Wie fossiles Harz: Das Wort des Jahres
Als »›verbale Leitfossilien‹ eines Jahres« bezeichnet die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden das von ihr seit 1972 ausgewählte »Wort des Jahres«. Ein Wort, das etwas von der Atmosphäre und den zentralen Themen eines Jahres in sich birgt, wie Bernstein, der ein Insekt umschlossen und konserviert hat.
Wörter, die wie fossiles Harz das Lebensgefühl eines Jahres in sich tragen. – Mir gefällt dieses Bild, weil die Liste, der Wörter eines Jahres, die seit 1971, regelmäßig seit 1977, zwischen sechs und zehn Wörter pro Jahr versammelt, mir tatsächlich Bilder und Gefühle aus diesen Zeiten wieder lebendig und erinnerbar werden lässt.
So stehen bereits 1971 die Wörter »Umweltschutz« und »Umweltverschmutzung« auf der ersten Liste mit den Wörtern des Jahres, 1977 wird der »Lauschangriff« genannt, 1978 taucht »die Schlümpfe« auf und weckt das Bild von »Vater Abraham« bei der ZDF-Hitparade. 1980 ist das Wort des Jahres »Rasterfahndung«, ein nahezu mickrig anmutendes Verfahren gegenüber der heute vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelten »Vorratsdatenspeicherung«.
1982 wurde sowohl von der »Ellenbogengesellschaft« gesprochen, wie auch von der »Neuen deutschen Welle« und es gab damals eine »Wende«. 1983, ich erinnere mich noch gut an die ständigen Nachrichten vom sauren Regen, steht dann »Waldsterben« auf Platz 4, ein Wort, mit heute kaum noch ein Jugendlicher etwas anfangen können dürfte.
1985 wurde das Wort »High-Tech« prominent, das Wort Glykol erinnert an eine Weinskandal enormen Ausmaßes, D1 steht damals noch für eine Weltraummission, und zum ersten Mal steht Aids auf der Liste!
1986 war es nicht schwer zu erraten, welches Wort zum Wort des Jahres werden würde: »Tschernobyl«. Ein gruseliges Jahr, das da am 26. April 1986 begann: Man trank keine Milch mehr, Sandgruben waren verstrahlt, so dass wir uns im Sportunterricht weigerten, Weitsprung zu machen.
1987 taucht zum ersten Mal ein Wort zum zweiten Mal in der Liste auf, dieses Mal auf Platz 1: Aids (zusammen mit Kondom). Langsam zeichnete sich das Ausmaß der Verbreitung der HI-Viren ab und ein Wort, das bis dahin kaum jemand auszusprechen vermochte, ohne Rot zu werden, wird durch gezielte Werbung gesellschaftsfähig gemacht.
Gesellschaftsfähig wurde damals auch der erste Schritt zur Lockerung des Ladenschlusses: Es wurde der »Dienstleistungsabend« eingeführt, an dem Geschäfte bis 20 Uhr öffnen durften. Und dazwischen stehen die Wörter »Molkepulver«, es handelte sich um verstrahltes Molkepulver in Folge von Tschernobyl, und »Ozonloch« (sic!) – 2007 hatte sich dieses Wort bereits zur »Klimakatastrophe« gewandelt und wurde Wort des Jahres.
Und so geht es weiter: Über den Zusammenbruch der DDR und der sozialistischen Staatsform im Osten Europas, den ersten Irakkrieg 1991 (»Kein Blut für Öl«) und dem Aufweichen des Tabus von Auslandseinsätzen der Bundeswehr (»Blauhelmeinsatz«) – im gleichen Jahr stehen aber auch die Worte »Fremdenhass« und »Rassismus« auf der Liste –, über »Multimedia« (1995 – Netscape bringt den Webbrowser auf den Markt) und »Bildungsmisere« (1997 – Pisa-Schock folgt dann 2002) bis hin zu »Viagra«, dass 11 Jahre nach »Aids« auf der Liste auftaucht.
»SMS« taucht 2000 auf, aber auch »Schwarzgeldaffäre« und dem damit zusammenhängenden »brutalstmöglich«.
Wir kommen immer näher an die Gegenwart und die Bilder werden schärfer, teilweise ein leises Erschrecken, dass bestimmte Ereignisse schon so lange her sind. Und so kommt dann das Jahr 2001, nach 1986 mit Tschernobyl wohl das schrecklichste Jahr, das ich bislang in Bezug auf die Zeitläufte bislang erlebt habe: »der 11. September« wird Wort des Jahres.
Von da an stehen mir die Jahre so klar vor Augen, dass ich nicht mehr groß überlegen muss, welche Erfahrungen sich in den einzelnen Wörtern festgehalten worden sind. – 2008 wurde nun also die »Finanzkrise« zum Wort des Jahres gewählt, der »Datenklau« liegt auf Platz 3 und plötzlich ist von einem »Bildungsfrühling« die Rede (Platz 9) gefolgt von »Yes, we can« (Platz 10)
Wörter, die zu Erinnerungsworten werden, die in kürzester Form Ereignisse, Gefühlslagen und die ganze Welt betreffende Ereignisse in sich tragen, die wie Bernstein Insekten die in den Jahren umherschwirrenden Themen auf den Punkt bringen – das ist in den vergangenen 37 Jahren aus dem Wort des Jahres geworden.
Neben dem Rückblick, zu dem diese Wörter einladen, fasziniert mich, wie einzelne Wörter ganze Erinnerungsgebäude beinhalten können, als Ausgangspunkte ausführlicher Erzählströme dienen können, zumindest, wenn sie mit intensiven Gefühlen verbunden werden bzw. durch ihre Präsenz tiefe Spuren im Gedächtnis hinterlassen haben, die alleine durch das Lesen der Wörter wieder aktiviert werden.
Und so bin ich über das Wort des Jahres plötzlich beim Lernen. – Ohne große Anstrengung kann ich aus den meisten dieser Wörter größere Sinnzusammenhänge reproduzieren. Die Wörter des Jahres – und das macht für mich ihren Wert aus – sind für mich eine Art Leitfaden, an dem entlang ich große Teile der jüngsten Zeitgeschichte rekonstruieren kann. Und für solche komplexen Zusammenhänge reichen diese paar Wörter aus!
Vielleicht mag ich deshalb Wortsammlungen so sehr, wie sie in Mindmaps oder mit Hilfe anderer Methoden zur Vernetzung von Begriffen eingesetzt werden. Vielleicht mag ich deshalb die nicht hierarchisch aufgebauten Wissenverknüpfungen, wie sie digitale Technologien über Kategorisierung und Verschlagwortung (Tags) ermöglichen.
Worte sind neben Bildern für die Erinnerung des Menschen (und sich erinnern ist nichts anderes, als sich etwas Gelerntes vergegenwärtigen zu können – mit dem Einschlag der subjektiven Wahrnehmung) von zentraler Bedeutung. Die verantwortete und qualifizierte Erstellung von Wortlisten, wie sie von der Gesellschaft für deutsche Sprache geleistet wird, ist ein wichtiger Beitrag für die konkreten Erinnerungen und die grundsätzliche Erinnerungsfähigkeit – nicht nur des Einzelnen, sondern einer ganzen Gesellschaft.