Vernetzter Diskurs – Ein Beitrag zur „Schulmeister-Debatte“
„Blogs sind in der Breite, in der sie genutzt werden, eine interessante Innovation – aber sie sind in der Regel nicht besonders nachhaltig. Sie reproduzieren etwas, was man sowieso in der Massenkommunikation vorfindet – eine eher monologische Form des Ausdrucks. So entsteht in den Blogs meist kein ‚Thread‘, es erfolgt dort in der Regel keine Erarbeitung und Weiterentwicklung von Themen und Inhalten. Die persönliche Äußerung steht stark im Vordergrund statt des Aufbaus eines konsistenten und verzweigten Diskussionsfadens. Blogs sind sehr egomane Veranstaltungen, Ich-AG’s – auf die Beiträge von ande- ren wird nicht besonders geachtet.“ (Leggewie 2006) ((Leggewie, Claus (2006). Politische Beteiligung, bürgerschaftliches Engagement und das Internet. In- terview der Stiftung digitale Chancen, 21.07.06))
Dieses Zitat steht dem Beitrag Rolf Schulmeisters „Ansichten zur Kommentarkultur in Weblogs“ voraus, der unter Beteiligung von Roland Leikauf und Mathias Bliemeister entstanden ist und zur Zeit heftig in unterschiedlichsten Blogs diskutiert wird. Zur Orientiert hier zunächst eine Übersicht, soweit ich sie überhaupt noch behalten kann (Ergänzungen bitte in den Kommentaren)
- Michael Kerres: http://blog.kerres.name/2010/02/kommentar-zu-rolf-schulmeisters.htm
- Joachim Wedekind: http://konzeptblog.joachim-wedekind.de/?p=415
- Jochen Robes: http://www.weiterbildungsblog.de/2010/02/12/ansichten-zur-kommentarkultur-in-weblogs
- Gabi Reinmann: http://gabi-reinmann.de/?p=1751
- Christian Spannagel: http://cspannagel.wordpress.com/2010/02/13/schulmeisters-ansichten/
- Sandra Hofhues: http://sandrainthesky.wordpress.com/2010/02/13/kontroverse-ansichten/
- Jean-Pol Martin: http://jeanpol.wordpress.com/2010/02/13/zum-schulmeister-artikel/
- Karsten Ehms: http://www.ehms.net/?story=3597
- Lutz Berger: http://www.lutzlandblog.de/2010/02/schulmeister-fleiskartchen-und-edublogger/
- Alexander Florian: http://alexander-florian.de/?p=785
- Frank Vohle: http://frank-vohle.de/node/216
- mons7: http://lernspielwiese.wordpress.com/2010/02/14/ganz-unwissenschaftliche-anmerkungen-zu-schulmeisters-ansichten/
- Etherpad-Diskussion
- Außerdem die Debatte unter dem Hashtag #schulmeister auf Twitter
Gerade die Etherpad-Diskussion ist hier zu empfehlen, weil dort gerade versucht wird, eine kolaborative Rezension des Artikels Schulmeisters zu verfassen, mit der ich hier natürlich nicht in Konkurrenz treten will.
Mein Ausgangspunkt sind zwei Sätze aus dem oben angeführten Leggewie-Zitat:
„Blogs sind in der Breite, in der sie genutzt werden, eine interessante Innovation – aber sie sind in der Regel nicht besonders nachhaltig. Sie reproduzieren etwas, was man sowieso in der Massenkommunikation vorfindet – eine eher monologische Form des Ausdrucks.“ (ebd.)
