Wer sich einen »Wilhelm« vormachen lässt

Resume: Wissenskonstruktion in vernetzten Strukturen ist von ethischen Voraussetzungen im Umgang mit Wissen abhängig. Die bewusste Falscheingabe von Wissensbeständen in Plattformen zur gemeinsamen Wissenskonstruktion ist deshalb mindestens genau so kritisch zu betrachten, wie die unreflektierte und unüberprüfte Übernahme dieses Wissens durch Journalisten oder Wissenschaftler. An die Stelle des Feixens über auf solche Fehlinformationen hereingefallen – und so ihre reduzierten Recherchen offenbarenden  – Journalisten sollte an dieser Stelle eine Diskussion über eine Ethik der Wissenskonstruktion im Netz treten.

Wer ist nun eigentlich der Schlimmere? Jener anonyme Wikipedia-Manipulator / jene anonyme Wikipedia-Manipulatorin, der / die dem neuen Bundeswirtschaftsminister von Guttenberg einen zusätzlichen Vornamen (Wilhelm) unterjubelte oder jene Schar von Journalisten und Journalistinnen, die Wikipedia als Recherchequelle nutzt und dort abschreibt?

Während nun viel über die mangelnden Recherchqualitäten der deutschen Qualitätspresse gefeixt wird, scheint sich kaum jemand über jenen anonymen, dem Bildblog jedoch namentlich bekannten, Internetbenutzer zu ärgern. Es ist bestimmt kein Zufall, dass jener Wikipedia-Mitschreiber seinen Namen nicht nennen will. Hier wurde eines der in meinen Augen wichtigsten Netiquette mit Füßen getreten, der jeder ernsthaft an der Wissenkonstruktion im Netz beteiligte Autor unterworfen sein sollte: Aufrichtige Gewissenhaftigkeit! – Und das nicht erst im Nachhinein öffentlichkeitswirksam im Bildblog.

Ja, Fehler können passieren. Bewusst konstruierte Fehler aber geben keinerlei Anlass über andere zu feixen, auch wenn es natürlich interessant ist, in wie vielen Medien diese Fehler übernommen wurde! Das gibt einen tiefen Einblick in eine Recherchepraxis, die die gesamte Medienlandschaft durchzieht. Es scheint manchmal so, als schrieben auch Journalisten und Journalistinnen in vielen Fällen einfach voneinander oder aus gleichen Quellen ab, so dass sich keine Vielfalt sondern vor allem Redundanz entwickelt.

Die gemeinsame Konstruktion von Wissen ist darauf angewiesen, dass alle an ihr Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen sorgfältig mit den jeweils selbst beigetragenen Wissensteilen umgehen. Trotz Sichtungsmechanismen ist dies in Wikis leider nicht zu garantieren. Hier greift so etwas wie eine Ethik des Schreibens im Internet, die meines Erachtens nicht unter der Journalistenethik steht. Anders kann die Konstruktion von Wissen im Netz nicht funktionieren.

Die offene Struktur solcher Wissenbildungsprozesse kann nicht sicherstellen, dass nur solche Menschen im Netz schreiben, die sorgfältig mit Wissen umgehen und sich Gedanken über die Bedeutung des Netzes für die moderne Wissensgesellschaft machen. Das ist ja der Grund, warum ich Wikipedia und viele andere Seite im Internet z.B. für die Generierung von Wissen in Schule und Unterricht nur bedingt für geeignet halte.

Und da sind wir beim nächsten Problem: Das Internet wird nach wie vor als Konsum-Medium genutzt. Verantwortete Vernetzung zum Zwecke der Wissensbildung ist nach wie vor eher die Ausnahme. Es ist nach wie vor so, dass eigentlich nur der oder die mit Gewinn im Netz recherchieren kann, der oder die Kriterien entwickelt hat, anhand derer er oder sie Informationen einschätzen und bewerten kann, die ihm oder ihr dort vorgesetzt werden.

Trotz der relativ hohen Qualität von kollektiv konstruiertem Wissens, dessen berühmtestes Beispiel Wikipdedia ist, das durch die gegenseitige Kontrolle der am Wissensbildkonstruktionsprozess beteiligten Personen erreicht wird, die (unbewusst gesetzte) Fehler in der Regel schnell korrigieren, kommen wir um die Aufforderung der Aufklärung auch heute nicht herum, dass man sich trauen solle, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (sapere aude), statt in voraufklärerischer Unmündigkeit auf die Überprüfung von Wissen zu verzichten, auch wenn dies en Detail in vielen Fällen nahezu unmöglich ist.

Ja, auch ich wäre auf den Hoax mit dem untergejubelten »Wilhelm« hereingefallen. Das nur, damit mir keiner Selbstgerechtigkeit vorwerfen kann. Deshalb bin ich auf die betroffenen Medien auch fast nicht böse; wenig Humor habe ich aber gegenüber dem Verursacher oder der Verursacherin dieses bewusst gesetzten Fehlers. (Warum gehen eigentlich nahezu alle, zumindest sprachlich, davon aus, dass es sich um einen männlichen Autor gehandelt hat?) Gerade weil wir uns in eine gewisse Selbtsverständichkeit im Umgang mit Informationen aus dem Netz begegeben haben, ist es um so wichtiger, dass möglichst alle dort schreibenden Personen ernst nehmen, dass das Netz zu einem wichtigen Ort der Information und Wissenskonstruktion geworden ist.