EBooks vs Papier-Bücher: Vom Kulturwandel und notwendigen Lernprozessen (in der Schule)

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Als Vorteil von Papierbüchern wird immer wieder deren Haptik angeführt. Es sei ein sinnliches Erlebnis, das Papierbücher vermitteln, da neben dem Seh- und dem Tastsinn oft noch der Geruchssinn eingebunden sei, dem der doch sehr unterschiedliche Geruch von Büchern schmeichele.

An dieser Stelle werfe ich häufig ein, dass auch ein Lesegerät für digitale Bücher ein haptisches Erleben ermögliche, denn je nach Qualität und Verarbeitung des Lesegerätes gibt es angenehme sinnliche Reize, die von ihm ausgehen.

Die Haptik ist nicht der große Unterschied. Und diese ist wohl in den seltensten Fällen gemeint, wenn Leser von Papierbüchern deren Vorteile betonen wollen. Was aber gemeint ist, hat mit der Organisation von Inhalten zu tun, die im Buch anders erfolgt als bei einer digitalen Datei, die ich auf dem E-Book-Lesegerät aufrufe.

Lese ich ein analoges Buch und suche in diesem  bestimmte Stellen, so hilft mir häufig das Verhältnis von Seiten vor und Seiten nach der Stelle, die ich suche. Ich weiß in der Regel, ohne dass ich bewusst darauf geachtet hätte, an welcher »Stelle« im Buch das Gesuchte in etwa zu finden ist. Das liegt am Konzept der Seiten, die das analoge Buch prägen. Blatt liegt auf Blatt und gibt dem Buch eine bestimmte Dicke. Wenn ich lese, weiß ich also immer, wo im Buch ich mich gerade befinde. Bin ich am Anfang, so ist die linke Seite des aufgeschlagenen Buchs dünn, die rechte hingegen sehr dick; steht eine Stelle in der Mitte, sind linke und rechte Seite gleich dick, steht die Stelle gegen Ende des Textes, so ist die rechte Seite sehr dünn und die linke Seite dick.

Kurz gesagt: Beim analogen Buch habe ich neben der Breite und der Höhe des Buchs zusätzlich noch dessen Tiefe, in der die Information meinen Sinnen angeboten wird. – Diese Orientierungshilfe gibt es beim digital gelesenen Buch nicht. Dort wird zwar angegeben, wie viel Prozent eines Buchs ich gelesen habe, aber eine Prozentzahl ist weit weniger eingängig und wird weit weniger selbstverständlich nebenbei zur Kenntnis genommen, als das Verhältnis von bereits gelesenen und noch zu lesenden Seiten beim Papierbuch.

Der Wegfall dieser »Tiefe« bei E-Books mag es sein, was in vielen Fällen tatsächlich gemeint ist, wenn von der besseren Haptik gesprochen wird, die analoge Bücher auszeichne. – Und viele erleben es nachvollziehbar als Mangel, dass der Umfang des Buchs bei digitalen Büchern nicht mehr in gleicher Weise unmittelbar sinnlich erfahrbar ist.

Das digitale Buch hingegen bietet dem Leser, der intensiv mit einem Text interagiert, neben der Möglichkeit der »Anstreichungen« und Notizen die Möglichkeit, im Text direkt nach Wörtern oder ganzen Phrasen zu suchen, ohne große Probleme statistische Verfahren zur Textauswertung zu verwenden und außerdem, eine größere Zahl an »Büchern« mit sich zu führen.

Darüber hinaus bieten sich einfachere Möglichkeiten für Wörterbuchfunktionen, die gerade bei fremdsprachigen Texten ein flüssigeres Lesen erlauben, als es bei der Notwendigkeit der Nutzung eines analogen Wörterbuches der Fall wäre.

Das analoge und das digitale Buch sind also nicht nur durch die Übertragung eines Inhaltes von einem Datenträger (Papier) auf einen anderen Datenträger (Festplatte) voneinander zu unterscheiden. – Das Buch aus Papier und das Buch als Datei bieten unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten mit dem Inhalt an. Mag der Inhalt identisch sein, die Art des Umgangs mit ihm ist eine andere, sodass sich auch der Text in gewisser Weise »verändert«.

