Versuch über das Versagen von Bildungspolitik und Schule angesichts der Digitalisierung der Welt

1997 wurde der Verein »Zentrale für Unterrichtsmedien« (ZUM e. V.) gegründet. Lehrer*innen taten sich da zusammen und begannen, zunächst als gemeinsam geführte Linkliste angelegt, eine heute erwachsene Webpräsenz aufzubauen. Damals waren ca. 3% der Bundesbürger*innen im Internet unterwegs. 

2019 gibt es immer noch Menschen, die der Meinung sind, die Frage sei so eindeutig nicht geklärt, was und wie viel man an Internet und Digitalisierung in der Schule überhaupt brauche. Ja, es gibt Stimmen, die sich immer wieder aus diversen Ecken erheben, die mahnend darauf hinweisen, dass die ganze Digitalisierung einzig und allein ein ökonomisches Projekt sei. – Dabei wird geflissentlich unterschlagen, dass das Internet keine Erfindung der Wirtschaft war, sondern, mit ersten Wurzeln bei militärischen Überlegungen, im Wesentlichen von und an Universitäten entwickelt wurde und dort im Kontext von Konzepten zur Kommunikation und zum Wissensmanagement angelegt wurde. Und hätten die Schulen rechtzeitig mit der Medienerziehung für einen digitalisierten Kontext begonnen und nicht Jahrzehnte gewartet, dann hätte es vielleicht eine andere Entwicklung genommen, als wir heute im Plattformkapitalismus beobachten können. Hätte man frühzeitig die Konzepte der Offenheit und Zugänglichkeit, die die ersten Jahre des Internets noch bis in die Nuller-Jahre unseres Jahrhunderts dominierten, an Schulen aufgegriffen und die Prozesse der Kommerzialisierung reflektiert – wer weiß, ob sich die Menschen nicht die Augen gerieben hätten angesichts der Ansprüche, die erste Kommunikationsplattformen wie studivz erhoben. Das war die Zeit, in der man noch Blog schrieb und sich zwischen den Bloggern vernetzte, ganz ohne Twitter, Facebook-Gruppen etc. 

Diese Zeit wird ausgeblendet, wenn man auf heutige Zustände im Netz blickt und diese dann auf Bildungskontexte bezieht, deren Bedeutung vor allem im Kontext von Arbeitsmärkten gesehen werden. Aber unsere Zukunft hängt eben nicht nur von ökonomischen Fragen ab und es ist nach wie vor nicht die primäre Aufgabe von Schule, Wünsche von Arbeitgebern zu befriedigen. Im Gegenteil: Schule hat – zumindest in einer Demokratie – den Auftrag, junge Menschen auf dem Weg hin zu mündigen Bürger*innen zu begleiten, die mündig und kritisch Medien betrachten, aber auch diese nutzen können. 

Doch oft wird die Diskussion verkürzt. Da werden Szenarien konstruiert, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Es wird behauptet, man wolle Kinder ab der ersten Klasse nur noch mit Rechnern lernen lassen, es solle nur noch mit Tablets gearbeitet werden und die wirklichen Erfahrungen nicht mehr vorkommen; – gerne wird der Besuch im Wald oder im Bauernhof als zu digitalen Medien in Opposition stehend angeführt. Es werden Szenarien entwickelt, in denen die Geste des Wischens als zentrales Element digitaler Bildung behauptet wird. Und schließlich wird angenommen, dass Schüler*innen zu einem eigenständigen Arbeiten erzogen werden sollen, bei dem Quellenkritik keine Rolle mehr spiele und quasi Gleichwertigkeit aller Informationen im Netz unterstellt werde. 

Während all diese Diskussionen geführt wurden, haben plattformkapitalistische Strukturen das Internet an vielen Stellen übernommen. Und statt nun kritisch die eigenen Versäumnisse der vergangenen 30 bis 40 Jahre bezüglich Medienbildung endlich zu reflektieren, gibt es im Kontext von Schule und Bildung  immer noch Diskussionen, ob WLan an Schulen nötig bzw. sinnvoll sei. – Das ist so, als ob alle Schüler längst batteriebetriebene Taschenlampen haben und in den Schulen noch diskutiert wird, ob Strom an den Schulen etwas zum Lernerfolg beitragen könne und welche Konzepte denn nötig seien, um Strom für das Lernen sinnvoll einzusetzen. 