Ich habe geschluckt, als ich das las. Denn einerseits hat Leggewie recht, so mein erster Gedanke, da Blogs nicht gedruckt vorliegen. Andererseits war ich überrascht, dass Blogs als pure Instrumente der Reproduktion dessen gesehen werden, „was man sowieso in der Massenkommunikation vorfindet”. Hier werden Blogs recht skeptisch betrachtet, wenn es um den Prozess der Generierung von Wissen geht. Doch unter diesen Voraussetzungen ist es kaum verwunderlich, dass Schulmeister am Abschluss seines Beitrages ein Zitat integriert, das er bereits 2000 formulierte:
„Der Hypothese, die massenhaftes Wachstum gleich Qualitätssprung setzt, lässt sich nun gleich Mehreres entgegenhalten: Das Internet führt zu gravierendem Wissensverlust, denn Information ist nicht gleich Wissen und die Informationsflut steigert das Nicht-Wissen bzw. die Ohnmacht, das wirklich relevante Wissen zu selektieren.“ (Schulmeister 2000) ((Schulmeister, Rolf (2000). Zukunftsperspektiven multimedialen Lernens. In: K.-H. Bichler/W. Matt- auch. Multimediales Lernen in der medizinischen Ausbildung. Springer: Heidelberg.))
Für die Erfahrungen der Mehrzahl der Blogger wird diese Beobachtung durchaus anwendbar sein. Doch der Schluss, dass Blogs per se nicht für den Prozess der Generierung von Wissen geeignet seien, scheint doch ein wenig zu kurz gegriffen zu sein, gibt es doch andere Erfahrungen von Menschen, die sowohl die vordigitalen Zeiten als auch die Entwicklung des Internets mitgemacht haben – unter anderem auch von mir.
Aus empirischen Daten, die zudem noch auf einen relativ kleinen Datenbestand zurückgreifen, zu dem Schluss zu gelangen, dass das Internet per se zu einem Wissensverlust führe, erscheint mir weder auf der Basis der Daten noch aus den Befunden der Darstellung Schulmeisters nachvollziehbar. Auch wenn qualitative Formen der Sozialforschung mit kleineren Stichproben auskommen als es bei quantitativer Sozialforschung der Fall ist: Daten leben immer von den Fragen, die an sie gestellt werden. Und solche Fragen zeigen sich dann in den Antworten bzw. in Formulierungen, die gefunden werden.
Dazu ein Beispiel aus dem Aufsatz Schulmeisters:
Zu Gabi Reimanns Blog schreibt er: „Es fällt auf, dass über die Hälfte der Kommentare von Personen stammt, die dreimal oder öfter kommentieren (mittlere Länge 108 Wörter)“
Im Falle Christian Spannagels liest sich das dann so: „Erstens zieht Spannagel eine kleine Anhängerschar von Kommentatoren an, die über 60% aller Kommentare abgeben: 15 der insgesamt 69 Personen (22%) geben 5 oder mehr Kommentare ab, davon 4 Personen mehr als 10 und einer allein 33. Und zweitens präsentiert er Themen, die sehr viele Kommentare bekommen.” ((Schulmeister (2010), S. 17.)
Würde ich mir das Netzwerk eines analog arbeitenden Wissenschaftlers anschauen, so würde mir auffallen, dass die meisten Reaktionen auf die Arbeiten von meist den gleichen Personen kommen. Wie man dann aber Mitglieder eines Netzwerkes online fast schon diskreditierend als „kleine Anhängerschar“ bezeichnen kann, ist kaum nachzuvollziehen. Ebenso wenig treibt es den Erkenntnisgewinn voran, wenn gesagt wird, dass jemand Themen präsentiere, die sehr viele Kommentare bekommen. Dies liest sich fast wie ein Populismusvorwurf. Doch könnte man den Befund auch so deuten, dass hier jemand mit besonderer Wahrnehmungsgabe die „heißen“ Themen aufgreift.
Entsprechend solcher Urteile über Blogs und der mit ihnen verbundenen Kommentarkultur, kann leicht der Eindruck entstehen, dass hier eher Vorurteile reproduziert wurden. Das Zitat aus 2000, mit dem die Studie „Ansichten zur Kommentarkultur in Weblogs“ abgeschlossen wird, lässt zumindest den Eindruck entstehen, dass es hier in den vergangenen 10 Jahren keine Weiterentwicklungen gegeben hätte. Doch die Kommunikationsprozesse haben sich im Rahmen des „Web 2.0“ verändert. Und so müsste die Frage aus meiner Sicht lauten, unter welchen Voraussetzungen Blogs, Kommentare in Blogs und die Vernetzung von Bloggern in sozialen Netzwerken und im realen Leben für den Prozess der Generierung von Wissen bedeutsam sein können.
