Otfried Preußler – Krabat: Ein kritischer Zwischenruf

Ja,  Otfried Preußlers Roman »Kraba, der 1971 zum ersten Mal erschien, ist gut zu lesen. Er erzählt die spannende Geschichte eines Müllerjungens, der in den Machtbereich eines der schwarzen Magie anhängenden Müllermeisters gerät und – natürlich: die Liebe – einen Weg zur Erlösung findet.  Preußlers Roman wird als Meisterwerk der Kinder- und Jugendliteratur gehandelt, wurde mit Preisen ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt und nun sogar als Grundlage für einen Spielfilm genommen, der von einem eigenen Blog begleitet  und dessen Vermarktung auch von der »Stiftung Lesen« unterstützt wird.

Aber ist »Krabat«, abgesehen von der begrüßenswerten Kunst, den Lesenden in eine Geschichte hinein zu ziehen, ein guter Roman? – Die Antwort ist schwierig. Bleibe ich alleine bei der Erfahrung, dass der Roman gut zu lesen ist und eine spannende Geschichte erzählt, müsste die Antwort wohl eindeutig »Ja« lauten. Schaue ich mir die Gestaltung des Romans aber ein wenig näher an, so bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich ihn wirklich als einen »Klassiker« bezeichnen will. Ja, die Rezeption ist die eines Klassikers: Der Roman wurde in sehr viele Sprachen übersetzt, verkaufte sich über zwei Millionen Mal und hat im Rahmen all der positiven Bewertungen fast schon etwas Unantastbares an sich. Warum aber kommen bei mir dennoch deutliche Zweifel an der Qualität des Romanes auf?

Zunächst las ich das Buch, wie es wohl von Vielen gelesen wird: Ich begann und hatte Schwierigkeiten, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Insgesamt hat es keine zwei Tage gedauert, bis ich das Buch gelesen hatte. Und dennoch tauchten bereits bei der Lektüre ein paar Fragen auf, die mich nach wie vor beschäftigen, Fragen, die mich vor allem deshalb beschäftigen, weil ich während der Lektüre zunehmend das Gefühl bekam, dass die Figuren des Romans keine über den Roman hinaus gehende Biographie zu haben scheinen, bzw. diese nur in Bruchstücken im Roman selbst erfahrbar wird.

Das wäre an sich nicht schlimm, würde die erzählte Geschichte den Eindruck vermitteln, dass es eine solche das Handeln der Figuren in der Gegenwart der Geschichte bestimmende Biographie gäbe. Aber genau diesen Eindruck vermag mir der Roman bislang nicht zu vermitteln.

Von Krabat erfahren wir am Anfang nur, dass er als vierzehnjähriger Betteljunge im Sächsischen unterwegs ist (S. 9f). Doch seine Herkunft bleibt im Roman im Dunklen. Warum bettelt Krabat? Warum lässt er sich auf die Lehre in der Mühle ein? Woher stammt der Meister? Abgesehen von einer Anekdote (S. 177–183) erfährt der Lesende fast nichts über diesen dunklen Meister. Die Motive seines Handelns bleiben im Dunkeln. Noch dunkler aber bleiben die Motive und Lebensgeschichten der anderen Müllergesellen. Da wird zwar mal eingestreut, dass Tonda einmal verliebt war und diese Liebe durch den mysteriösen Tod der geliebten Worschula, Tonda führt dies auf den »Meister« zurück, beendet wurde (S. 58f), aber auch dieser Teil bleibt seltsam oberflächlich.

Und dann begegnet Krabat seiner geliebten »Kantorka« (S. 245). Sie habe von Krabat geträumt, davon, dass jemand Böses mit ihm im Sinn habe. Das reicht, um dafür zu sorgen, dass Krabat nicht mehr der Krabat von früher ist (S. 250) – aber welcher Krabat ist hier gemeint? Lesende wissen nichts über die ersten vierzehn Jahre Krabats! Was passiert hier mit ihm? Hat das alles nur mit den Geschehnissen in der Mühle zu tun?

Und auch bei der abschließenden Befreiung Krabats, die für den Müller den Tod bedeutet (S. 311–314) bleiben mehr Fragen offen, als der Text beantwortet. Ja, statt die Ereignisse wirklich zu zeigen, zieht sich Preußler auf Erklärungen zurück:

»›Wie hast du mich‹, fragte er, als sie die Lichter des Dorfes zwischen den Stämmen aufblicken sahen, hier eines, da eins – ›wie hast du mich unter den Mitgesellen herausgefunden?‹›Ich habe gespürt, das du Angst hattest‹, sagte sie, ›Angst um mich: daran habe ich dich erkannt‹« (S. 314.)

Anschließend fällt noch drei Zeilen lang Schnee und die Geschichte endet in Friede-Freud-Eierkuchen-Kitsch, was gar nicht so schwierig ist, weil wir natürlich alle verstehen, dass »die Liebe« grundsätzlich erlösende Fähigkeiten hat, sodass Lesende im Taumel dieses Zeugnisses der Liebeskraft natürlich völlig aufgelöst jegliche Fragen vergessen. – Hier werde ich fast schon ein wenig zynisch, weil Preußler mir jegliche Lebensgeschichte der »Kantorika« verweigert, ja, sie scheint, abgesehen von der völlig klischeehaften Rolle der bedingungslos Liebenden überhaupt keine Geschichte zu haben!

Wohl bemerkt, nicht die Botschaft dieser Zeilen bringt mich gegen den Roman »Krabat« auf, sondern die Gestaltung dieser Botschaft in dem Roman. Die hier vermittelte Kraft der Liebe verliert ihre Kraft, wenn sie als Klischee gestaltet wird. Und wenn das geschieht, dann stellt sich mir die Frage nach der Qualität eines Romans, jenseits der Erfahrung, dass der Roman trotz allem spannend ist und mich als Leser nicht loslässt.

Denke ich abschließend über die erzählte Handlung nach, die sehr gestrafft von den drei Jahren Krabats in der Mühle berichtet, so ist es die Banalität, mit der das »Dunkle« und die »Kraft der Liebe« hier dargestellt werden, die dazu geführt haben, dass mir der Roman so seltsam schwer zu greifen erscheint.

Natürlich könnte ich es auch anders wenden: Gerade weil Preußler so wenig von den Hintergründen erzählt, wird der Lesende zu eigenen Gedanken gezwungen – ein echtes Qualitätskriterium: Es gibt in Preußlers »Krabat« viele Leerstellen, die Leser und Leserinnen selbst zu füllen haben. Das mag es auch sein, was in den Roman hineinzieht. Doch diese Leerstellen sind letztlich so oberflächlich und klischeehaft gestaltet, dass Lesende bei der Reflexion der Fragen, die der Roman aufwirft, plötzlich ins Leere laufen.

Otfried Preußler, Krabat, München 2004 (19. Auflage, zuerst: 1971)