Franz Kafka: Kleine Fabel
Franz Kafka war ein Meister der kleinen Form. Hier seine „Kleine Fabel“ zum anhören, gelesen von Torsten Larbig.
[podcast]http://herrlarbig.de/podcasts/Franz Kafka_ Kleine Fabel.mp3[/podcast]
(Als MP3 ohne Flashplayer)
Franz Kafka
Kleine Fabel
»Ach«, sagte die Maus, »,die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
33 Sekunden ist die oben eingefügte Lesung dieses Textes lang: Franz Kafka braucht nicht mehr Raum, um eine Fabel zu schreiben, in der scheinbar eine ganze Lebensphilosophie enthalten ist. Er verstand es offenbar, auf den Punkt zu kommen.
Die Botschaft scheint trist. Am Anfang des Lebens sieht die Welt weit und grenzenlos aus. Alle Wege scheinen offen und manchmal wünschte sich die Maus in der Fabel, dass es „Leitplanken“ gäbe. Hier sind es die Mauern, hinter denen vielleicht ein anderes Leben stattfindet, die aber keinen Blick auf dieses erlauben. Die Maus läuft zwischen diesen Mauern. Sie werden enger und enger und am Ende steht die Falle und bei der Falle wartet die Katze, um die Maus zu belehren und dann zu fressen.
Die Katze scheint zu wissen, dass die Maus diesen Weg zwischen den auf die Falle zulaufenden Mauern nehmen wird. Kann sie überhaupt anders? Kafka lässt die Frage offen. Diese kleine Fabel wirkt, als werde hier ein unweigerlich eintretendes Schicksal beschrieben. Am Ende, dort, wo die Einsicht wachsen könnte, dass die Laufrichtung zu ändern sei, steht gleichzeitig die Unmöglichkeit den gegangenen Weg rückgängig zu machen.
Ein pessimistisches Bild des Lebens wird hier gezeichnet. Fast wirkt der Text wie eine Skizze. Eine Maus im Selbstgespräch mit sich selbst – oder erzählt sie ihre Lebenserfahrung der Katze als einzigem Gegenüber, das sich gerade anbietet? Kafka lässt diese Frage offen. Und dennoch spricht die Maus. Die Antwort der Katze ist kurz, knapp: Warum läufst du denn in diese Richtung? Du kannst dich doch entscheiden, in die andere Richtung zu laufen. – Doch genau diese Möglichkeit verhindert die Katze: Sie frisst die Maus kurzerhand.
Zurück bleibt der Leser oder die Leserin dieser kurzen Geschichte. Traditionelle Fabeln wollen eine Lehre vermitteln, die in die Gestalt des „sozialen Miteinanders“ von Tieren und derem „natürlichen Verhalten“ gebracht wird. Welche Lehre also steckt in dieser kleinen Fabel?
Leser und Leserinnen zu unterschiedlichen Zeiten werden diese Lehre aus ihrer Zeit heraus ziehen. Kafka gibt hier also die Deutungshoheit an die seine Fabel Lesenden weiter. Und mir als Leser fallen viele Dinge ein, auf die ich diese Fabel anwenden könnte. Hier sei nur eine kleine Auswahl genannt:
- Das Leben scheint in der Jugend oft beängstigend offen. Auf der Suche nach Orientierung werden Entscheidungen getroffen, die den gesamten weiteren Lebensweg bestimmen. Menschen begeben sich zwischen Mauern. Ihre Entscheidungen schließen andere Lebenswege aus. Und Kafka scheint der Meinung zu sein, dass die Einsicht, ob der Weg der richtige war oder nicht, erst dort fällt, wo der Weg an ein Ende oder an eine Grenze kommt. Doch dort, wo eine Umkehr vielleicht noch möglich ist, lauert die Katze, die nichts anders tut, als ihr eigen ist: Sie frisst die Maus und verhindert so die Umkehr, die Umsetzung der Einsicht.
- In der Gegenwart kommt es mir so vor, als sei die Maus durchaus mit dem Begehren nach Sicherheit zu verbinden. Die Freiheit macht der Maus Angst. Sie ist glücklich, dass da Grenzen am Horizont auftauchen. Zu spät entdeckt sie, dass am Ende dieses Weges eine Falle steht, in die sie unweigerlich gerät, wenn sie nicht vorher von einer Katze gefressen wird. – Wenn Freiheit für Sicherheit aufgegeben wird, scheint für Kafka dieses Schicksal unvermeidlich.