Hierzu an dieser Stelle ein paar Hypothesen, deren Überprüfung sicherlich eine spannende Aufgabe darstellen könnte:
- Digitale Netzwerke dienen im Rahmen wissenschaftlicher Tätigkeit nicht primär der nachhaltigen Präsentation von Wissensbeständen. Sie zielen nicht auf abschließende Darstellungen von Forschungsergebnisse. Sie sind eher Instrumente öffentlicher Denkprozesse (vgl. z. B. das Blog des Eichstätters Prof. em. Dr. Jean-Pol Martin), die ein bestehendes Netzwerk nutzen, um den Denkprozess selbst bereits in einen Evaluationsprozess einzuspeisen. Und zumindest bei Jean-Pol Martin lässt sich beobachten, wie Kommentare und auch Blogbeiträge, die sich auf seine Beiträge beziehen, sehr unmittelbar in den Denkprozess einfließen, diesen sogar verändern können, wenn sie dem Wissenschaftler Martin nachvollziehbar sind.
- Digitale Netzwerke machen Material verfügbar, dass der Forschung sonst nicht verfügbar wäre. So könnte gerade die Bildungsforschung im schulischem Bereich von den praxisnahen Beiträgen sehr viel profitieren, würden die an ihr Beteiligten stärker den Dialog mit denen suchen, die unmittelbar Praxis reflektieren oder darstellen. (vgl. z. B. die Lehrerblogs von Thomas Rau und Maik Rieken) Hier wird vielleicht per se kein neues Wissen im wissenschaftlichen Sinne produziert, es findet aber auch kaum Reproduktionen dessen statt, was man sowieso in der Massenkommunikation vorfindet.
- Die Reflexionsprozesse in Bildungsblogs erheben, so sie von Lehrern und Lehrerinnen stammen, nicht den Anspruch wissenschaftlich unangreifbare Reflexionen zu sein. Sie sind Zeugnis der umgesetzten Forderung, dass Lehrer reflektierende Praktiker sein sollen / müssen. Viele Lehrerblogs geben Zeugnis dieses Reflexionsprozesses, ohne dass die Reflexion der an Schulen Lehrenden von an Hochschulen Lehrenden in angemessenem Maße ernst genommen würden. Es entsteht manchmal der Eindruck, dass an Hochschulen zur Bildung Forschende meinen, die Bildungserfahrungen an der Hochschule ergäben ein adäquates Bild von Bildung und Lernen in jedem Zusammenhang.
- Zur Unterrichtsforschung, die meiner Wahrnehmung nach in Deutschland immer noch ein stiefmütterliches Dasein fristet, gehört auch Lehrerforschung. Die Lehrenden, die Blogs schreiben, liefern hierzu erste Zugangsmöglichkeiten, die zwar weder hin- noch ausreichend sind, aber als Ansatzpunkte einer solchen Forschung dienen könnten.
- Lernprozesse können von vernetzten Strukturen in „Communities“ begleitet werden. Es handelt sich hier um eine Form der nicht formalisierten, aber kontinuierlichen Fortbildung, die hochgradig dialogisch ist. Blogs sind, wenn ihre Autoren vernetzt sind und diese Vernetzung gezielt und eben nicht beliebig betreiben, eben keine „eher monologische Form des Ausdrucks“, wie Leggewie schreibt, sondern enthalten Beiträge, die aus einem Dialog heraus entstanden sind. Dieser Dialog findet auf mehreren Ebenen statt: Blogs werden abonniert (RSS-Feeds – die übrigens mehr über gegenseitige Rezeption aussagen als Blogrolls), es werden Kommentare geschrieben und gelesen, Beiträge sind oft Antworten auf Beiträge anderer oder zumindest Zeugnis von Denkprozessen, die durch solche Beiträge angeregt wurden. Darüber hinaus findet ein auf Kontinuität hin angelegter Austausch via Twitter, Facebook, Skype und auch (man will es kaum glauben) im Rahmen „echter“ Begegnungen in „real life“ statt. Diese Vernetzung erreicht dabei so komplexe Formen, dass sie alleine aus den Blogs und deren Blogrolls nicht angemessen darstellbar sind. (Dem Beitrag Schulmeisters scheinen solche komplexe Formen der Vernetzung nicht zugänglich gewesen zu sein. Es entsteht sogar der Eindruck, dass Schulmeister zwar andere Blogs in den Fokus nimmt, dabei aber auf keine eigenen Erfahrungen dieser Form der Vernetzung zurückgreift. Daraus wäre kein Vorwurf zu machen, da Forschung nicht immer mit eigenen Erfahrungen im Bereich des Erforschten einhergehen muss, würde nicht der Eindruck entstehen, dass Schulmeister letztlich vor allem eine medienkritischen Position reproduzieren würde, die man eh schon in den Massenmedien kennt – und das ganz ohne zu bloggen.)
