Überlegungen zur Medienpädagogik

Resümee: Über Medienpädagogik wird viel diskutiert. Kürzlich wieder auf dem Kongress zum so genannten „Medienpädagogischen Manifest“, über das die hier verlinkte Website nähere Auskunft gibt. In diesem Beitrag fasse ich meinen aktuellen Stand der Reflexion der Frage zusammen, wie Medienpädagogik heute aussehen kann.

„Meine Nichte, die ist 12, die hat sich tierisch darüber aufgeregt, dass die Deutschlehrerin sagte: Die Nutzung von Wikipedia ist verboten, weil das keine zuverlässigen, verifizierten Quellen sind. Das ist bei den Jugendlichen schlecht angekommen, das Verbot von sozialen Medien.“

Eine Äußerung, die ich auf dem Bremer Educamp hörte.

Vor noch ein paar Jahren hätte ich bezüglich Wikipedia wohl ähnlich Restriktives sagen können.

In Wirklichkeit aber will ich den Lehrer sehen, der sich nicht auch der Wikipedia bedient.

Ja, man kann darauf drängen, wie es in Bremen ein Kollege von einer anderen Schule berichtete, dass die Schülerinnen und Schüler die Primärquellen nutzen sollen, die am Ende entsprechender Artikel Wikipedias angegeben sind. Das finde ich gut, denn wenn ich Wikipedia nutze, dann nutze ich diese Primärquellen so häufig es geht. Viele dieser Primärquellen fände ich ohne die leicht zugängliche Wikipedia nicht. Und, das ist das besondere Schmankerl der Wikipediakonzeption, wenn ich der Meinung bin, dass wichtige Primärquellen fehlen, dann kann ich diese ergänzen und so den Charakter von Wikipedia als enzyklopädisches Portal aktiv mitgestalten.

Das Verbot der Nutzung digital zugänglicher Wissensspeicher, ein Verbot, das vor allem an Schulen weiter verbreitet zu sein scheint, als ich das früher angenommen habe, ist keine Medienpädagogik.

Das Argument, Schülerinnen und Schüler sollten sich das Wissen selbst erarbeiten und eben nicht bereits vorgekautes, in der Regel völlig kritiklos, wiederkäuen, klingt plausibel. – Aber auch ein solches Argument ist kein medienpädagogischer Ansatz.

Dieses Argument blendet viel mehr die Wirklichkeit aus, dass trotz Verboten Wikipedia genutzt wird.

Auch Lehrer und Lehrerinnen nutzen diese und andere Plattformen im Netz, um an Wissen zu gelangen.

Wäre je ein Lehrer auf die Idee gekommen, Schülerinnen und Schülern die Lektüre des Brockhaus in 24 Bänden zu untersagen? – Es wird argumentiert, dass redigierte Nachschlagewerke zuverlässig seien und deshalb genutzt werden dürften.

Wikipedia hingegen könne als „Mitmach-Format“ den Qualitätskritierien nicht standhalten, die ein klassisches Lexikon bieten konnte. Dem kann widersprochen werden: Bei zeitgeschichtlichen Fragestellungen waren gedruckte Lexika in der Regel nicht auf dem neuesten Stand, also unzuverlässig.

Zu überlegen, ob ein Wissensspeicher erlaubt werden soll oder nicht, ist in meinen Augen keine Medienpädagogik, sondern bevormundendes Verhalten, das im schlimmsten anzunehmenden Fall medienpädagogisches Handeln „ersetzt“ bzw. verhindert.

Das Problem solcher „Verbote“ im Kontext bildenden, pädagogischen und somit auch medienpädagogischen Handelns, sei es nun der über das Internet zugänglichen Inhaltsspeicher oder sei es auch der Zugangsgeräte selbst, besteht darin, dass Inhalt und Geräte in den Vordergrund gestellt werden, ohne dass, um mit Georg Rückriem zu sprechen, eine Bedeutungslogik entsteht. ((Rückriems Vortrag, in dem er dies so formuliert, ist in Lisa Rosas Beitrag zum Medienbegriff vom 18. Oktober 2010 verlinkt und von dort aus zugänglich.))

