wobei das Wort „Naturwunder“ sehr schnell fällt, aber auch „Die Entdeckung eines Medikamentes gegen Krebs“ steht bald an der Tafel. Erst ganz zuletzt ergänzt jemand „Wenn Jesus einen Menschen heilt“.

Als keine weiteren Impulse mehr kommen, gebe ich den Impuls, dass die Schüler und Schülerinnen nun versuchen sollen, in ein bis zwei Sätzen zu erklären, was denn nun ein Wunder sei.

Dieser Impuls löst den eigentlichen kognitiven Prozess aus. Es wird über Naturwunder gesprochen, darüber, dass es doch schon ein Wunder sei, dass es die Erde gebe und dass es mal einen Urknall gab. Doch dann wirft jemand ein, dass das für uns doch alles normal sei und das Dinge, die uns ständig begegnen, vielleicht wunderbar seien. „Aber was wir ständig um uns haben, sehen wir nicht mehr als Wunder.“ – Ja, zu solchen Sätzen sind Mittelstufenschüler in der Lage.

Eine Unschärfe war entstanden. Da musste jetzt eine Lösung her. Und über mehrere Schritte kamen die Schüler und Schülerinnen zu folgender Erklärung für Wunder: „Wunder sind Dinge, die passieren, obwohl sie eigentlich gar nicht passieren können.“ Hier wird zwar nicht gesagt, dass Wunder Ereignisse sind, die naturwissenschaftlich nicht erklärt werden können, aber den Kern haben die Schülerinnen und Schüler in einer für sie angemessenen Sprache gefunden und am Ende auch im Heft gehabt.

Das für mich faszinierende ist: Hier sehe ich plötzlich kognitive Prozesse. Ich sehe, wie ein Denkprozess sich seine Wege sucht, um zu einer Lösung zu kommen. Das ist problemorientiert Unterricht, indem aber wirklich die Probleme auftauchen, die Lernende haben, ohne dass ein Lehrender diese mühevoll hätte konstruieren müssen. Und der hier beschriebene Denkprozess ist in 45 Minuten gelaufen, mit dem Ergebnis, dass ich wirklich denkende Schüler und Schülerinnen erlebte. Ich gab nur an einzelnen Stellen Impulsfragen in die Lerngruppe, die den Denkprozess vorsichtig steuerten, wenn eine Frage ausdiskutiert erschien, ohne dass die sich daraus ergebenden Folgefragen klar gestellt worden wären. Aber auch diese Fragen nahmen immer nur Impulse auf, die von den Schülerinnen und Schülern selbst gegeben wurde – und LdL heißt ja, dass sich alle miteinander vernetzen, die am Lernprozess beteiligt sind, da gehört der Lehrende nun einmal auch dazu.

LdL war für mich am Anfang intuitiv die Antwort auf meine Frage, wie das denn nun mit der Ermöglichung von kognitiven Prozessen gehen könnte, die dann auch noch von außen beobachtbar werden. Und als ich diesem Gefühl folgend mit LdL anfing, passierte auch noch genau das, was ich bei meiner Beschäftigung mit dem Thema antizipiert hatte.
Aber es gibt auch Probleme, die in all den positiven Erfahrungen, die in letzter Zeit im Netz dokumentiert werden, von mir nicht außen vor gelassen werden, es tauchen neue Unschärfen auf. Ich möchte diese Probleme hier nur anreißen, aber nicht umschiffen.

Ich nutze LdL phasenweise und weiß, dass auch die Position der totalen Umstellung auf diese Art von Unterricht gibt. Kann eine solche totale Umstellung wirklich gelingen?

Die Frage der Bewertung von LdL-Lernprozessen wird diskutiert und unterschiedlich beantwortet. Jean-Pol Martin sagt, dass er den Lern- und den Bewertungsprozess voneinander trennt. Mir ist dieser Ansatz sympathisch, aber die Schülerinnen und Schüler fragen immer nach, wie ich denn nun solche Stunden bewerte. Meine Antwort bisher: Mündliche Leistung besteht nicht zuerst aus „richtigen Antworten“, sondern in der Beteiligung am Lernprozess selbst. Fehler sind nämlich, so meine Beobachtung, echte Antriebsfedern für das Lernen, wenn ein andere Schüler plötzlich sagt, dass er eine bestimmte Auffassung oder Äußerung nicht verstehe, weil…

Eine weitere Frage ist für mich das Phänomen, dass Schülerinnen und Schüler LdL-Stunden zwar überwiegend als gute Stunden erleben, sie dann aber plötzlich auch „Input“-Stunden wünschen, Stunden, in denen es explizit auch Lehrervorträge geben soll.

Am Anfang dachte ich noch, dass ich Probleme mit dem Lehrplan bekommen würde, wenn ich LdL einsetze. Bis jetzt ist dieses vermutete Problem nicht akut geworden, was gegen die Befürchtung spricht.
Aber ich erinnere mich gut, wie das am Anfang war, als ich gerade auf LdL stieß und überlegte, ob ich diese Methode einsetzen solle oder nicht. Das war ein Hin und Her von unterschiedlichsten Fragen, die ich mir stellte und die ich hier teilweise gerade wiedergegeben habe. Die einzige Lösung war: Ich musste LdL ausprobieren. Das hat zwar nicht alle Fragen gelöst, die auf reflexiver Ebene nach wie vor immer mal wieder auftauchen, das hat mir aber schon einige äußerst spannende Unterrichtsstunden beschert, ohne dass ich leugnen wollte, dass die Lerngruppen sehr unterschiedlich offen auf diese Art des Unterrichtens reagieren. Da braucht es manchmal einer etwas größeren Hartnäckigkeit und vor allem für die Lernenden spannende Impulse und Materialien.

Insgesamt hat sich für mich über LdL eine größere Klarheit ergeben, was damit gemeint war, wenn meine Ausbilder und Ausbilderinnen davon sprachen, dass im Unterricht kognitive Prozesse erkennbar werden sollen. Und das ist dann doch auch ein Lernprozess – oder?