- Um über Edu-Blogs zu forschen, ist es sicherlich keine gute Wahl, wenn vor allem über Blogs geforscht wird, die sich mit E-Learning beschäftigen, wie es in Schulmeisters oben zitierter und verlinkter Studie geschieht. In diesen Blogs geht es meist um bestimmte Lerntechnologien, die weit von dem entfernt sind, was vernetztes Lernen und Arbeiten via Blog und in Web 2.0 Netzwerken ausmacht. Wenn die Frage nach der Kommentarkultur in Blogs gestellt wird, dann ist die Frage nach der Kommunikation vernetzt arbeitender Personen über diese Kommentare hinaus in den Blick zu nehmen, da diese in der Regel wesentlich komplexer ist, als es in Blog-Kommentaren erkennbar wird. Dabei zeigt sich die Nachhaltigkeit gerade dort, wo Kommentatoren regelmäßig in Blogs kommentieren. Das hat nichts mit „Anhängerschaft“ zu tun, sondern ist Zeugnis der Anregungspotentiale solcher Blogs.
Soweit diese Thesen, die teilweise auch kritisch kommentierend zu Schulmeisters Beitrag geraten sind. Sie erheben keinen wissenschaftlich fundierten, sondern alleine einen erfahrungsfundierten Anspruch. Dennoch glaube ich, dass sie zur Reflexion der Genese von Geltungsansprüchen beitragen können. Dabei nehme ich für mich Anspruch, dass ich bislang länger in unversitären Kontexten als in schulischen Zusammenhängen mein Brot verdient habe und beide Seiten aus eigener Anschauung, die natürlich keinerlei theoretischen Anspruch erheben mag, angemessen kenne. Gleiches gilt für meine Positionierung gegenüber Blogs. Mein erkenntnisleitendes Interesse, das mich überhaupt erst zum Blogger gemacht hat, war die Frage, ob Blogs als „Basisstation“ vernetzter und zielgerichteter Denkprozesse funktionieren können. Alleine in diesem Prozess habe ich enorm viel gelernt, sowohl fachlich als auch über Kommunikationsprozesse in den vernetzten Strukturen des Web 2.0. Unter anderem lernte ich, dass Vernetzung, die effektiv und interessegleitet ist, die also versucht an der „Erarbeitung und Weiterentwicklung von Themen und Inhalten“ (Leggewie, a.a.O.)
Anteil zu haben, mit zu arbeiten und nicht monologisch zu sein, erarbeitet werden muss. Kommentare bekommen Blogger nicht geschenkt. Wenn ein Blog als irrelevant wahrgenommen wird, schweigen die Kommentatoren.
Darüber hinaus lebt diese Vernetzung auch vom Dissens. Gerade an diesen Reibungsflächen entstehen Denkprozesse, die, ich spreche nach wie vor aus der Position eines reflektierenden Praktikers, Positionen verändern oder auch verfestigen können.