Es entsteht der Eindruck, dass in vielen „medienpädagogischen Debatten“ keine Medienpädagogik, sondern eine Geräte- und Inhalts„pädagogik“ betrieben wird. ((Zur Differenzierung von Geräte, Inhalt und Medien vgl. den in Lisa Rosas Beitrag zum Medienbegriff vom 18. Oktober 2010 verlinkten Rückriem-Vortrag))

Es gibt reichlich Schulen, die die Nutzung, ja zum Teil sogar das Mitführen von Mobiltelefonen verbieten. Es wird mit illegalem Datenaustausch, diskreditierendem Gebrauch der in Mobiltelefonen integrierten Kameras und auch mit der Annahme argumentiert, dass die Nutzung digitaler Medien in der Schule, also z. B. auch MP3-Geräten, den Aufgaben der Schule zuwider laufe.

Wer in den Pausen Musik höre, lösche, was er vorher gelernt habe, hörte ich in solchen Diskussionen auch schon als Argument, nie aber, dass der schulische Geräuschpegel in Pausen einen solchen Effekt habe und deshalb ein Sprech-, Spiel-, Lachverbot einzuführen sei.

Doch selbst, wenn man die Argumente für einen restriktiven Umgang mit Handys akzeptiert, sich mit ihnen arrangieren kann: In vielen Schulen scheinen in der Folge dieses restriktiven Umgangs dann ähnliche Restriktionen auch für Laptops und Tablet-PCs zu gelten.

Dies ist so wenig Medienpädagogik, wie es das Erklären von Funktionen in Textverarbeitungsprogrammen etc. ist.

Medien sind, um hier eine Definition zu wagen, komplexe Systeme der Generierung von Weltverständnis.

Diese Systeme werden jeweils von Vermittlungs- und Kommunikationsinstrumenten getragen, die angesichts der Komplexität solcher Systeme oft selbst als „Medium“ angesehen werden.

Wenn wir angesichts von Fernsehen, Zeitungen, Radio, und Internet diese Erscheinungsformen als „die Medien“ bezeichnen, meinen wir in der Regel nicht nur die „Produkte“. Eine Zeitung als papierne oder digitale Sammlung von Artikeln ist nicht das Medium Zeitung. Das Medium ist vielmehr der komplexe Zusammenhang des Zustandebringens solcher Produkte im medialen Prozess, dessen Gesamtheit erst das Medium ausmacht.

Medien sind soziale Beziehungsgeflechte, die in „Produkten“ erkennbar werden.

Wer aber diese „Produkte“ verstehen und reflektieren will, der darf nicht bei dem „Produkt“ Tageszeitung (Radionachricht, Fernsehprogramm, Webseite) stehen bleiben und dieses schon für das Medium halten.

Da aber Medienpädagogik in meinen Augen auch das Ziel hat, Medien als zentrale Elemente der kollektiven Konstruktion von Wirklichkeit und Weltdeutung reflektieren und kritisieren zu können, bringt es z. B. nichts, alternativ zu digitalen Technologien täglich in Schulen analoge, papierne Zeitungen auszuteilen, solange nicht auch der Prozess der Genese dieses Produktes in den Blick genommen und damit reflektierbar gemacht wird.

Medienpädagogik kommt also noch lange nicht zu sich selbst, wenn mit medial relevanten Instrumenten gearbeitet wird: Der Einsatz digitaler Medien im Unterricht ist noch keine Medienpädagogik, aber womöglich Voraussetzung dafür, dass diese stattfinden kann.