Form und Inhalt hängen bei allen per Datenträgern verbreiteten Inhalten zusammen. So konnte der Pergament- und Papyrus-Codex die Schriftrollen ablösen, weil er mehr Inhalt in transportablerer Form aufnehmen konnte. Dadurch verbreiteten sich die Inhalte zudem schneller, weil sie an Mobilität gewannen, was womöglich einer der Gründe ist, warum sich das Christentum so schnell ausbreiten konnte: Der Codex machte es möglich, die Botschaft leicht zu verbreiten.

Der Buchdruck veränderte dann nicht den Datenträger als solchen, sondern führte vor allem zur schnelleren Verbreitung von Inhalten, weil sie in größerer Zahl zur Verfügung standen. – Machte der Codex dem Wissen seiner Zeit Beine, so streute das mit beweglichen Lettern gesetzte und gedruckte Buch das Wissen weiter: An die Stelle der Handschrift, die die Codices des Mittelalters prägte, trat nun der Buchdruck, der aus exklusiven Wissensträgern, die an einzelnen Orten in Bibliotheken zu finden waren, große Auflagen machte, sodass jeder, der es wollte, deutlich leichteren Zugang zu dem Wissen bekommen konnte.

Die Erfindung des Codex veränderte den Datenträger, bediente sich aber weiterhin bei der Handschrift, wenn es um das Hinzufügen der eigentlichen Information ging. Die Erfindung des Buchdrucks veränderte nun die Form der Produktion, während der Datenträger selbst weiter das Papier in Form von Codices (Büchern) blieb. – Das ist freilich etwas vereinfachend gesprochen, denn das Buch hat sich in Sachen Papierqualität und Verarbeitung natürlich im Laufe der Zeit auch verändert, aber das Grundkonzept blieb doch über viele hundert Jahre gleich.

Die Digitalisierung verändert nun sowohl den Träger der Informationen als auch die Produktion und die Verbreitungswege von Informationen.

Wenn sich auch das Zeichensystem – die Buchstabenschrift – zumindest an der sichtbaren Textoberfläche durchhält, so hat sich deren Erstellung, Gestaltung und Verbreitung im Kontext der Digitalisierung nahezu gleichzeitig verändert.
Mit der Digitalisierung wird eine noch größere Verbreitung von Wissensbeständen ermöglicht, als es der Buchdruck bereits zu leisten vermochte; gleichzeitig werden die Formen der Interaktion mit den Inhalten verändert. Außerdem bildet sich hinter der sichtbaren Text-Oberfläche ein weiterer »Text« in Form des digitalen Codes, der die Darstellung der Zeichen als vertraute Buchstaben und Zahlen ermöglicht. Dieser digitale Code ist es, der – ähnlich den beweglichen Lettern, die Gutenberg für seinen Buchdruck benutzte – dem Wandel gemeinsam mit der Nutzung des elektrischen Stroms zugrunde liegt.

Damit verbunden ist ein drastisches Wachstum der Zahl zur Verfügung stehender Informationen, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr in dem Maße vorausgesetzt werden kann, wie man es in Zeiten tat, in denen der Zugang zu den Massenmedien durch kontrollierende Türhüter (Gate-Keeper) limitiert war.

Es gehört zur Dialektik der Digitalisierung, dass die mit dieser einhergehenden Demokratisierungsoptionen gleichzeitig zu einer größeren Unschärfe in Sachen Zuverlässigkeit von Informationen führen.
Hatte man im analogen Kontext im Idealfall die Türhüter als Qualitätssicherer,  so benötigt man im digitalen Zeitalter Mechanismen der Qualitätsvergewisserung.

Bei jeder Information muss man die Frage nach Indizien stellen, die für deren Zuverlässigkeit sprechen. Dabei kann man Bewertungssysteme nutzen, doch faktisch kommt man nicht darum herum, im Kontext des Digitalen Strategien zu entwickeln, die es einem ermöglichen, den Geltungsanspruch einer Information zu bewerten, was allerdings eine transparente Darstellung der Entstehung (Genese) einer Information voraussetzt.

Dabei kann man auf »alte« Türhüter zurückgreifen. Vielleicht verschwinden gedruckte Zeitungen im Laufe der nächsten Jahre: Das Geschäftsmodell des Journalismus muss damit noch lange nicht verschwinden, wenn es durch zuverlässige Qualität gelingt, die Nutzer des Dienstes »Journalismus« davon zu überzeugen, dass der Journalismus unabhängig vom genutzten Datenträger einen Wert hat, den Menschen zu zahlen bereit sind.

