Rechtschreibung – wichtig und sekundär, oder: Vom Lesen und Schreiben

Dieser Beitrag greift die Einsichten auf, die der Verfasser im Rahmen einer Fortbildung mit  Ingrid Naegele zu Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten gemacht hat. Zentrale Gedanken, denen ich hier meine eigene Ausdrucksform zu geben versuche, verdanke ich dementsprechend Ingrid Naegele, an deren reicher Erfahrung ich im Rahmen der Fortbildung partizipieren durfte.

Die Fähigkeit der Menschen, zu lesen und zu schreiben, hat die Welt verändert. Erst seit diese Kulturtechniken entwickelt wurden, ist ein „Gespräch“ über Raum und Zeit mit nicht anwesenden Menschen möglich. Menschen müssen nicht länger an einem Ort sein, um ihre Gedanken auszutauschen und so voneinander und miteinander zu lernen. Außerdem hilft uns die Fähigkeit des Lesens, mehr über das Leben zu früheren Zeiten zu erfahren als es für einen Nicht-Archäologen mittels archäologischer Funde möglich ist.

Das Ziel des Schreibens und des Lesens ist primär, Texte für nicht Anwesende zu verfassen und solche Texte in die eigene Auseinandersetzung mit der Welt und deren Wirklichkeit zu integrieren.

Dieses Ziel muss jedem vor Augen stehen, der in Bildungsprozessen mit dem Lesen und Schreiben zu tun hat – also nicht nur Deutschlehrern, sondern Lehrenden in allen Fächern der Schule, den Eltern und allen anderen an Bildungsprozessen beteiligten Personen und Institutionen.

Das Ziel für die Lernenden besteht in erster Linie also darin, sich auszudrücken zu lernen. Doch das alleine reicht nicht. Wenn Texte darauf hin ausgelegt sind, für andere Menschen verfasst zu sein, stellt sich für jeden, der schreibt, die Frage, wie die Texte dann auch Leser finden.

Voraussetzungen für die Fähigkeit, etwas für Abwesende ausdrücken zu können, sind das Können mindestens einer Sprache, deren Grammatik und die Beherrschung mindestens eines Zeichensystems, mit dessen Hilfe die Inhalte über den mündlichen Sprachgebrauch in der unmittelbaren Begegnung bzw. über den mündlichen Kontakt, z.B. mit Hilfe des Telefons, hinaus übermittelt werden können. Im Deutschen ist dieses Zeichensystem eine Buchstabensprache. Wenn diese in Grundzügen beherrscht wird, ist Kommunikation möglich, die um so differenzierter wird, je größer der Wortschatz ist und je genauer die Grammatik einer Sprache und die Vereinbarungen über Schreibung von Wörtern beherrscht werden. Außerdem ist Zeichensetzung für das Verständnis von Texten nicht nur eine Hilfe, sondern geradezu Voraussetzung.

Doch im Bereich der Kenntnisse über die Vereinbarungen zum Schreiben von Wörtern ist die Verständlichkeit von Texten in der Regel auch dann noch möglich, wenn in einem gewissen Rahmen regelwidrig geschrieben wird. Anders ausgedrückt: Rechtschreibfehler verhindern nicht unbedingt, dass das Ziel des Schreibens erreicht werden kann. Das Gespräch über Raum und Zeit hinweg ist auch mit Rechtschreibfehlern möglich.

Dass bedeutet nun nicht, dass Rechtschreibung kein anzustrebendes Ziel sei. Da wir in der Regel vom regelkonformen Gebrauch der Vereinbarungen zur Rechtschreibung ausgehen und dieser auch erwartet wird, ist das Ziel natürlich eine regelkonforme Schreibweise, die in der Schule zu lernen ist.

Da aber das Ziel des Schreibens nicht primär in der Rechtschreibung liegt, ist Rechtschreibung ein Beiprodukt, so eine Formulierung, die Ingrid Naegele im Rahmen einer von mir besuchten Fortbildung gebrauchte. Im Zentrum aber muss die Fähigkeit stehen, sich für nicht anwesende Personen auszudrücken. Rechtschreibung ist dabei nicht das Ziel, sondern ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, was aber auch gelingt, solange ein Wort zumindest im größeren Zusammenhang für den Leser verständlich ist.

Dieses zu erlernende Mittel muss geübt werden – und zwar nicht nur in Form des Lernens der Schreibung einzelner Wörter, sondern im Zusammenhang mit Satzbau und Zeichensetzung.