So wenig eine Zeitung als Zeitung verstanden werden kann, wenn man nicht journalistische Arbeitsprozess versteht, die Struktur von Zeitungsverlagen in den Blick nimmt etc., so wenig kann sie als solche verstanden werden, wenn die Zeitung erst einmal verboten wird, weil da jemand Angst hat, die Lektüre von Zeitungen in den Pausen könne den gerade gelernten Stoff überlagern und verdrängen; außerdem kann man Zeitungen zusammenrollen und unangemessen als Schlaginstrumente nutzen.

Analog gilt: Medienpädagogik in Zeiten eines digitalen Leitmediums, das mehr als je zuvor globale Interaktion erlaubt, in Zeiten von Web 2.0, Cloud Computing etc. kann sich nicht auf Produkte beschränken, sondern muss auch den Prozess verstehen lernen und lehren, der diese medialen Erscheinungsformen des Leitmediums prägt.

Medienpädagogisches Handeln setzt Wissen und Kompetenz der Handelnden voraus.

So, wie ich Literatur nicht verstehe, wenn ich keine Romane, Gedichte etc. lese, kein guter Physiker bin, wenn ich zwar Formeln beherrsche, aber keine Experimente durchführen kann etc., so bin ich im Kontext des digitalen Leitmediums in alle seinen Erscheinungsformen ((Biologistisch ausgedrückt: Das Leitmedium ist der Genotyp (analog, digital), die medialen Erscheinungsformen sind der Phänotyp (analog: Bücher, Zeitungen, Briefe …; digital: Blogs, Foren, E-Mails, Computer, Navigationsgeräte …) )) nur dann kompetent, wenn ich praktisch mit ihnen arbeite.

Kritiker könnten nun anführen, dass man zur Reflexion eines Prozesses nicht unbedingt selbst in die Praxis eingebunden sein muss. Im Kontext des neuen Leitmediums widerspreche ich dieser in manch anderem Zusammenhang zutreffenden Aussage, weil erstmals in der Menschheitsgeschichte der mediale Prozess nicht mehr systembedingt in abgeschlossenen „Medien“ wie Zeitungen (Redaktionen, Herausgeber, Verlage), Fernsehen, Radio, Büchern, Zeitschriften … stattfindet.

Die Möglichkeit der Teilhabe ist Teil des digitalen Mediums.

Solange mediale Prozesse vor allem über Distributionsmedien (Verteilungsmedien) weitgehend nur in eine Richtung verliefen, von der Möglichkeit des Leserbriefes abgesehen, waren die Hürden zur eigenen Produktion von Inhalten, die auch wahrgenommen wurden, sehr hoch. Es waren nicht nur Inhalte zu erstellen, sondern es musste auch noch ein Weg gefunden werden, diese zu veröffentlichen.

Medienpädagogik in Zeit von Distributionsmedien war vor allem Reflexion über diese Medien, ohne dringende Notwendigkeit, selbst in der Lage zu sein, solch ein Medienprodukt herzustellen.

An die Stelle des Distributionsmediums ist heute aber das Kommunikationsmedium getreten. In der Umgangssprache ist das das „Mitmach-Web“. Und in einem solchen Zusammenhang funktioniert eine rein reflexive Medienpädagogik nicht mehr:

  • Wurden früher Filmszenen analysiert um im Rahmen medienpädagogischen Handelns zu einem tieferen Verständnis des Films als mediale Form zu gelangen, gilt es heute, den Prozess der Reflexion der medialen Form in den Kontext kompetenten Umgangs mit ihm einzubetten, was praktisch bedeutet, dass Medienpädagogik die Möglichkeit mit berücksichtigen muss, dass heute jeder via Vimeo, YouTube etc. Videos veröffentlichen und dank digitaler Videokameras und Schnittsoftware auf dem Computer diese auch produzieren kann.
  • Es geht nicht mehr nur darum, das System Zeitung reflexiv in die medienpädagogische Praxis einzubinden, sondern es wird mehr und mehr zu einer wichtigen Kompetenz, sich selbst in den Prozess einbringen zu können, der früher alleine von Zeitungen und Zeitschriften betrieben wurde.