Schule als Institution hat bei der Heranbildung mündiger Bürger*innen im digitalen Zeitalter bis heute ihre Rolle nicht nur nicht ernst- oder gar eingenommen, sie hat an vielen Stellen noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie diese Rolle aussehen könnte. Schulen haben an der heute im Internet anzutreffenden Unfähigkeit zu einer einer Demokratie würdigen Diskussionskultur mittels digitaler Kanäle mindestens eine Mitschuld. Und für diese sind Schulen andererseits dann aber auch nur in geringem Maße verantwortlich, denn die wesentlichen Blindheit für die Entwicklungen und der Notwendigkeit, der digitalen Kompetenzenvermittlung an Schulen Raum und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, ist dann doch in der Kultuspolitk der diversen Länder der vergangenen Jahrzehnte zu suchen. Bis heute scheint man sich von der Pleite der Sprachlabore in den 1970er Jahren nicht erholt zu haben. Zumindest werden diese bis heute argumentativ hervorgezaubert, wenn es um Digitalisierung geht. Aber weder waren Sprachlabore etwas, das man in Kaffees, Hotels, S-Bahnen und Zügen antraf, wie das mit WLan der Fall ist, noch hatten Menschen Sprachlabore zuhause oder in den Hosentaschen, wie das bei den digitalen Medien der Fall ist. 

Statt den notwendigen Beitrag zur Kritik und zum kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu leisten – und Lehrkräfte für die Leistung dieses Beitrages auch kompetent zu machen – hat man Grundsatzdiskussionen geführt, die so klingen, als habe manch ein Mensch regelrecht gehofft, dass das Internet irgendwie wieder weg gehe, die Digitalisierung kollabiere und man mit Handschrift und Büchern auf der Höhe der Zeit wäre. 

Aber nein. Studierende stoßen auf Datenbanken, auf Open Access Dokumente, auf die Forderung, Textdokumente Kriterien entsprechend zu formatieren; Auszubildende stoßen auf digitale Werkzeuge, die die Arbeit z. B. und nicht nur in Handwerksberufen verändern. – Und dabei haben viele junge Erwachsene nach wie vor nicht einmal eine Ahnung davon, was Formatvorlagen in Textverarbeitungsprogrammen sind und welche Funktion sie z. B. bei der Erstellung eines Inhaltsverzeichnisses oder eines Index spielen. Zugleich haben Lehrer*innen, übrigens weitgehend altersunabhängig, von diesen Dingen auch keine Ahnung. – Dafür können sie einerseits individuell nur bedingt etwas. Das muss hier betont werden.

Allerdings ist andererseits die Bereitschaft, sich so mit der Digitalisierung zu befassen, dass diese auf einem professionellen Niveau reflektiert wird, das eher auf Fachbeiträge denn auf populärwissenschaftliche Bestseller zurückgreift, auch nicht bei vielen Lehrer*innen ausgeprägt. So bekomme ich immer wieder Spitzer, Hüther und seit einigen Monaten Jürgen Kaube als Referenzen angeführt, aber selten Beat Doebeli Honneggers „Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt“, oder „Medienbildung in Schule und Unterricht.“ von Tulodziecki, Herzig, Grafe, um einfach einmal zwei einschlägige und durchaus auch im Rahmen der Herausforderungen der Berufspraxis von Lehrer*innen lesbare Werke zu nennen.  

Lehrer*innen kennen selten Michael Kerres‘ Forschung oder die Arbeiten von Stefan Aufenanger; selbst das von der Kultusministerkonferenz herausgegebene Dokument „Medienbildung in der digitalen Welt“ kennen manche Lehrer*innen nicht und schon gar nicht den Satz: „Alle Lehrkräfte müssen selbst über allgemeine Medienkompetenz verfügen und in ihren fachlichen Zuständigkeiten zugleich Medienexperten‘ werden.“ (S. 24f – Hervorhebung @herrlarbig) 

Statt dessen zitieren viele Spitzer, Hüther, Kaube und sonstige Autoren (Autorinnen?) aus dem Bereich der populär- bis vulgärwissenschftlichen Beschäftigung mit Themen der Didaktik und Methodik im Kontext von Schule in der digitalen Welt, als ob sie nie einen akademischen Studiengang durchlaufen und dort mit den Kriterien vertraut gemacht worden wären, die wissenschaftliche Genese und Geltungsansprüche von Erkenntnissen ausmachen. 

Seltsamerweise ist die Zeit für die Lektüre solcher populären / vulgären Werke vorhanden; doch Zeit für die Recherche und Lektüre ernstzunehmender allgemeiner und fachbezogener Didaktiken, die die Möglichkeiten und Grenzen des Digitalen für den Unterricht ausloten, wird erstaunlich häufig als nicht verfügbar behauptet. 

