Faust 1 – Wagner und Faust (Nacht, Osterspaziergang)

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Faust 1 – Wagner und Faust (Nacht, Osterspaziergang) von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

Hier geht es um Wagner im Faust 1 in den Versen 522–601; 941–949; 1011–1021; 1056–1063; 1100–1109)

Was Faust beunruhigt und unbefriedigt lässt, ist Wagners höchstes Ziel: Wissen aus Büchern zu erlangen.

»Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt! / Da werden Winternächte hold und schön, / EIn selig Leben wärmet alle Glieder, / Und ach! Entrollst du gar ein würdig Pergamen, / So steigt der ganze Himmel nieder.« ( V 1105–1109)

Wagner hat seinen ersten Auftritt (V 522–601) im Schlafrock, mit Nachtmütze und Lampe in der Hand. Eine lächerliche Gestalt taucht hier auf. Während Faust darunter leidet, dass er nicht zu erkennen vermag, was die Welt im Innersten zusammenhält, beginnt Wagner ein Gespräch über die Redekunst (Rhetorik). Sein Ziel ist es, von Faust die Kunst des Deklamierens zu erlernen, um so zu Anerkennung zu gelangen. Dabei vertritt Wagner eine arrogante Position. Klagt er zu Beginn des Osterspazierganges über die Freude des Volkes am wieder aufbrechenden Leben in der Natur (V 941–948; hier besonders 944–948), so beneidet er zugleich Faust um die Verehrung, die dieser bei der Menge genießt (V 1011–1021).

Diese Arroganz spiegelt sich auch in Wagners Antwort wider, die er auf Fausts Selbstvorwürfe gibt, die sich dieser wegen eines ärztlichen Versagens seines Vaters macht. (V 1022–1055) Wagner meint, es sei genug, angemessene Sekundärtugenden zu leben – Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit –, um ein guter Arzt zu sein. Keinen Gedanken verschwendet er an die Frage der Verantwortung des Handelnden. Wagner erstickt in Buchwissen und der Genügsamkeit, die er mit diesem verbindet.

Mir fällt an dieser Stelle Konstantin Weckers Lied »Genug ist nicht genug« ein, in dem er Teile von Conrad Ferdinand Meyers Gedicht »Fülle« verarbeitet. – Wagner vermag diese Fülle nicht zu empfinden; selbst Fausts »Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, / Wenn es nicht aus eurer Seele dringt, / Und mit urkräftigem Behagen / Die Seele aller Hörer zwingt« (V 534–537) versteht er nicht. – Wagner strebt nicht nach Wissen, sondern alleine nach der Kunst des schönen Redens. Und hier findet sich ein weiteres Zitat, das zum Sprichwort geworden ist – wie so viele Verse aus Goethes Faust: »Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben.« (V 558f)

In gewissem Sinne stellt Wagner einen Sophisten dar, mit denen sich schon Sokrates herumgeärgert hat. Ob Faust an diese für die europäische Geistesgeschichte so wichtige Zeit gedacht haben mag, als er den Wagner als den Gegencharakter zu Faust, quasi als Anti-Faust erdacht hat? – Faust ist der Überzeugung, dass Wagner nur totes Faktenwissen anhäufe und nichts anderes als ein »trockne[r] Schleicher« sei (V 521).

Heute mag Faust berühmter sein – mir scheint, Wagner habe die Schlacht um das Wissen gewonnen. Betrachte ich vom »Faust« ausgehend die Gegenwart, so sehe ich überall Wagner, kaum einmal einen Faust dazwischen. Bücherwissen! – Ich denke an diese Quizshows, in denen nichts als Bücherwissen zählt (vom Geld einmal abgesehen, das es damit zu gewinnen gibt). Das leidenschaftliche Wissenwollen ist oft dem funktionalen oder rein lexikalischem Wissen verdrängt worden. An die Stelle eines Wissens, das auch Antworten auf »letzte Fragen« sucht, ist ein Wissen der Genügsamkeit getreten. Nicht mehr die Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält« steht im Zentrum, sondern die Frage nach dem, was Eindruck schinden kann oder eine Karriere ermöglicht.

Faust baut darauf, dass ein Redner, der wirklich etwas zu sagen hat, alleine aus seinem Verstand und seiner Leidenschaft heraus die rechten Worte finden wird, in denen sich Wissen und leidenschaftliches Leben vereinen:

»Es trägt Verstand und rechter Sinn / Mit wenig Kunst sich selber vor; / Und wenn’s euch ernst ist, was zu sagen, / Ist’s nötig, Worten nachzujagen? / Ja, Eure Reden, die so blinkend sind, / In denen Ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt, / Sind unerquicklich wie der Nebelwind, / Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselst.« (V 550–557)