„Das kann jeder sehen, wie er will“
Im Zweifel zieht man sich einfach auf die Position zurück, dass es verschiedene Menschen gibt, die unterschiedlicher Ansicht sind – und natürlich ist jede dieser Ansichten zu akzeptieren.
Dies ist eine gar nicht sonderlich überzeichnete Tendenz, die mir im Rahmen von Meinungsäußerungen in allen höheren Jahrgangsstufen am Gymnasium begegnet: Pluralität wird zum Argument, das begründen soll, warum man sich zum Beispiel der eigenen wirklichen Interpretation eines Textes und einer persönlichen Stellungnahme – inklusive nachvollziehbarer Begründung – zu einem Sachverhalt (einem Text, einem Diskussionsgegenstand im Unterricht) verweigert.
Je häufiger ich solche „Interpretationen“ lese, die die „Interpretation“ letztlich verweigern, um so irritierter bin ich. Was passiert hier gerade?
Und wäre es nur bei Interpretationen so! Zunehmend beobachte ich die Tendenz des Meinungsagnostizimus auch in diskursiven Meinungsbildungsprozessen in (Lern)Gruppen: Irgendwann kommt fast immer die Aussage, dass da ja jeder seine eigene Meinung habe und man das deshalb nicht so festlegen könne. Verbirgt sich dahinter ein echter Respekt vor der Unterschiedlichkeit von Menschen oder soll ich das Phänomen als zunehmende Verweigerung von begründeten Stellungnahmen deuten, die letztlich auch immer angreifbar machen?
Meine erste Deutung des Phänomens läuft darauf hinaus, dass sich in diesem Phänomen eine große Orientierungslosigkeit ausdrückt, die sich in der Verweigerung des Streits mit Argumenten ausdrückt. Wenn angenommen wird, dass in jedem Entscheidungszusammenhang jede Meinung in gleichem Maße Geltung beanspruchen könne, dann ist dies das Ende des an Kritierien und Begründungen orientierten Streits um eine Sache, dann ist dies das Ende jeglicher Sachlogik, da ja jeder seine eigene Meinung haben kann. Dabei wird unter Meinung meists etwas verstanden, das zwar geäußert, aber nicht (immer) begründet werden kann.
Ein weiterer Deutungsversuch des Phänomens geht in die Richtung, dass sich auf diese Weise eine Verweigerung gegen eine wirklich Auseinandersetzung mit der Sache ausdrückt. Steht hinter der Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen womöglich pure Faulheit, nach Argumenten und Kritierien zu suchen, die wirkliche Entscheidungen möglich machen?
Mir kommt fast täglich der Titel eines Buches von Paulus Terwitte in den Kopf: „Das Leben findet heute statt. Ein Anschlag auf die Vertröstungsgesellschaft”. Verweigern wir uns der diskursiven Auseinandersetzung, weil wir nicht mehr bereit sind, Entscheidungen für das Heute zu treffen, auch wenn wir sie übermorgen vielleicht anders treffen würden, weil uns Argumente zur Ausdifferenzierung unserer Position gebracht haben?
Was aber passiert, wenn sich immer mehr Menschen einer begründeten Positionierung verweigern?
Um auf eine solche Frage eine Antwort zu finden, habe ich mir angewöhnt, nach dem Nutzen zu fragen, den jemand aus seinem Verhalten ziehen könnte.
Welchen persönlichen Nutzen hat also ein Mensch, der sich einer klaren Positionierung verweigert?
Klar: Er muss sich nicht festlegen und muss somit auch keine Verantwortung für seine Meinung und das sich daraus ergebende Handeln übernehmen. Das Problem dabei ist nur, dass eine Gesellschaft der Gleichgültigkeit handlungsunfähig wird, weil letztlich alle Werte und Normen als relativ und somit als nicht mehr handlungsleitend angesehen werden.
Andererseits besteht der Nutzen des Meinungsrelativismus’ für jede Person darin, dass das Individuum nicht mehr für seine Position und das sich aus ihr ergebende Handeln zur Verantwortung gezogen werden kann. Dann aber wäre diese Entwicklung ein Ausdruck der Angst, dass die eigene Positionierung gegenüber ja nach wie vor in gesellschaftlichen Gruppen vorhandenen Überzeugungen unerwünschte Konsequenzen haben könnte. Doch dies wäre nicht mehr Ausdruck einer hohen Form der Toleranz, sondern vielmehr der Angst! Präventiv würde dann eine Meinungsäußerung vermieden, weil man aus einem solchen Verhalten den Nutzen zöge, immer auf der „sicheren“ Seite zu stehen.