Diese Situation ist ärgerlich. – In den 1980er Jahren hatte ich Erstkontakt zum Commodore C64 – und zwar mit Modem, in das man damals noch einen Telefonhörer legte –; ich fand es faszinierend, das BTX-Terminal zu nutzen, das im Bahnhof meiner Geburtsstadt zu finden war, und mit dem man z. B. Zugverbindungen finden konnte. Ebenso in den mittleren 1980er Jahren erlebte ich, wie auf einem Macintosh II Satelliten-Bilder sich zusammensetzten, die wir mit einer Antenne auf dem Dach der Schule direkt von einem Meteosat-Satelliten empfingen. 1994 bekam ich als studentische Hilfskraft meinen ersten E-Mail-Account an der Uni Frankfurt, ich begann mit Literaturdatenbanken zu arbeiten – also Wissen zu verwalten, zu managen, für die Lehre und Forschung aufzubereiten, 1995 begann ich im www zu surfen, 1999 hatten wir WLan am Fachbereich katholische Theologie. – Und 2019 sind wir glücklich, dass wir endlich offenes WLan an unserer Schule bekommen haben, wenn auch der Vollausbau noch zwei weitere Jahre dauern soll. 

Dass ich mit diesen Voraussetzungen sehr schnell sehr still werde, wenn unter Lehrer*innen oder im Kontext Schule wieder einmal die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Digitalen im Bildungskontext auftaucht, ist vielleicht nachvollziehbar, weil ich diese Diskussionen nicht nur nicht mehr verstehe – sondern ihrer müde bin. 

Ich bin es müde, mit der Vorstellung konfrontiert zu werden, das Digitale sei Neuland. Wie lange muss es denn existieren, bis es das nicht mehr ist? Würde heute noch jemand das Smartphone als Neuland bezeichnen, obwohl dieses jünger ist als das Digitale und sogar jünger als das Internet, das vom Smartphone selbst noch einmal sehr verändert wurde?

Ich bin es leid, von Lehrer*innen und Vertreter*innen der Bildungsadministration als Exot angeschaut zu werden, der als Lehrer nicht nur eine eigene Website hat, sondern auch noch in digitalen Netzwerken aktiv ist, in denen sogar Schüler*innen mitlesen können, dass ich da auf einer Tagung bin, mich dort fortbilde und dieses oder jenes Foto gemacht habe. 

Aber diese persönlichen Frustrationen sind gar nicht das Wesentliche. Viel mehr frustriert mich, dass wir in Sachen Medienerziehung, im Kontext der Kommunikation in der digitalen Welt, angesichts der Seuche von Fake-News, (anonymen) Beleidigungen,  (anonymen) Aggressionen etc. so wenig zu leisten in der Lage (und teilweise womöglich auch bereit) sind. 

Angesichts des mittlerweile über Jahrzehnte andauernden Versagens der Bildungsinstitutionen, im Rahmen der formalen Bildung, einen angemessenen Umgang mit der Digitalisierung auf Basis professionellen Verstehens der Digitalisierung für den Bildungskontext zu entwickeln und zu leben, verlieren die öffentlichen Bildungsinstitutionen schleichend an Wert für die zentralen Aufgaben, die sie eigentlich erfüllen sollten. 

Parallel dazu blüht ein Populismus in der Politik, der funktioniert, als ob Schulen nie versucht hätten, Quellenkritik und angemessene Skepsis gegenüber starken Aussagen zu lehren. Das immer stärker erkennbare Versagen formaler Bildungsinstitutionen bei der Etablierung von Fans der Demokratie, hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker gezeigt. Übertriebene politische Korrektheit verbunden mit dem Wegbrechen einer nicht populistischen Debattenkultur sollte eigentlich nicht möglich sein, wenn Schulen Menschen zu mündigen Bürger*innen erziehen. 

Entsprechend müssen wir (die Lehrer*innen, nicht nur mit Blogs, auf Twitter, Facebook und Co,) uns fragen lassen, ob im Bildungsdiskurs nicht Gefechte dominieren, die mit der Wirklichkeit in Zeiten des an Boden gewinnenden Populismus wenig zu tun haben. Wir müssen uns fragen und fragen lassen, ob die Skepsis gegenüber dem Digitalen, die nach wie vor nur von einer Minderheit der Lehrer*innen nicht geteilt zu werden  scheint, nicht mehr Schaden in Bildungsbiographien und an der Demokratie verursacht, als dass sie zur Bildung von Demokraten beiträgt.  – Und es ist wichtig zu betonen, dass ich diese Fragen nicht als rhetorische Fragen stelle, sondern wirklich als Fragen ernst meine.