Rolf Schulmeister hat Dissens erzeugt, hat Denkprozesse angeregt (ganz ohne Blog, aber somit möglicherweise, ohne diese in ihrer Bandbreite dialogisch rezipieren zu können) und eine Flut von „Peer-Reviews“ ausgelöst, die er in so kurzer Zeit und in dieser Fülle außerhalb vernetzter Strukturen nicht bekommen hätte. Sein Beitrag liegt in gedruckter Form vor. Eine Integration und Berücksichtigung des von ihm ausgelösten Diskussionsprozesses ist im Kontext des Beitrages also nicht möglich. Wenn dies mit „Nachhaltigkeit“ einer wissenschaftlichen Arbeit gemeint sein sollte, wird an dieser Stelle vielleicht deutlich, dass die Diskussion – und hier gleite ich nun völlig in den Bereich der zwar reflektierten, aber dennoch persönlichen Meinung ab – im Prinzip noch wesentlich umfassendere Faktoren in den Fokus nimmt, als auf den ersten Blick erkennbar ist.
Die Diskussion um Schulmeisters Artikels, die seit Tagen über Twitter und in diversen Blogs geführt wird, ist auch eine Diskussion um Definitionsmacht. Das Web 2.0 wird oft als ein demokratisierendes Medium beschrieben, mit allen Licht- und Schattenseiten, die es mit sich bringt, wenn sich plötzlich Personen außerhalb der gewöhnten Zirkel zu Themen äußern, die sonst nur in den (meist durch formale Zugangsbeschränkungen geregelten) akademischen Kreisen stattfinden.
In Fragen der Bildungsforschung entsteht oft der Eindruck, dass es eine Kluft zwischen der akademischen Forschung, die selbst in Lehr-Lernzusammenhängen stattfindet, und der Reflexion auf Bildungsprozesse in schulischen Kontexten gibt. Oft entsteht (bei mir) der Eindruck, dass die Reflexionen auf Lernen und Lehre, wie sie im universitären Bereich stattfindet, vor allem die eigenen Erfahrungen in der universitären Lehre in den Blick nehmen, dann aber überrascht sind, dass Lehrende in schulischen Lehr-Lern-Zusammenhängen diese Reflexionen nicht mit ihren eigenen Erfahrungen und deren Reflexion zusammenbringen können.
Auffällig ist in der Diskussion um Schulmeisters Beitrag, dass sich auch einige der „Beforschten“ zu Wort gemeldet haben, darüber hinaus aber auch „neutrale“ Beobachter der Diskussion zu Refelexionsprozessen angeregt wurden. Und damit liegt mit diesem Diskussionsprozess meines Erachtens eine ideales Beispiel vor, welche Funktion Blogs im Prozess der Generierung von Erkenntnissen einnehmen können. Sie sind Teil von Denkprozessen, die kontinuierlich ablaufen und der Illusion entgegen wirken, dass einmal veröffentlichte Forschungsergebnisse in dem Sinne nachhaltig sind, dass sie monologisch in gedruckter Form erscheinen. Und um Schulmeisters Zitat noch einmal aufzugreifen, hier mein Versuch einer (überspitzt ironischen) Antwort:
Gedruckte Forschungsergebnisse sind in der Breite, in der sie genutzt werden, eine interessante Innovation – aber sie sind in der Regel nicht besonders nachhaltig. Sie behaupten eine Sicherheit von Wissen, die den mit Wissen verbunden ständigen Reflexionsprozess nicht angemessen widerzuspiegeln vermögen und sind somit eine hochgradig monologische Form des Ausdrucks.