Texte können aber auch schon gelungen sein, bevor die Regelkonformität erreicht wird, gelungen in dem Sinne, dass sie für einen nicht anwesenden Leser oder eine nicht anwesende Leserin verständlich sind. Und dieses Ziel muss beim Erlernen und Lehren einer Sprache im Zentrum stehen.

Wesentlich für das Erreichen einer guten Ausdrucksfähigkeit ist das Lesen. Fremde Texte werden zum Vorbild dafür, was mit dem Schreiben möglich ist und sie sind motivierend bezüglich der eigenen Schreibkompetenz.

Das erste Ziel eines Lehrenden muss meines Erachtens also die Förderung der Lust am Lesen und Schreiben sein, da nur so das Ziel einer formgerechten Schreibung auf Dauer erzielt werden kann.

Dieser Lust ist eine Übergewichtung des Ziels einer formgerechten Schreibung, ein Ziel, dass natürlich nie aus den Augen verloren oder gar verneint werden darf, abträglich. Um das Ziel zu erreichen, gilt es, das Selbstvertrauen in das eigene Lesen und Schreiben zu fördern, um so mehr, wenn ein Kind Schwierigkeiten mit dem Lesen und dem Schreiben hat.

Das hat für die tägliche Arbeit als Lehrer, aber auch für den Einsatz aller anderen an Bildungsprozessen beteiligten Personen Konsequenzen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere im Folgenden nicht für eine Vernachlässigung des formgerechten Schreibens, ich plädiere vielmehr für eine Herangehensweise an das Thema des Lesens und der Rechtschreibung, die das eigentliche Ziel des Lesens und Schreibens nicht aus den Augen verlieren: Es geht um die Fähigkeit, Gedanken so ausdrücken zu können, dass nicht anwesende Leser und Leserinnen diese verstehen können. Formgerechtes Schreiben, verbunden mit einem angemessen Wortschatz, macht dies deutlich leichter, wobei ein größerer Wortschatz zudem auch das Lesen von Texten und somit das Verstehen der Gedanken anderer, nicht anwesender, Personen erleichtert oder überhaupt erst möglich macht.

Doch dieses Ziel muss idealerweise zu einem eigenen Ziel der Lernenden werden. Es muss also einerseits alles getan werden, dass Lernende dieses Ziel erreichen – es idealerweise sogar zu ihrem eigenen Ziel machen und nicht nur zu einem Ziel, dem sie sich in der Schule zu unterwerfen haben – und andererseits alles unterlassen werden, was das Erreichen dieses Ziels verhindert. Eine zu frühe übertriebene Konzentration auf die Rechtschreibung gehört in dem meisten Fällen wohl zu den zu unterlassenden Verhaltensweisen, soll die Lust am Lesen und Schreiben angemessen gefördert werden, auch wenn das Ziel einer formgerechten Schreibung nie aus dem Auge verloren werden darf.

Was also ist zu tun und womit sollte man vorsichtig sein, wenn man mit Lernenden an den Zielen des Lesens und Schreibens arbeitet?