Sowohl die Gedanken der Aufklärung als auch die freie Meinungsäußerung kämen somit in Gefahr, an Bedeutung zu verlieren: Die Aufklärung, weil nicht mehr das bessere Argument zählt, sondern alleine die persönliche Überzeugung; die freie Meinungsäußerung, weil Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen diese letztlich ins Leere laufen lässt.
Die letzte Konsequenz wäre dann die Gleichgültigkeit gegenüber Radikalismen und Fundamentalismen, so wenig diese auch rational nachvollziehbare Argumente für ihre Positionen vorbringen können. Mit der Tendenz zur Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen wäre dann aber auch die Infragestellung von Werten und rational nachvollziehbaren Argumenten verbunden.
Dies ist der Hauptgrund, warum ich die von mir beobachtete Tendenz bei Jugendlichen mit Sorge sehe. Wer keine Meinung mehr hat und diese argumentativ in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen vermag, verliert seine Entscheidungsfähigkeit und wird zum Opfer derer, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Meinung durchsetzen wollen.
Diese Thema beschäftigt mich schon seit einiger Zeit. Da gibt es auch eine Podcastfolge zu, die ich fast vergessen hatte. Danke an @otacke, der mich an sie erinnerte, sodass ich sie hier einbette:
Is(s) halt meine Meinung.
Oliver, danke für die Erinnerung. Habe diese Podcastfolge nachträglich noch angefügt, in der tatsächlich sogar manche Formulierungen sehr ähnlich sind.
Ich bin einem ähnlichen Phänomen zuerst im Ausland begegnet, als ich in er Europäischen Schule Culham in Großbritannien einen Text über Verhältnisse in Westberlin behandeln ließ.
Die SchülerInnen hatten alles gut gemacht, nur keine eigene Meinung geäußert. Auf meine Nachfrage dazu fragten sie mich: „Kann man dazu denn eine Meinung haben?“
Das war die Situation von Jugendlichen, die weder in die deutsche noch in die britische Gesellschaft eingebettet waren.
Das von dir beschriebene Phänomen habe ich zunächst als im Sinne Enzensbergers gedeutet, der sich weigerte, eine Interpretation seiner Texte zu geben, weil jeder sie für sich interpretieren müsse: „Es gibt nicht die richtige Interpretation.“
Dann habe ich deine Erfahrung sammeln müssen.
Ohne dass ich weiß, ob ich jeden deiner Sätze unterschreiben könnte, möchte ich dir zustimmen und kurzgefasst sagen: Es ist falsch verstandener Liberalismus und mehr oder weniger absichtliche Verantwortungsverweigerung.
Weil mich das, worüber hier geredet wird, nicht ganz persönlich betrifft, will ich dazu keine starke Meinung haben, denn dann müsste ich mich ja mit den Argumenten des anderen auseinandersetzen.
„Eine eigene Meinung können Sie sich im Augenblick gar nicht leisten“
Ich glaube es ist einfach Angst etwas „falsches“ zu Sagen oder damit jemanden zu beleidigen. Auch die Gefahr seine Meinung später auch noch begründen zu müssen. Vielleicht ist es auch Faulheit – man muss eben nicht mehr über den Sachverhalt nachdenken und sich auch keine Begründung dazu überlegen.
Du schreibst: „Wer keine Meinung mehr hat und diese argumentativ in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen vermag, verliert seine Entscheidungsfähigkeit und wird zum Opfer derer, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eine Meinung durchsetzen wollen.“
Ich denke, die Schüler sind durchaus im Besitz einer eigenen Meinung, jedoch fehlt ihnen das Handwerkszeug, diese adäquat zu vertreten. Damit einher geht der fast vollständige Verlust der Einsicht oder schlichtweg die fehlende Kenntnis des diskursiven Dreisatzes: Argument – Begründung – Schlussfolgerung. Diskutieren wird so natürlich zum Glücksspiel, was aber umso dramatischer wird, je ungnädiger der/die Gegenüber auf Fehler lauern.