Und zu Claus Leggewie (wohl wissend, dass aus dem Zusammenhang gerissene Zitate immer mit Vorsicht zu genießen sind) – ebenso ironisch und natürlich massiv übertreibend:
„Wissenschaftliche Beiträge, die in wenig gelesenen Büchern erscheinen, sind in der Begrenztheit, in der sie genutzt werden, eine interessante Innovation – aber sie sind in der Regel nicht besonders nachhaltig. Sie produzieren etwas, was nur in seltenen Fällen zu nachhaltigen Diskussions- und Reflexionsprozessen über kleine Zirkel von Insidern im akademischen Bereich hinaus führt – eine eher monologische Form des Ausdrucks. Gedruckte wissenschaftliche Beiträge machen es schwierig dem „Thread“, in dessen Zusammenhang sie möglicherweise stehen, zu folgen. In den Beiträgen selbst ist die Erarbeitung und Weiterentwicklung von Themen und Inhalten meist nur sehr indirekt und über aufwändige Bibiliotheks- und Zeitschriftenrecherchen nachzuverfolgen. Die persönliche Äußerung steht stark im Vordergrund, auch wenn über die Einarbeitung von Forschungsliteratur ein konsistenter und verzweigter Diskussionsfaden dargestellt wird, der jedoch frühestens in einer Neuauflage aktualisiert werden kann und zudem die meisten der Rezipienten aus dem Diskussionprozess ausschließt. Klassische (Bildungs- und Sozial)Forschung ist eine sehr egomane Veranstaltungen, es entstehen akademische „Geheimgesellschaften”, die auf Beiträge außerhalb ihrer geschlossenene Zirkel nicht besonders achten.
Wie austauschbar doch die Begrifflichkeiten sind; wie einfach es ist, die Kritik umzudrehen. Ich will hier nicht zynisch sein, ich will zum Nachdenken anregen, ob die wissenschaftliche Erforschung öffentlicher Denkprozesse nicht zunächst mit einer klaren Reflexion dessen einhergehen müsste, was sich hier zur Zeit am verändern ist, statt aus scheinbar eindeutigen, aber letztlich die Strukturen der Vernetzung nicht einholen könnenden, Analysen von Blogkommentaren Rückschlüsse zu ziehen, die den Erfahrungen der in vernetzten Strukturen arbeitenden Personen zumindest in weiten Teilen zuwider laufen.
Und außerdem (mit Dank an Michael Wald):
Nachtrag, 16.02.2010: Rolf Schulmeister hat mit Bezug auf die Diskussion um seinen Aufsatz und mit Bezug auf die 1. Etherpaddiskussion (die 2. läuft wohl wesentlich sachorientierter), eine Replik verfasst, die hier als PDF vorliegt, die zu lesen ich sehr empfehle.
Was soll an deinem beitrag nicht wissenschaftliche sein?
@jean-pol martin
Die Faktoren, die mir als „unwissenschaftlich“ um die Ohren fliegen könnten:
1. Zu wenig Fachliteratur eingearbeitet. Gerade Schulmeisters als PDF verfügbaren Aufsätze bieten noch wesentlich mehr Anknüpfungspunkte als hier angeführt.
2. Es werden keine Ergebnisse präsentiert, die empirschen Verfahren standhalten könnten, nur Hypothesen (was allerdings einem geisteswissenschaftlichen Zugang gar nicht so fremd ist).
3. Es ist zu viel Meinung (wenn auch als solche, wenn mir da nicht was durch die Lappen gegangen ist) und zu häufig das Wort „Ich“ in den Beitrag eingegangen.
4. Ironische Überspitzungen sind in wissenschaftlicher Literatur nicht gerne gesehen.
Du lieferst doch einen erheblichen beitrag an der kollektiven wissenskonstruktion. wenn das nicht wissenschaft sein soll!
@jean-pol martin
Es freut mich, dass du das so siehst. Das entspricht meiner Intention, dass Wissenschaft immer aufklärenden Charakter haben soll. In diesem Sinne war mir die Umformulierung der Zitate am Ende des Beitrags wichtig. Da wird vielleicht deutlich, dass der Diskurs einer ist, der sich um wissenschaftliche Paradigmen (Grundannahmen und Grundausrichtungen) im Bereich der Genese (Entstehung) von Wissen dreht.
Der Inhalt deiner „überspitzt ironischen“ Antwort ist mir auch wiederholt durch den Kopf gegangen in den letzten Tagen, habe mich aber nicht getraut, das so rauszuhauen… Respekt!)
Gratuliere zu diesem sehr sachlichen Posting, in dem du wesentliche Aspekte des Schulmeister-Texts und der Reaktionen darauf sehr treffend analysierst. Besonders gefällt mir die pointierte Umdrehung des Zitats am Ende.