  1. Das Hauptprodukt des Lernprozesses ist die Lust am Lesen und Schreiben als Möglichkeiten der Entdeckung und der Reflexion des Selbst und der Welt, aber auch als Möglichkeit, sich selbst auszudrücken bzw. Ausdrucksformen zu kennen und vielleicht sogar für sich nutzen zu lernen.
  2. Formgerechte Schreibung ist ein Beiprodukt dieses Hauptproduktes des Bildungsprozesses und Fehler sollten nicht der Grund sein, dass ein Kind zu einem frühen Zeitpunkt eine Schulform verlassen muss.
  3. Der Inhalt von Texten, die Schülerinnen und Schüler verfassen, sollte nicht (zu früh) im Rahmen der Rückmeldung von Fehlern überdeckt werden. Eine (zu frühe) Einführung verbindlicher und vor allem notenrelevanter Fehlerindizees sollte unterbleiben.
  4. An die Stelle der bloßen Markierung und Bewertung von Fehlern müssen Formen treten, die Schülerinnen und Schülern einen reflexiven Umgang mit den Fehlern ermöglichen. Es geht also nicht nur darum, Rechtschreibung zu üben (darum geht es auch!), sondern darum, die Gründe für die Fehler zu erkennen und diese somit reflexiv zu vermeiden.
  5. Korrekturen sollten immer den Respekt vor dem Text des / der Lernenden widerspiegeln und den Text eben nicht in ein Feld der bombengleichen Einschläge des Rotstiftes machen. Ja, auch Korrektur kann ästhetisch angemessen und unangemessen sein.
  6. Aufgabe des Lehrers ist es nicht, ein Kind zu demotivieren, sondern dieses von seinen Stärken ausgehend zu fördern. Wenn in einem Text von 150 Wörtern 30 Wörter falsch geschrieben sind, macht es, vor allem für Kinder mit Schwierigkeiten beim Schreiben und beim Lesen, einen riesigen Unterschied, ob ich unter eine Arbeit oder eine Hausaufgabe „Du hast 30 Fehler“ oder „Du hast 120 von 150 Wörtern richtig geschrieben“ schreibe.
  7. Die Förderung des Schreibens muss sich an dem orientieren, was Kinder können und ebenso an dem, was Kinder üben müssen. Angesichts der nach wie vor beeindruckenden Klassengrößen gilt es hier, kreative ( = umsetzbare) Binnendifferenzierungsmöglichkeiten zu suchen, die zumindest phasenweise eine individuelle Förderung möglich machen.
  8. Klassenarbeiten sind nicht nur Leistungsüberprüfungen am Ende einer Unterrichtsphase, sondern Instrumente im Lernprozess. Deshalb gilt es, Wege zu finden, die mit Klassenarbeiten diagnostizierend und den weiteren Lernprozess fördernd umgehen. Verbesserungen erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie in einen Reflexionsprozess über die Fehler einführen und diesen für die weitere Arbeit fruchtbar machen.
  9. Die Förderung des lustvollen Umgangs mit Texten und dem Schreiben ist in der Schule nicht nur Aufgabe der Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen, sondern eine Aufgabe der gesamte Schule und somit aller Fächer! Die Fähigkeit, sich angemessen ausdrücken zu können, ist für alle Fächer relevant und für die Teilhabe an der Gesellschaft und die Entfaltung der Persönlichkeit von so zentraler Bedeutung, dass alle Lehrer und Lehrerinnen entsprechende Kenntnisse über Fördermöglichkeiten haben müssen.
  10. Schülerinnen und Schüler lernen am besten mit positiven Emotionen. Es geht also darum, für Erfolgserlebnisse zu sorgen. Dazu kann es auch hilfreich sein, Fehler zwar als solche kenntlich zu machen, diese aber gegebenenfalls nicht notenrelevant werden lassen. Dies gilt insbesondere für Schüler und Schülerinnen mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, aber nicht nur.
  11. Wenn es beim Schreiben strukturell darum geht, Gedanken so auszudrücken, dass sie sie von einem anderen, nicht anwesenden Menschen verstanden werden können, sollten viel häufiger und intensiver Möglichkeiten genutzt werden, diese Texte auch wirklich wichtig werden zu lassen. Hierzu können „Veröffentlichungen“ in der Lerngruppe ebenso dienen wie beispielsweise Schülerzeitungen, Lesungen in einer Klasse oder über diese hinaus, Schreibwettbewerbe, gemeinsam erstellte Weblogs und Wikis und einfach alles, was zum Schreiben für andere einlädt. Es geht also auch um die Frage, wie Texte Leser und Leserinnen finden  – und ein solcher Leser oder eine solche Leserin sollte eben nicht nur der Lehrer oder die Lehrerin sein, wenn man will, dass Lernende nicht primär für Lehrende schreiben.
  12. Um das Schreiben zu lernen muss viel gelesen werden. Dabei ist auch das Vorlesen von zentraler Bedeutung, da dies für Schülerinnen und Schüler motivierend ist und diese auf diesem Wege ganz viel Wissen erwerben können (auch über das Lesen).
  13. Vor allem Schüler und Schülerinnen mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, aber natürlich auch alle anderen, dürfen nicht bloß gestellt werden. Will ich etwas über die  Lesefähigkeiten der Kinder erfahren, kann es eine durchaus bedenkenswerte Alternative sein, Texte auf Kassette oder als MP3 aufzeichnen zu lassen, statt jeden vor der Klasse lesen zu lassen. In diesem Zusammenhang kann es auch hilfreich sein, wenn Kinder Texte mitlesen, die sie vorgelesen bekommen. Gut eingelesene Hörbücher können hier eine große Hilfe sein.
  14. Es gilt, mit den Kindern Übungsstrategien zu erlernen und einzusetzen, die eher dem Prinzip der Kontinuität als des großen Umfangs in kurzer Zeit dienen.
  15. Und weil es so wichtig ist, noch einmal: Im Zentrum des Lesens und Schreibens stehen die Ausdrucksfähigkeit, das „Gespräch“ über Raum und Zeit und vor allem die Lust am Lesen und Schreiben. Ohne diese Lust wird das Erreichen eines formgerechten Schreibens erschwert. Rechtschreibung ist ein Beiwerk, ein Mittel und nicht der Zweck, so wenig sie aus dem Blick verloren werden darf.