Mir stoßen bspw. immer Werbungen auf, die sich der Termini „clever“, „schlau“, „nicht blöd“ oder ähnlich bedienen. Hier wird exemplarisch dargestellt, wie es gesellschaftlich läuft: Man kann tun und lassen, was man möchte, aber clever muss es sein, am besten noch „clevererer“. Ich erlebe es hier fast täglich in den Philosophie-Seminaren der Uni. Kaum einer sagt was, fast alle fürchten sich vor einer potenziell „falschen“ Meinung und der Moment der Einsicht in die „Richtigkeit“ der Aussage des Gegenübers ist eine denkbar große Schande.
Der Relativismus ist also weniger der Gleichgültigkeit, sondern mehr einer intellektuellen Versangensangst geschuldet. Vollkommen irrational. Das haben Ängste aber so an sich. Leider.
Ähnliches beobachte ich auch im Geschichtsunterricht. Die beschriebene völlige Offenheit, Gleichberechtigung und Individualisierung von Standpunkten wird als Denkfigur auch auf das Verständnis von historischen Zusammenhängen angewendet.
Mehreren Schülergruppen der 10./11. und 12. Klasse habe ich zwei Abbildungen des Hambacher Fests (http://de.wikipedia.org/wiki/Hambacher_Fest#Zug_zum_Hambacher_Schloss) vorgelegt. Die eine Abbildung zeigt (historisch korrekt) eine Vielfalt verschiedener Fahnen, die andere nur schwarz-rot-goldene. Zur Auflösung dieses Widerspruchs, Darstellung des gleichen Ereignisses in sehr unterschiedlicher Weise, kamen alle Gruppen zur selben Schlussfolgerung:
Es handele sich um zwei verschiedene Künstler und der Unterschied in der Darstellung resultiere aus zwei verschiedenen Einstellungen zum Ereignis bzw. einer anderen Aussageabsicht. Die Diskussionen mündeten also z.B. nicht in die mögliche weiterführende Frage, ob es zum Vergleich andere Quellen gibt, die die eine oder andere Darstellung stützen könnten, sondern in das vergleichsweise einfache Erklärungsmodell gleichberechtigt nebeneinander stehender „Meinungen“.
ich denke auch, dass die SuS eine eigene Meinung haben – die wird in der Schule aber oft als Vorurteil oder „falsche“ Meinung am Anfang eines Unterrichtsthemas zurückgewiesen (wenn sie denn überhaupt abgefragt wird). Und dann „lernen“ die Schüler im laufe des Unterrichts 1. dass der Lehrer seine Meinung auch nicht zeigt (vielleicht selbst keine hat?) und 2. dass das Thema so komplex ist, dass man lieber keine Meinung mehr äußert. Diese Haltung ist durch die Haltung des lehrers und den Unterricht vorgegebenes Ergebnis! Wenn man dann trotzdem eine fein argumentativ gestützte „Eigene Meinung“ des Schülers verlangt, kommt das einem double bind nahe – manchmal ist es das tatsächlich.
Jetzt haben wir den schwarzen Peter nämlich wieder den Schülern zugeschoben. Sie sind (in ihrem Schulverhalten) aber immer so, wie wir sie konstruieren (als Schüler). Die LuL haben lange und auch noch heute verbreitet die Haltung, sie dürften ihre eigenen Meinungen, Urteile usw. in Politik- und Geschichtsunterricht nicht im Unterricht äußern. Das ist ein falsch verstandene „Neutralität“, denn sie tut ja so, als gäbe es überhaupt so etwas wie Neutralität bzw. Objektivität. Das führt natürlich zu einer Vorstellung bei den SuS, dass sie diesen Quark nachahmen müssen. (Was denn sonst?) Die sogenannte Zurückhaltung bzw. „neutralität“ in Urteilen und Meinungen des Lehrers stammt aus einer falsch verstandenen Nichtindoktrinierungs-Haltung. Aber der Beutelsbacher Konsens besteht aus 3 Teilen: Überwältigungsverbot (1) (heißt eben nicht, dass der Lehrer sein Urteil nicht geben darf, sondern dass er damit nicht indoktrinieren darf! ), Kontroversitätsgebot (2) – mit seiner Beachtung ist (1) meistens schon gesichert. Und dann: „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,“ (3) Der BK ist von 1976. Viele (auch Politik- und Geschichtslehrer) kennen ihn gar nicht. Die meisten kennen diesen dritten Teil nicht. Er ist sehr wichtig. Heute würde ich vielleicht so formulieren: Die Schüler müssen lernen, ihren persönlichen Sinn zu Gegenständen von Politik, Geschichte und Gesellschaft zu bilden und ihre Interessen zu vertreten. lernen kann man das natürlich nicht, wenn der Lehrer selbst entweder pseudo-objektiv oder relativistisch sich verhält, indem er selbst nicht Stellung bezieht. Wie auch?