Ein Wort zur „Definitionsmacht“: Ein nicht unwesentlicher Aspekt, denke ich, und meiner Ansicht nach hängt die Wirkung der Definitionsmacht davon ab, wer die Definition rezipiert.
– Rezipienten, deren Hauptinformationsquelle bedrucktes Papier ist, werden zum Thema „Blog/Schulmeister“ demnächst sagen können: „Ah ja, recht interessant. Da gibt es doch diesen Artikel in der Festschrift für Aufenanger. Ist ja unter Wissenschaftlern noch wenig verbreitet, dieses Medium – denken Sie mal: nur elf Blogs.“ Und sie werden sich für gut informiert halten.
– Rezipienten, die sich sowohl in Büchern als auch im Internet informieren, und die mit Bildungsbloggern und/oder -twitterern vernetzt sind, werden zu diesem Thema sagen: „Ach, das ist ja der Artikel, zu dem es noch am selben Tag so eine Mischung aus Rezension und Diskussion auf Etherpad gab, und der ein Dutzend Blogeinträge auslöste.“
Der Grad der Erregung bei der letztgenannten Gruppe (ablesbar an Anzahl und Ton der Wortmeldungen in Blogs und Blog-Kommentaren sowie auf Twitter) erklärt sich vermutlich nicht zuletzt daraus, dass Blogger ein geradezu emotionales Verhältnis zu ihrem Blog entwickeln (wie auch nicht, enthält es doch immer auch persönlichkeitsgefärbte Elemente) und sich dementsprechend persönlich angegriffen (oder missachtet) fühlen, wenn ihr Blog und seine Kommentare abgewertet, falsch verstanden oder gar ignoriert werden.
Der unaufgeregte Ton deines Beitrags ist deshalb umso wohltuender.
@Herr Larbig
Die Kriterien, die du für traditionelle Wissenschaft genannt hast, sind möglicherweise auch diejenigen, die einen echten fortschritt in der gemeinsamen Wissenskonstruktion behindern. Daher mein vorschlag: entweder die kriterien für gute wissenschaft an die heutige realität anpassen /z.B. geschwindigkeit und vernetzung) oder das wort wissenschaft abschaffen und durch ein anderes ersetzen, wie kollektive wissenskonstuktion, oder ähnliches.
… jedenfalls wissenschaftshaltiger als Schulmeisters „Ansichten“, der mit seiner gewillkürten Selektion einer Hand voll Items und Beobachtungsobjekten (warum war bspw. der Blog von Ben Jörissen http://joerissen.name/ nicht dabei? Aufgrund seiner Komplexität zu aufwendig zu untersuchen?) gewollt schwarze Empirie treibt. Entscheidend aber sein Dictum: Viele der beobachteten Blogger kennen einander persönlich und sind realiter auch im (freundschaftlichen) Austausch verbunden – er impliziert die „Realitätslagerung“ und damit die übrigen Kanäle, die er ignorieren will, hat also das Scheitern in seinen Annahmen schon drin.
Da es schon mehrfach gesagt wurde, mache ich es kurz bzw. ich schließe mich einfach an: Ein toller Beitrag, Gratulation und Danke für die umfangreiche Auseinandersetzung sowie die interessanten Überlegungen zum „Schulmeister-Text“ 🙂
Ich frage mich im Kontext deiner Reflexion, ob die Tagebücher früher Naturforscher eigentlich „wissenschaftlich“ waren – immerhin gab es keine Quellen, keine Belege mit Ausnahme der persönlichen Erfahrung, dem subjektiven Erleben. War Schrödingers Arbeit „wissentschaftlich“? Beweisen konnte man da lange Zeit gar nichts, lediglich passte das ganz gut zur Empirik – bis dann das Elektronenrastermikroskop kam.
