Der Untergang des Abendlandes: Nachruf auf den Kassetten-Walkman

Als ich klein war, ging das Abendland unter. Das Abendland geht überhaupt ständig unter. Und wenn es sich dann irgendwann einmal wirklich still und leise von dannen macht, kann jeder sagen, er habe es ja schon immer gesagt. Aber als ich klein war, erlebte ich zum ersten Mal, wie das Abendland unterging, damals, 1979, als der Kassetten-Walkman von Sony auf den Markt gebracht wurde. Und kurze Zeit später ging das Abendland wieder unter. Wieder war der Verfall der Musikkultur zu verdanken. Es kamen die Musik-CDs auf den Markt. Seit dem habe ich gelernt, dass das Abendland der Dauerverfall ist, obwohl es nur ein ständiger Wandel ist. Aber das wurde mir damals noch nicht gesagt.

Heute weiß ich, dass das Abendland auch schon früher unterging: Als der Fernseher auftauchte, als die Beatles sangen, als die Studenten 68/69 auf die Straße gingen, als in Woodstock gefeiert wurde, als Willy Brandt Bundeskanzler wurde, als das Privatfernsehen kam, als der Computer die Privatwohnungen stürmte, als die Handystrahlung die Gehirne aufweichte, als das Internet die Menschheit zu verdummen begann, als soziale Netzwerke in Mode kamen…

Und nun ist doch nicht das Abendland untergangen, sondern die Herstellung des Kassetten-Walkmans eingestellt worden. Wer hätte 1980 gedacht, dass das Abendland die Kassetten-Walkmen überleben würde, ohne das die Menschenmassen mit den Kopfhöhrern allesamt völlig ertaubt sind? 1980 hätte da niemand gedacht, denn 1980 war die Welt noch in Ordnung, da wusste man wenigstens noch, wie böse Kassetten-Walkmen sind, wie sehr sie Jugend verderben würden.

Nun, die Jugend von damals steht heute im Berufsleben, wurde zumindest nicht in der Masse verdorben, hört sehr oft noch sehr gut und hatte als erste Generation das Privileg, ohne Ghetto-Blaster dennoch seine eigene Filmmusik zum Geschehen um sich her gehabt zu haben.

Erst seit Mobiltelefone Lautsprecher haben, kehrt die Kollektiv- und Zwangsbeschallung Unbeteiligter wieder zurück, beim Walkman waren das höchstens Mal die Bässe, die an die Ohren der Nachbarn drangen. Auch das konnte nerven.

Kassetten, das waren diese rechteckigen Plastikhüllen mit zwei Löchern drinnen und in ihnen gab es dünnes, braunes Magnetband, das sich gerne mal am Tonkopf verhedderte. Ach, war das schön: Das Tonband aus der Kassette ziehen und als braunes Lametta aufhängen. Aber das ist vorbei. Die Kassette ist ziemlich tot. Und so ist es nur logisch, dass Sony nun die Herstellung des Kassetten-Walkmans einstellt.

Nun, da dieser Kultgegenstand verschwunden ist, in Frankfurts Innenstadt gibt einen Bettler, der hat noch so einen und scheinbar eine Kassette und den ganzen Tag die Kopfhörer auf und manchmal kann man hören, dass er tatsächlich Musik hört, geht das Abendland dann ja vielleicht wirklich unter. Oder ist es der iPod, das Subnotebook, das Privatfernsehen oder gar die »Gratiskultur« im Internet, die das Abendland gerade jetzt gefährden?

Wir haben den Kassetten-Walkman überlebt. Im Rückblick kommt mit seinem Verschwinden sogar Melancholie auf, hatten wir uns doch schließlich mit ihm angefreundet, als die Lieder im Radio noch ohne in die Lieder rein sprechende Moderatoren ausgespielt wurden, als wir an den Kassettengeräten saßen und jedes Mal fluchten, wenn wir eine Zehntel Sekunde zu spät die Aufnahme gestartet oder gestoppt hatten…

Das Ende hat sich schon seit längerem abgezeichnet: Als erste CD-Walkmen auf den Markt kamen, als die geniale, aber sich wirklich durchsetzende Mini-Disc digitale Audioaufnahmen ermöglichte, als der MP3-Player aufkam, als der iPod am 23. Oktober 2001 erschien. Die Kassette war eine Zwischenstation auf dem Evolutionsweg hin zum Homo Sapiens Digitalittis, wie einst das Grammophon, die Schellackplatte… Nur Vinyl-Platten haben überlebt, sind zum Kult geworden. Und in Zukunft? Das Abendland wird weiter dauernd untergehen, bis dann mal jemand sagen kann, er habe es ja schon immer gesagt, die Jugend wird, wie schon seit Jahrtausenden, ständig neuen, die Kultur gefährdenden Einflüssen ausgesetzt und wird die Jugend nach sich wiederum solchen die Kultur gefährdenden Einflüssen ausgesetzt sehen und diese wird wieder…

Wir haben dich überlebt, lieber Kassetten-Walkman. Wir hören noch. Und manche werden melancholisch, dass diese Zeit nun vorbei ist. Aber die Polaroid-Kamera war ja auch schon für tot erklärt worden, die Schallplatte galt als überholt und sogar den Bleistift benutzen wir nach wie vor (gerne).

Die Kultur geht weiter, die Musik geht weiter, der Kulturverfall geht weiter, das „Die Jugend wird immer schlimmer“ geht weiter, das Schreiben geht weiter, das Nicht-Gerne-Lesen geht weiter, die Leseratten gibt es weiter…

Lieber Kassetten-Walkman, mach’s gut. Bis bald – oder?