Kreatives Schreiben in der Schule

Kleinere Kurse im kreativen Schreiben gebe ich seit einigen Jahren immer wieder einmal. Ich habe zwar kein Zertifikat, dass ich das kann, aber zum Glück traut man einem Deutschlehrer in der Regel zu, dass er unter Umständen weiß, was er tut, wenn er nicht nur Texte dem übenden Analyseskalpell der Schüler und Schülerinnen zuführt, sondern auch die künstlerische Seite des Schreibens in den Blick nimmt.

Schreiben als Kunst, deren Gegenstand die Literatur ist, verstehe ich dabei nicht im Sinne einer geheimnisvollen Begabung, die einen Menschen zum Schreiben befähigt. Im Zentrum steht die Ermöglichung eines individuellen, persönlichen Ausdrucks mittels der persönlichen Sprache in erzählender, fiktionaler Art und Weise. Es geht nicht um Genies, es geht um die Lust am Schreiben.

Beginnt ein solcher Kurs, gilt es jedes Mal zunächst einige Hemmschwellen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu überwinden. Die größte Hürde, die es dabei zu überwinden gilt, ist, dass Menschen in Kursen in der Regel davon ausgehen, dass es ein „richtig“ und ein „falsch“ gibt. Und dann werden Aufgaben gestellt, deren Ziel es ist, das Schreiben zu befreien. Für viele ist das erst einmal ungewohnt.

Es ist relativ egal, ob es sich um Schüler und Schülerinnen handelt oder um Studenten und Studentinnen, um Erwachsene oder Jugendliche: Der Weg, bis dem Kursleiter geglaubt wird, dass man wirklich die eigene Phantasie anstrengen darf und nicht Antworten liefern muss, von denen man ausgeht, dass sie von den Lehrenden gehört werden wollen, ist ein langer Weg. Doch er lohnt sich.

Zum einen entdecke ich auf diesem Weg immer wieder, dass Lernende scheinbar immer davon ausgehen, dass Lehrende genauste Vorstellungen haben, wie das Produkt eines Lernweges aussehen soll und dass jeder Arbeitsauftrag nur den einen Zweck hat, wie in einem Mysteryspiel das Geheimnis zu knacken, welches jeweils unterrichtende Lehrer und Lehrerinnen versteckt halten wollen.

Dieses Problem habe ich auch anderen Stellen des Unterrichts. Ja, in Sachen Rechtschreibung und Zeichensetzung ist das meiste meistens sehr eindeutig (geregelt), aber wie ist das mit der „richtigen“ Interpretation? Der Lehrer sagt zwar, es gäbe nicht die richtige, sonderen nur nachvollziehbare, weniger nachvollziehbar und gar nicht nachvollziehbare Deutungen literarischer Texte, aber welcher Schüler glaubt das dem Lehrer?

Nein, nein, wenn ein Lehrender in der Schule sagt, der erste Leseeindruck könne durchaus als Zugang zum persönlichen und dennoch nachvollziehbaren Verständnis eines Gedichtes genutzt werden, dann ist das bestimmt nur ein Trick. Dann will  er nur so tun, dass die Leser (vor allem, wenn es Schüler und Schülerinnen sind) gegenüber einem Gedicht Souveränität haben, um dann durch die Hintertür doch wieder die eine verbindliche Lesart einzuführen. Da lese ich doch lieber die im Netz verfügbaren Interpretationen, schreibe meine so ähnlich und bin auf der sicheren Seite, weil ich das Gedicht dann so verstehe, wie es viele tun. Und das ist es doch, was in der Schule zählt…

Wo in der Schule wird denn der persönliche Ausdruck gefördert und erwartet, der dann auch noch fiktional sein darf?

In den meisten Fällen gelingt es früher oder später die Hürde zu überwinden. Oft kommen auch Schüler und Schülerinnen an den Punkt, dass sie nicht nur kurzfristige Übungen zum kreativen Schreiben mitmachen, sondern auch bereit sind, mittelfristig an eigenen literarischen Texten zu arbeiten.

Kreatives Schreiben in der Schule hat für mich entsprechend folgende Aufgaben, wobei die hier entstehende Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • Kreatives Schreiben ermutigt die Entwicklung eines persönlichen Schreibstils und eines persönlichen Ausdruchsvermögens im Medium der Schriftsprache.
  • Kreatives Schreiben gibt Freiheit bei Themenwahl und Textgestaltung.
  • Kreatives Schreiben vermittelt Techniken, die helfen, kreatives Potential zu entwickeln und auszuschöpfen.
  • Kreatives Schreiben macht Spaß und fördert den spielerischen Umgang mit der Sprache.
  • Kreatives Schreiben fordert und fördert genaue Beobachtungen, die in Sprache nachgezeichnet werden, sodass lesend Bilder bei Zuhörern oder Lesern entstehen.
  • Kreatives Schreiben bedient sich konkreter Übungen, deren Ausgestaltung rational nachvollziehbar sind.
  • Kreatives Schreiben hat keinen (psycho)therapeutischen Anspruch.
  • Nebeneffekte des kreativen Schreibens sind der oft leichtere Zugang zu literarischen Texten in anderen Zusammenhängen, die steigende Qualität eigener Texte und häufig auch eine signifikante Erweiterung des Wortschatzes, wenn entsprechende Übungen vermittelt werden.
  • Individuell steigert kreatives Schreiben die eigene Reflexionsfähigkeit, indem es den Wortschatz und damit die Ausdrucksfähigkeit differenziert, die Genauigkeit der Benennung von Phänomene fördert und sowohl die Beobachtung des Selbst als auch der Umwelt genauer werden lässt.