Und nochwas: Die Relevanz von Blog misst sich doch nicht nur an der Kommentarkultur, dr Blogroll oder der RSS-Rezeption, sondern doch vor allem auch an der Zugriffsstatistik. Ich habe Artikel ohne jeden Kommentar, aber mit sehr vielen Zugriffen. Ich denke da bei dir z.B. an deine Faust-Artikel. Das sind stille Emergenzen, aber ich kann mir leibhaftig vorstellen, dass du fremden Unterricht dadurch ganz schön beeinflussen kannst.
uups – wissenschaftlich, nicht wissentschaftlich…
@maccab99: wissentschaftlich … gefällt mir fast noch besser als wissenschaftlich 😉
Und dass du wissenschaft betreibst, wird von Francis Bacon bestätigt:
http://jeanpol.wordpress.com/2010/02/15/philosophie-6-francis-bacon-1561-1626/
Was du machst, ist nützlich für die Menschen.
Vermutung: Wissenschaftlich ist, was als solches von anderen Wissenschaftlern als Wissenschaft akzeptiert wird. (Dann kann es immer noch saubere oder schlampige Wissenschaft sein.)
Das betrifft vor allem die Publikationsweise: was ein Wissenschaftler oder Geisteswissenschaftler einem am Stammtisch sagt, in einem Telefongespräch, in der Straßenbahn, in einer Talkshow – das ist wenig zitierwürdig, das mag der so dahin gesagt haben, das war eine private Äußerung, für die sich der Wissenschaftler in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wenig verantworten muss und die wenig beachtet werden muss. Dafür bürgt er nicht mit seinem Namen. Das geschieht erst bei der Veröffentlich einer Meinung in einem anerkannten Magazin. Dann darf der Kollege davon ausgehen, dass die Gedanken darin überlegt sind, dass der Wissenschaftler sie mit seinem guten Namen unterschreibt, dass er das genau so sagen wollte, und dass er dafür Achtung oder Spott verdient.
Ein Blog-Eintrag (und Kommentar) wird dagegen noch als private Äußerung gesehen. Da mögen nette Gedanken drin sein, aber der Eintrag ist ähnlich extemporiert wie ein mündliches Gespräch und ähnlich wenig belastbar. Wenn es dem Wissenschaftler wichtig ist, so der Gedanke, wird er es zusammenschreiben, die Tippfehler entfernen und richtig veröffentlichen. Statt das nur so nebenhin zu sagen – wenn auch extrem öffentlich im WWW. Für Kommentare gilt das gleiche. Wer einen Überblick über die Wissenschaft haben will, muss eine Handvoll angesagter Zeitschriften lesen – die Blogs und Kommentare per RSS zu abonnieren, wäre ein bisschen viel.
Ich denke, das ist die gegenwärtige Situation. Aber die kann sich natürlich ändern. Ob sie das wird, kann ich nicht beurteilen. Viel öffentlicher als Blog geht ja eigentlich gar nicht. Ist nach dem Bürgerjournalisten jetzt der Bürgerwissenschaftler dran?
Falls jemand die zeit hat, die frage praxis vs. „wissenschaft“ ausführlich erörtert zu sehen, teilweise mit denselben diskutanten, wie jetzt im öffentlichen trouble, kann sich das anschauen:
http://wissenschaftler20.mixxt.de/networks/forum/thread.15277
Wunderbar Herr Larbig! Gelungene (Weiter-)Denkarbeit der vielen Kommentatoren. Wissenschaft ist was Wissen schafft! In diesem Sinne, lasst uns Wissen schaffen. Und das mit Emperie, Analysen und neuen Methoden und Instrumenten!
Hat Rolf Schulmeister wirklich „Ich-AG’s“ geschrieben? Also einen Apostroph (den es so noch nicht mal in der deutschen Sprache gibt) wo er einen Plural bilden wollte?
Ehrlich? Ich meine, ehrlich? Wenn bei Media Markt „CD’s“ angeboten werden kann ich das noch verstehen. Aber von einer studierten Person, die auch noch wissenschaftliche Texte verfasst, kann man ein Basiswissen in Grammatik und Rechtschreibung verlangen. Was soll diese Apostrophkrankheit?
@yetused Die Quelle ist in meinem Beitrag angegeben. Dort wird ersichtlich, dass die „Ich-AG’s“ in einem Zitat vorkommen, das Rolf Schulmeister anführt. Die Frage, ob Rolf Schulmeister „Ich-AG’s” schreibt, kann somit verneint werden.