Medienpädagogik braucht heute Leute, die kompetent mit Medien umgehen und die kompetent über Medien reflektieren können.

Eine solche Verbindung kann zum Beispiel darin ihren Ausdruck finden, dass der Reflexionsprozss in den Formen zeitgenössischer medialer Wirklichkeitskonstruktion eingebettet ist.

So wurde in analogen Zeiten auf Papier analog reflektiert; so wird in digitalen Zeiten digital in Blogs, auf Websites etc. reflektiert, auch wenn hier durchaus auch die analoge Form der Reflexion nach wie vor verfügbar ist.

Medienpädagogen müssen nicht unbedingt große Inhalts-(Content)-Produzenten sein und bloggen, aber Medienpädagogen müssen heute aktiv mit medialen Prozessen umgehen (können), um überhaupt medienpädagogisch arbeiten zu können. Das ist wichtig, weil von Medienpädagogen heute auch erwartet wird, dass ein angemessener Umgang mit den medialen Ausdrucksmitteln (-instrumenten) vermittelt wird.

So, wie Musikpädagogen ein paar Instrumente spielen müssen, um überhaupt musikpädagogisch arbeiten zu können, so müssen Medienpädagogen ein paar digitalen „Instrumente“ spielen können, um wirklich medienpädagogisch zu arbeiten. – Anders ausgedrückt: Medienpädagogen müssen heute selbst ins Netz, müssen selbst mit Computer und Co vertraut sein.

„Meine Nichte, die ist 12, die hat sich tierisch darüber aufgeregt, dass die Deutschlehrerin sagte: Die Nutzung von Wikipedia ist verboten, weil die Artikel  keine zuverlässigen, verifizierten Quellen sind. Das ist bei den Jugendlichen schlecht angekommen, das Verbot von sozialen Medien.“

Medienpädagogik verbietet ein Produkt des zeitgenössischen medialen Prozesses nicht, sondern ist mit diesem Phänomen so vertraut, dass ein Reflexionsprozess stattfinden kann. Die nackte Behauptung, dass Wikipedia keine zuverlässigen Artikel liefere, ist nicht in der Lage, angemessen mit dieser medialen Form umzugehen. Und so ist es für mich zweifelhaft, ob der zum Teil sehr restriktive Umgang mit digitalen Medien in Schulen medienpädagogisch wünschenswerte Ziele nicht unerreichbar macht. In dem von Prof. Dr. Horst Niesyto angestoßenen „Medienpädagogischen Manifest“ liest sich das so:

„Medienkompetentes Handeln setzt fundierte Kenntnisse über die verschiedenen Medien voraus: Kenntnisse über technische Grundlagen und ästhetische Formen, über die Bedingungen und Formen medialer Produktion und Verbreitung in der Gesellschaft, ein Bewusstsein für die kulturell‐kommunikative, ökonomische und politische Bedeutung, die Medien in globalisierten Gesellschaften haben. Medienkompetenz zielt auf die Fähigkeit zur sinnvollen, reflektierten und verantwortungsbewussten Nutzung der Medien. Hierzu gehören u.a. die Fähigkeit zu überlegter Auswahl, zum Verstehen und Interpretieren medialer Kodes, zu einer reflektierten Verwendung von Medien in Freizeit, Schule und Beruf. Das aktive und kreative Gestalten mit Medien für Selbstausdruck, für die Artikulation eigener Themen, für Kontakt und Kommunikation ist ein weiterer, zentraler Bereich von Medienkompetenz. Schließlich fördert Medienpädagogik die Medienkritik, die sich sowohl auf die gesellschaftliche Medienentwicklung als auch die (selbstreflexive) Mediennutzung und die eigene Gestaltung mit Medien bezieht.“

Um die Entwicklung einer solche Medienkompetenz zu unterstützen, bedarf es Medienpädagogen, die diese Kompetenzen selbst haben und vorleben.