Gefällt mir gut, sowohl die Lesung als auch die folgende Analyse.
Mir scheint es manchmal, als sei der Satz der Katze ein Gag, eine absichtliche Irreführung – wenn die Katze für den Tod steht und die Laufrichtung für die im uns bekannten Universum übliche Abfolge im Raum-Zeit-Kontinuum (man kann nur in der Zeit vorwärts leben, nicht rückwärts – und seitwärts erst recht nicht), dann ist hier auch keine Katastrophe beschrieben, sondern der normale Ablauf des menschlichen (mäuslichen) Lebens: Man wird geboren, man lebt, im Laufe des Lebens entstehen immer komplexere Strukturen aus sozialen, finanziellen usw. Gegebenheiten, und am Ende stirbt man.
Scheinbar traurig wird die Geschichte nur durch den Satz der Katze – den sie selbst als „Witz“ zu verstehen scheint.
die eigenen Ängste und gesellschaftliche Einschränkungen des Systems führt am Ende dazu, daß dich etwas vorher schon einholt und auffrisst..
Ein Zeitgenosse hat erklärt, nie einen traurigeren Menschen kennengelernt zu haben als Kafka. Seine Botschaft ist pessimistisch. Vor allem aber ist sie ungemein deutungsfähig:
Weltgeschichte: Mensch lernt Natur zu beherrschen, schließlich beseitigt er so seine Überlebensmöglichkeit. Aber seine Art der Anpassung an Lebensumstände ist immer Kultur, und unangepasst kann kein Lebewesen überleben.
Einige individuelle Deutungen sind schon genannt. Schnell noch die für Organisationen (einschließlich Staaten): Je besser eine Organisation ihren Zweck erfüllt, desto untauglicher ist sie für die Anpassung an neue Bedingungen, d.h. Organisation schränkt ein, Umkehr führt zu Zusammenbruch (Fressen der Katze).
Freilich lässt sich die Geschichte auch aus der Sicht der Katze deuten.
Der Text ist gut. Chapeau.
Kennt den Text Adorno, der die klaustrophobische Unentrinnbarkeit in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft auf Hunderten von Seiten hämmernd beschrieben hat? Kafka braucht für seine These wenige Zeilen. Ich sehe die Maus als Stellvertreter für alle Tiere, die der Mensch in seinem Hass auf die biodiverse Vielfalt der Welt in immer engere Maschen einzäunt. Ja, die Katze – das ist der Mensch, der am Ende der Nahrungskette lauert.
Wie wäre es mit folgendem Interpretationsansatz: Die Maus repräsentiert ein Denken, das in Dualitäten gefangen ist: Es gibt für sie einerseits eine Welt, in der ein Übermaß an Möglichkeiten vorhanden ist (Offenheit), und andererseits eine Welt der sich zunehmend verringernden Möglichkeiten (Enge). beide Welten sind tendenziell lebensfeindlich; die überfordernde Fülle an Möglichkeiten in der offenen Welt lösen Gefühle von Überflutung und Auflösung, Ungeborgensein und Bindungslosigkeit aus, die enge Welt mit ihren sich zunehmend reduzierendem Angebot von Möglichkeit führt notwendigerweise zu einem Gefühl von Erstarren, zu einem Festgefahrensein – zu dem Gefühl, unentrinnbar in der Falle zu sitzen.
Die Katze repräsentiert ein Denken, das sich von Dualitäten lösen kann: Sie weiß, dass es möglich ist, zwischen beiden Welten zu wechseln und sich so das herauszusuchen, was gerade lebbar ist; man kann jederzeit die Laufrichtung ändern. Nur: Sie hat kein Interesse daran, dies die Maus zu lehren; sie lebt – ernährt ja von denen, die in Dualitäten gefangen sind. Dass sie der Maus, kurz bevor sie sie auffrißt, den Ausweg zeigt, ist typisch für eine Katze – Sie spielt mit ihrem Opfer.
Dass die Mäuse in dieser Parabel / Fabel für uns Menschen stehen, scheind klar. Aber wen repräsentiert wohl die Katze?