mir scheint übrigens, dass Beliebigkeit im Urteil einerseits und Fundamentalismus bzw. apodiktische Haltungen andererseits zwei Seiten einer Medaille sind. Das eine ruft das andere wechselweise als erste Negation hervor. Und so hat herrlarbig ja auch geschlussfolgert – und ich stimme ihm zu: die Beliebigkeit begünstigt den Fundamentalismus. Ich würde noch ergänzen: Beides sind untaugliche Reaktionen auf die Irritationen durch die Globalisierung. G. Rückriem hat dazu klug geschrieben:
„Der Globalisierungsprozess relativiert weltweit die Sinnsysteme und provoziert zugleich deren fundamentalisitische Affirmation.“
Ich finde diese Diskussion sehr spannend und kann vielem zustimmen.
Eine Frage die sich mir stellt ist jene, ob es vielleicht nicht doch einen „Mix“ aus eigener Meinung und einem Sinn für Relativismus braucht. Wenn ich um die Vielfalt weiss, kann ich mir frei von Versagensängsten (Vergleich zu anderen) und frei von der Angst (noch) nicht genügend Argumente zu haben (eigener Entwicklungsstand), meine eigene Meinung bilden.
In anderen Worten liefert mir der Relativismus eine pessimistische wie auch eine optimistische Haltung. Ich kann mich zurückziehen und resignieren, weil ich davon ausgehe, dass ich meine Meinung ’nie‘ vollständig begründen kann und es zu anstrengend wäre immer wieder für up-dates zu sorgen – oder – ich gehe davon aus, dass meine Meinung das ist, wie sie zum jetzigen Zeitpunkt begründet werden kann und nicht mehr. Dieser Aspekt ist dann der Motor weiterzumachen(-denken) weil ich davon ausgehe, dass ich von allem und jedem sowie jederzeit dazu lernen kann und es allein interessant ist, was mich beschäftigt und welchen Dingen ich mit Leidenschaft hinterher gehe.
Damit müsste eine Lehrperson keine Angst haben, dass sie ihre Meinung eventuell weniger begründen kann als ein/e Schüler/in.
Die Schüler/innen müssten keine Angst haben ihre Meinung kund zu tun, da sie ebenfalls davon ausgehen, dass ihre Meinung ein vorübergehender Wissensstandpunkt MIT intuitiven Überzeugungen darstellt. Sie sind im Wissen, dass sie nur insofern für schlechte Argumentationen verantwortlich sind, als sie sich nicht bewusst informierten oder offen für Neues sind.
Ich möchte mich gerne der Meinung anschliessen, dass es oft daran liegt, dass Angst oder Schamgefühle uns davon abhalten, positive Wissbegierde, autodidaktische Fähigkeiten und kreative Interaktionen aufzubauen und auszuschöpfen. Lebensbejahend durch die Welt gehen, unabhängig davon wie „weit“* unser gegenüber ist oder wie mögliche Konsequenzen von Lernprozessen (in unseren Kreisen als Fehler bezeichnet) aussehen mögen, das wäre eine angstfreie Lernumwelt für Lehrer/innen und Schüler/innen.
*Ich denke, dass der soziale Vergleich auch eine grosse Quelle der Motivation darstellt, wenn Angst und Scham nicht überhand nehmen.
Vielleicht ist die Gleichgültigkeit in vielen Fällen aber auch der Tatsache geschuldet, dass bestimmte Gegenstände eben nichts mit der Realität der Schüler zu tun haben. Insbesondere was historische Themen in der Schule betrifft sollte man durchaus auch die Kritik an die Zielvorgaben richten, die eine bestimmte Positionierung vorgeben und einfordern.