Gedichtinterpretation: Johann Wolfgang Goethe – Natur und Kunst (1800)

 

Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
 

Worum eigentlich geht es in diesem um 1800 ohne Titel erschienen Sonett? Geht es um Natur und Kunst, die Goethes lyrisches Ich direkt im ersten Vers mit einer nebenordnenden Konjunktion verbindet und somit auf eine Ebene stellt, oder um Bildung, die in Vers 9 als Auftakt der beiden Terzette genannt wird? Müssen wir vielleicht in den letzen Vers des zweiten Terzetts schauen, um zu sehen, worum es hier geht, da in dieser vor allem im Barock genutzten strengen Bauform des Gedichts oft erst am Ende die eigentliche Erkenntnis genannt wird, um die es eigentlich geht? Neben die Natur, die Kunst und Bildung tritt das Gesetz, welches Freiheit zu bringen vermag. Doch tritt hier nicht eine erneute Widersprüchlichkeit auf den Plan? Schränken Gesetze nicht meist Freiheiten ein und brauchen freie Menschen wirklich Gesetze?

In Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« steht der Satz: »Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt« ((Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz, Band VII (Romane und Novellen II), München 1998, S. 553.)) Damit bringt er das Thema des Gedichts auf den Punkt: Natur und Kunst sind nur scheinbar widersprüchlich, denn Natur ist nur scheinbar so frei, wie man das vermutet und das Streben des Menschen weniger eingeschränkt, als manch einer vermuten mag.

Der Mensch will unterschiedlichste Ziele erreichen, zerbricht sich den Kopf über die Möglichkeiten, die er hat, und muss wählen. Anders die Natur: In ihr ist jede Rolle durch den Instinkt geleitet vorgegeben, ist alles Teil eines großen Ganzen, eines Ökosystems, das nur funktioniert, weil in der Vielfalt der Arten und der Lebensformen ein hochgradig komplexes Netz der Verbundenheiten und Abhängigkeiten existiert. Natur und Kunst sind harmonisch miteinander verbunden, weil in beiden eine Art »Wille« zur Gestaltung erkennbar ist. Was jedoch den Menschen und die Natur unterscheidet ist, dass des Menschen Streben »unbedingt« ist.

In der Natur hat alles seinen Platz. Der Mensch aber muss seinen Platz erst finden. Und wenn er sich »mit Geist und Fleiß […] an die Kunst gebunden« (V7), dann kann der Mensch zur Freiheit finden, so eine These in Goethes Gedicht.

Diesen in der zweiten Strophe angerissenen Gedanken greift Goethe in den beiden Terzetten auf, die durch den jeweils ersten sich reimenden Vers (V9 und V12) miteinander verbunden sind. Nun aber verweist das Gedicht auf die »Bildung« des Menschen. Wenn es da heißt, dass »ungebundne Geister« (V10) vergebens nach »Vollendung reiner Höhe streben« (V11), so greift das Gedicht die Grunderfahrung eines jeden Menschen auf, sich zwischen Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen Lebens entscheiden zu müssen.

Erst wer diese Entscheidung getroffen hat und sich ihr ganz und gar hingibt, wer sich also in seinen Möglichkeiten selbst beschränkt, um eine Möglichkeit zur Meisterschaft zu treiben, der nur kann nach der Überzeugung dieses Gedichtes Großes wollen (vgl. V 12) und dieses erreichen. »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister« (V13) bedeutet dann auch: Wer alles können will, kann alles nur ein wenig und wird es an keiner Stelle zu einer Meisterschaft bringen.

