Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Ich kann mich nicht satt hören an Franz Liszts »Le Mal du Pays« aus den »Années de Pelerinages« in der Interpretation von Lazar Berman. – Ohne die ständige Wiederaufnahme dieses Klavierstücks in Haruki Murakamis neuem Roman »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki«, wäre mir dieses Werk weiter unbekannt geblieben. So aber habe ich einen doppelte Bereicherung bekommen: Ein ruhig dahin fließendes, spannungsreiches und gleichzeitig harmonisches Klavierstück, das ich vorher nicht wahrgenommen hatte, und einen ebenso ruhig fließenden, dennoch aber spannungsreichen und in seiner Gesamtheit sehr harmonischen Roman des japanischen Kultautors.

»Le Mal du Pays«, »die grundlose Traurigkeit, die eine ländliche Idylle im menschlichen Herzen weckt«, ist ein durchgängiges Motiv in diesem Roman, der selbst genau eine solche »Landschaft« in Sprache gefasst vor dem inneren Auge des Lesers entstehen lässt.

An vielen Stellen gelingt es Murakami, eine Atmosphäre der Melancholie zu erzeugen, in der sich Tsukuru Tazaki bewegt.

Tazaki ist 36 Jahre alt. Vor sechzehn Jahren war er völlig unvermittelt von den vier Freunden, mit denen er eng befreundet war, aus deren Gruppe ausgeschlossen worden. Von heute auf morgen hatte man den Kontakt zu Tsukuru abgebrochen. Seine Freundin Sara nun bringt ihn dazu, sich auf die Reise zu begeben, sich seiner eigenen Vergangenheit zu stellen und zu klären, was sich damals wirklich ereignet hatte. Sara befürchtet, dass diese Ereignisse Spuren im Unterbewussten Tsukurus zurückgelassen haben könnten. – Tsukuro lässt sich auf diese Suche nach der eigenen Vergangenheit zögernd, dann aber doch konsequent ein. Und vor den Augen des Lesers öffnet sich die Geschichte einer Gruppe von Jugendfreunden, die auf traurige Weise nie wirklich auseinander gegangen war, obwohl Tsukuru genau dies für sechzehn Jahre glaubte. Immerhin hatte ihn der Ausschluss aus der Gruppe in eine tiefe Depression geworfen, von der er selbst sagt, er habe dem Tod damals ins Angesicht geschaut.

Im ruhigen Fluss der murakamischen Sprache kommt dieser Roman daher, der aber dennoch das Zeug dazu hat, den Leser emotional zu berühren. Murakami wirft Fragen auf, die sich wohl viele Menschen stellen, die auf ein paar Lebensjahrzehnte zurückblicken, auch wenn Tsukurus Geschichte durchaus im Umfeld der sogenannten Midlife Crisis angesiedelt ist.

Diese Geschichte erzählt Murakami auf knapp 320 Seiten, was sie für seine Verhältnisse fast schon zu einer kurzen Erzählung macht, ist der Autor doch eher für deutlich umfangreichere Werke bekannt.

Typisch für Murakami ist zudem, dass in der Geschichte realistisches Erzählen und in diesem Erzählen eingebettete esoterische Anklänge miteinander zu einer spannungsreichen Einheit verwoben werden, die es dem Leser noch etwas leichter macht, in den hoch symbollastigen und bedeutungsschwangeren Kosmos Murakamis einzutauchen.

Ursula Gräfes Übersetzung aus dem Japanischen erhält diesen Facettenreichtum des Romans.

Der Roman zwingt den Leser in eine Positionierung gegenüber der Geschichte und ihrem Stil. Sicher kann man sich auch distanziert zeigen und die Mischung aus Japan, Liszt und finnischer Ideallandschaft mit Töpferei als Kitsch empfinden. Vermutlich aber werden sich dann die zahlreichen Facetten des Romans vor dem Leser verbergen, wird sich der Roman gegen diese Leser selbst imun machen und diese Leser abweisen.

Wer sich aber auf »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« einlässt, findet gemeinsam mit Murakamis Figuren eine farbenfrohe Melancholie, die des Lesers eigenes Farbenspektrum bereichern kann.

Dieser Roman war mir ein Genuss und wird nun, nachdem ich ihn ein erstes Mal in der ansprechend gestalteten Ausgabe des DuMont-Buchverlags gelesen habe, einen Platz unter den Büchern bekommen, die zum Schmökern geeignet sind, die zu dauerhaften Begleitern werden und immer wieder in Ausschnitten oder ganz gelesen werden können. Es kommt selten vor, dass ein Roman diesen Weg so schnell und so überzeugend nimmt. Murakami hat einen großartigen Roman geschrieben – noch einen!

Haruki Murakami, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 318 Seiten. Hardcover.

Originaltitel: Shikisaki wo motanai Tazaki Tsukuru to kare no junrei no toshi

Originalverlag: Bungei Shunju, 2013

Druckbuch: EUR 22,99 [D] / 32,90 sFr., Erstverkaufstag: 03.01.2014

EBook: EUR 18,99 [D]

ISBN 978-3-8321-9748-3