Zudem kann man auf erlernte Strategien zurückgreifen, die Kriterien zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe eine Information auf deren Zuverlässigkeit überprüft wird.

Die Digitalisierung ist mit Lernprozessen verbunden. Wer diese Lernprozesse nicht durchläuft, wird kaum kompetent in dieser sich verändernden, digital geprägten Welt leben können. Wer diese Lernprozesse allerdings aktiv verweigert, kann unter Umständen mit dazu beitragen, dass immer weniger Bürger*innen in der Lage sind, die verfügbaren digitalen Datenträger im Sinne der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu nutzen – oder über deren Nutzung in einen reflektierenden Metaprozess zu gelangen.

Dabei ist die Gewöhnung an einen Datenträger mit der mit ihm verbundenen Implikationen ein Lernprozess. – Wir sind so an Bücher gewöhnt, wie wir einst an Schreibmaschinen für die Gestaltung von Text mit Druckschrift gewöhnt waren.

Brauchte man einst für Kopien Kohlepapier, so kann man heute von einem digitalen Dokument unendlich viele Kopien erzeugen. Bei der Gestaltung von Textdokumenten ist der Lernprozess hin zum Digitalen sehr fortgeschritten; bei der Lektüre von Textdokumenten hingegen stehen wir bei diesem Lernprozess an vielen Stellen noch am Anfang.
Der Ort, an dem diese Lernprozesse angeleitet initiiert werden müssen, ist in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zugleich der Ort, an dem die Skepsis gegenüber der Digitalisierung verbreiteter zu sein scheint, als in anderen Kontexten: Schulen sind nach wie vor nicht zuverlässig und in der Breite dazu in der Lage, das Lernen und die Kritikfähigkeit im Kontext der Digitalisierung so zu begleiten, dass es nicht vom Zufall abhängt, ob Jugendliche die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten (Kompetenzen) zum angemessenen Umgang mit digitalen Informationen im schulischen Kontext erwerben können, wozu unter anderem die Kritikfähigkeit gegenüber Prozessen der Digitalisierung gehört.

Um zum Buch zurückzukommen: Während wir das analoge Buch aus Papier nach wie vor gut im Rahmen der von uns erlernten (hartnäckigen) Muster des Lesens aufzunehmen und zu bearbeiten wissen, verlangt das digitale Buch von uns, in einen Lern- und Gewöhnungsprozess einzutreten.

Es muss gelernt werden, wie man mit den veränderten Möglichkeiten des Datenträgers zu arbeiten vermag und man muss sich gleichzeitig daran gewöhnen, dass Texte die Dimension der Tiefe im Sinne von Seitenzahlen »verlieren«. – Dies ist allerdings viel mehr als eine Frage der Haptik.

Wir leben mitten in einem Kulturwandel, den es nicht zu erleiden, sondern zu gestalten gilt. – Schulen allerdings haben sich allzuoft gegen eine aktive Mitgestaltung des Prozesses entschieden, weil sie oft so handeln, als ginge die Digitalisierung wieder weg, als handele es ich bei ihr um einen »Schnupfen«, der kommt und wieder geht. Bislang spricht nichts dafür, dass die Digitalisierung ein vorübergehendes Phänomen ist. Entsprechend ist es wichtig, in den Schulen nicht nur über den Prozess der Digitalisierung zu reflektieren, sondern darüber hinaus Fertigkeiten zu erlernen, mit diesem Prozess produktiv und reflexiv umgehen zu können. – Dass dies in Schulen thematisiert und zum selbstverständlichen Bestandteil der Lernkultur wird, ist bislang noch von Zufällen und persönlichen Geschmäckern von Entscheidungsträgern abhängig. Eine solche Zufälligkeit dessen, was man in und zu diesen Prozessen der Digitalisierung lernt, kann sich ein allgemein bildendes Schulsystem in Zeiten eines tiefgreifenden, revolutionären Veränderungsprozess in einem wohlhabenden Land allerdings nicht leisten, wenn das Land im Rahmen der Digitalisierung weiterhin eine relevante Rolle im internationalen Kontext spielen will.

Beitragsbild via Pixabay CC0