Neben dem individuellen Schreibprozess ist das Ziel des kreativen Schreibens die Öffentlichkeit in unterschiedlichen Formen, denn Schreiben als Kunstform kommt erst dort zu sich selbst, wo sich Texte einem Publikum stellen müssen, sei es in einer Ausstellung von Texten (z. B. Gedichten, die visuelle oder auditiv gestaltet sind), sei es in einer (schul)öffentlichen Lesung, in der Ergebnisse vorgestellt werden, sei es im Rahmen jahreszeitlicher Veranstaltungen, die eine Öffentlichkeit für Texte bieten können.

Das erstaunliche ist, wie viele, die mit einem solchen Programm des kreativen Schreibens in Kontakt kommen, die Erfahrung machen, dass diese Art des Umgangs mit Sprache sehr anspruchsvoll ist, sehr viel verlangt und zu Ergebnissen führt, die anhand von Kriterien auf ihre Qualität hin reflektiert werden können.

So ist eines der zentralen Kriterien in dem aus dem englischen entlehnten Satz „Zeigen, nicht erzählen / behaupten“ (Show, don’t tell) enthalten. Im Zentrum steht also die Kompetenz, Sprachflächen bzw. -räume so zu gestalten, dass im Zeigen (Show) beim Lesenden Prozesse ausgelöst werden, die das Erzählte zu einer Erfahrung des Lesers machen.

Es ist ein Unterschied, ob ich erzähle (behaupte): „Heute ist schönes Wetter.“ oder ob ich etwas zeige, das den Lesenden zu dem Schluss kommen lässt, dass da aber schönes Wetter ist, ihm aber auch die Freiheit zu der Entscheidung lässt, ob der das gezeigte Wetter als „schön“ bezeichnen will oder nicht, den Lesenden also nicht bevormundet.

Konkret:

  • Das Wetter ist schön. (erzählt / behauptet)
  • Aus dem von Vögeln besungenem Dämmerlicht des Morgens erhebt sich langsam die Sonne und streift die feuchten Schleier aus den feuchten Augen, die ein warmer Sommerregenschauer auf den Wiesen der Flussaue hinterlassen hatte. Während Kaffeeduft schon in ihre Nase drang, drehte sie sich noch einmal auf die andere Seite. Es würde bestimmt noch eine halbe Stunde dauern, bis er mit frischen Brötchen aus dem Dorf im Tal zurück sein würde. Sie hatte also noch Zeit, den Vögeln zu lauschen und den eigenen Geruch eines beginnenden Sommertages in sich aufzusaugen. Noch wusste sie nicht, dass sie ihn nie mehr wieder sehen würde… (gezeigt / show)

Um dieses zentrale Kriterium zur qualitativen Einschätzung von Texten, die im Rahmen des kreativen Schreibens entstehen, werden dann Übungen entwickelt und eingeübt, die es möglich machen, angemessen differenzierte Ausdrucksweisen zu finden.

Eine solche Übung kann zum Beispiel so aussehen:

„Beschreibe sachlich und möglichst genau das Wetter am Morgen eines beliebigen Tages. Finde anschließend vierzehn Möglichkeiten, anderen so von diesem Wetter zu erzählen, dass sie sich ein Bild und ein Urteil über das Wetter bilden können. Dabei darfst du nicht behaupten, dass das Wetter gut oder schlecht sei.”

Natürlich sind auch Übungen im ganz freien, tendenziell im „automatischen Schreiben“ notwendig, um den Prozess des kreativen Flows zu unterstützen bzw. überhaupt erst einmal erfahrbar zu machen, doch müssen solche Übungen, um zu einem nachvollziehbaren Kompetenzaufbau beitragen zu können, mit Übungen zur Wortschatzbildung, zur situativen Beobachtung, zum Kennenlernen von stilistischen Gestaltungsformen (Stilmitteln) intensiv begleitet werden, um so zu einem wirklich persönlichen Schreibstil zu gelangen.

Diese Freiheit aber braucht Übungen, die ihr die Grenzen bieten, die als Geländer Halt bieten, wenn sich Schreibende auf das Terrain eigener kreativer Möglichkeiten begeben. Und so ziemlich jeder ernsthaft schreibende Autor kennt diese Spannung zwischen Freiheit und formaler (Selbst)Begrenzung, die didaktisch und methodisch vom Lehrer des kreativen Schreibens reflektiert und für den Unterricht angemessen gestaltet werden muss. Goethe bringt diese Spannung in dem Gedicht „Natur und Kunst“ auf den Punkt, wenn er den Terzetten des Sonetts schreibt:

[…]

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
 
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

 

Weitere Beiträge zum Thema auf herrlarbig.de gibt es hier und hier.

Literatur: 

  • Mihaly Csikszentmihalyi: Kreativität. Stuttgart 1997.
  • Fritz Gesing: Kreativ schreiben, Handwerk und Techniken des Erzählens. Köln 2004.
  • Natalie Goldberg: Schreiben in Cafés. Berlin 2006. 
  • Valentin Merkelbach: Kreatives Schreiben. Braunschweig 1993.
  • Gabriele L. Rico: Garantiert schreiben lernen. Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln – ein Intensivkurs. 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2004.
  • Stephan Porombka: Das neue Kreative Schreiben. In: German as Foreign Language 2/2009, S. 167-193. PDF.
  • Jürgen vom Scheidt: Kreatives Schreiben, Texte als Wege zu sich selbst und zu anderen ; Selbsterfahrung, Therapie, Meditation, Denkwerkzeug, Arbeitshilfe, Abbau von Schreibblockaden. Frankfurt am Main 1990.