Während nun also die Schule die Wege öffnet, die ein Mensch gehen kann, liegt die Herausforderung darin, dann einen Weg zu gehen, wohl wissend, dass man sich damit gegen viele andere Möglichkeiten entscheidet. Das macht den Menschen aus. Ein Weizenkorn wird immer nur Weizen hervorbringen und aus einer Made wird immer ein Zweiflügler werden. – Der Mensch aber ist durch Kultur und Kunst so sehr von seinen Instinkten unabhängig geworden, dass er wählen kann; aber auch wählen muss, wenn er seine Freiheit wirklich leben will. Und diese Wahl macht in Goethes Augen einen Aspekt dessen aus, was Bildung auszeichnet: Zu akzeptieren, dass man sich selbst beschränken muss, um in der eigenen Disziplin »Meisterschaft« zu erlangen. Doch damit verbunden ist implizit zugleich die Fähigkeit, damit umzugehen, dass andere Menschen andere Entscheidungen treffen, andere Rollen übernehmen, andere Wege nehmen. Kurz: In diesem Bildungsideal ist indirekt das enthalten, was wir heute als »Vielfalt der Lebensentwürfe« bezeichnen.

Freiheit setzt voraus, dass ich sie nicht als »alles ist mir möglich« missverstehe, sondern als Notwendigkeit betrachte, mich zu binden, mich zu beschränken, meine Rolle, Aufgabe, sagen wir ruhig »Berufung«, zu finden.

Das »Gesetz« (V14) hat eine ähnliche Rolle, denn Gesetze schaffen Rahmenbedingungen, in denen wir uns sicher bewegen können. Wie wir den Rahmen füllen, den das Gesetz bietet, bleibt dann aber uns überlassen – solange wir uns im Rahmen des Gesetzes und vor allem im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen.

Goethe greift dieses Spannungsverhältnis von Freiheit und freiwilliger Bindung bzw. Selbstbeschränkung in der Form des Sonetts auf: Diese strengen Regeln folgende Gedichtsform verlangt vom Dichter das Befolgen relativ enger Vorgaben; es beschränkt die Ausdrucksmöglichkeiten. Gleichzeitig aber erlaubt sie es, ohne sich weitere Gedanken um die äußere Form machen zu müssen, Gedanken zu formulieren und so zu formen, dass sie in die Vorgaben passen, dem Gesetz des Sonetts folgen, und gibt dem Dichter somit auch Freiheit, sich ganz auf die Füllung des vom Sonett gegebenen Rahmens zu konzentrieren.

Natur und Kunst verbindet, dass ein jedes Teil ((jede Gattung, jede Art, jedes künstlerische Ausdrucksmittel, jede Farbe, jedes Material etc…)) seinen Platz hat, seine Funktion übernimmt und so im Idealfall zu einem harmonischen Ganzen führt, das in sich stimmig ist.

Der Mensch aber muss seine Rolle im Ganzen erst suchen, finden und dann auch annehmen, sich den »Gesetzen« »unterwerfen« die mit dem Weg verbunden sind, den er eingeschlagen hat. Will er sich alle Wege offenhalten, sich nicht binden, beschränken, konzentrieren, gilt, dass »ungebundne Geister« vergebens »nach der Vollendung reiner Höhe streben.« (V10f)

Das Gedicht »Natur und Kunst« reflektiert das Wesen der Natur, in der bei aller Wildheit und Schönheit dennoch alles beschränkt ist; die Rolle der Kunst, die in ihrem Streben nach Schönheit sich beschränken muss und somit letztlich in enger Verbindung mit der Natur steht, in der die Beschränkung jene angestrebte Schönheit hervorbringt, die der Künstler nach dem Kunstverständnis dieses Gedichts anstrebt. Und zuletzt verweist Goethe darauf, dass Bildung letztlich nur dann gelingt, wenn wir lernen, uns zu entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen. Wenn wir das nicht tun, erreichen wir höchstens das Mittelmaß des Dilettantismus in dem (Vielen) was wir zu tun versuchen. Damit kann man zufrieden sein. Doch Goethes (lyrisches) Ich strebt nach höherem Wissen. Im »Faust« spielt Goethe dieses Streben durch, freilich, insbesondere im ersten Teil, ohne so klare Antworten zu geben, wie sie in diesem Gedicht zu finden sind.