Prof. Dr. Martin ist pensioniert und wird noch immer klüger…
Prof. Dr. Jean-Pol Martin war Lehrer und Prof. für Französischdidaktik an der Universität Eichstätt. Ein Experte des Lernens, der „ganz nebenbei“ auch noch die Methode LdL entwickelte – ein kluger Mann, der heute von sich sagt, er werde immer klüger.
Was die einen als völlige Reizüberflutung ansehen und als Unüberschaubarkeit des Internets und damit die Verflachung der Gedanken durch das Internet beklagen ist ihm anregende Aktivierung seines Denkens, wie er in diesem Video erzählt:
Und an anderer Stelle berichtet Martin von der Bedeutung der Informationsbearbeitung als Grundbedürfnis des Menschen:
Das beeindruckt mich, denn Jean-Pol Martin weiß, wovon er spricht und – was fast noch wichtiger ist – hat genügend Erfahrungen mit Lernenden, konkret: mit Schülerinnen und Schülern.
Hier ist einer, der nicht im Verdacht steht, ein digital native zu sein, einer, der es gar nicht nötig hat, ein Medium zu verteidigen, dessen bildende Wirkmächtigkeit er Tag für Tag selbst erlebt.
Und da ist einer, dessen Ideen und Gedanken mir wahrscheinlich nicht in der Intensität begegnet wären, wie es vor knapp einem Jahr passiert ist. – Und plötzlich war ich drinnen, in einem Netzwerk von Menschen, die sich leidenschaftlich mit Fragen der Bildung im 21. Jahrhundert befassen, von denen ich sehr viel gelernt habe, mit denen ich kontrovers diskutiere – und denen ich, von wegen Anonymität des Internets, teilweise auch schon persönlich begegnen durfte.
Ohne Internet hätte dieses Netzwerk kaum die Möglichkeiten zu so intensiver Zusammenarbeit, zu so intensivem Austausch, wie ich das immer wieder erlebe. Und gerade Jean-Pol Martin, der auf die schnellen Reaktionsgeschwindigkeiten des Netzes baut, hat hier ein Medium gefunden, auch nach seiner Pensionierung hochgradig aktiv weiter zu denken.
Was also soll die massive Kritik, die der Einsatz des Internets und anderer digitaler Medien in Lernzusammenhängen nach wie vor auszulösen vermag?
Ist es „nur“ die übliche Kritik, die jede Medienrevolution begleitet? Die Schrift wurde von Sokrates kritisiert; Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks löste Skepsis aus; die Beat-Musik wurde kritisch beäugt; das Fernsehen wurde zum Weltuntergangsmedium gekürt; das Aufkommen von tragbaren Kassettengeräten mit Kopfhörern löste die Furcht einer ertaubenden Generation aus – und nun stehen eben das Internet und der massiv wachsende Einsatz digitaler und vor allem auch mobiler Geräte im Fokus der im Grunde seit über 2000 Jahren immer gleichen Kritik.
Ist es eine substantielle Kritik? Eine solche setzt eine echte Kritik im philosophischen Sinne voraus, die nicht darin besteht, etwas, das ist, pauschal zu verneinen, sondern dort ihren Ort hat, wo differenziert die Möglichkeiten und Grenzen von etwas Seiendem ausgelotet werden. Eine solch differenzierende Kritik, die letztlich einen Zugewinn an kompetentem Umgang mit z. B. einem Medium bedeutet, sehe ich viel zu selten.
Das mag einer der Gründe sein, warum so viele, die sich kritisch und praktisch mit digitalen Medien befassen, gerne mal als Geeks, mal als Freaks oder gar als Nerds angesehen werden.
Vor diesem Hintergrund finde ich Jean-Pol Martins Statement bemerkenswert, in dem er bekennt, dass das Internet ihn nicht dümmer gemacht habe, sondern Tag für Tag klüger werden lässt. Und dabei bezieht er sich vor allem auf die Inhalte des Netzes, spricht er nicht einmal von all den Kompetenzen, die sich jeder (fast nebenbei) aneignet, der sich der produktiven Nutzung dieser „neuen“ Medien bedient.
Spannend finde ich ihn diesem Zusammenhang, dass ich vor kurzem in einem Aufsatz eines Schülers las, dass er der Meinung sei, dass Jugendliche sich deshalb so intensiv den Medien aussetzen, weil sie lernen wollen, weil sie diese Medien verstehen und nutzen wollen. Und darin, so der Schüler weiter, läge auch ein Grund dafür, dass Jugendliche so gerne ständig die neuesten Geräten haben wollten: Die Entwicklung geht so schnell voran und sie haben so vieles zu entdecken.
Was vielen Jugendlichen aber fehlt – und in meinen Augen ist das ein wichtiger Grund für manche, von mir gar nicht in Frage gestellte, Fehlentwicklung –, sind Leute, die selbst höchst produktiv mit Computer, vernetzten Strukturen und somit auch dem Internet umgehen und so zeigen, wo das eigentlichen Lernpotential im Umgang mit digitalen Medien liegt.
Und dann ist es letztlich nicht das Internet, das zu Unübersichtlichkeit und Verflachung von Gedanken führt. In einer Studie, die gerade erst bekannt wurde, wurde (ohne dass mich das Ergebnis überrascht hätte) dargestellt, dass genau dort, wo diese Phänomene kritisch begleitet werden könnten, um so zu einem kompetenteren Umgang mit Computer und Internet zu kommen, diese Beschäftigung nach wie vor zu wenig stattfindet.
Ein Grund liegt sicher in der nach wie vor vorhandenen Situation, dass der Einsatz von Computern als Bildungsinstrument von der Infrastruktur in Schulen erschwert wird: Da gibt es PC-Räume, die gebucht werden müssen, so sie nicht schon belegt sind, aber keine PCs in den „normalen“ Klassenräumen. Da gibt es Lehrende, die selbst erst wieder zu Lernenden werden müssen, um selbst in der Lage zu sein, digital gestützte Lernprozesse zu begleiten und, diese Zahl der Studie finde ich besonders spannend, nur 15% der Jugendlichen dürfen diese infrastrukturellen Gegebenheiten durch das Mitbringen eigener digitaler Arbeits(!)instrumente selbstbestimmt verbessern.
Und nun kommt da ein „alter“ Bildungshase wie Jean-Pol Martin und sagt, dass ihn das Internet Tag für Tag klüger mache und – das ergänze ich jetzt aus eigener Beobachtung – gleichzeitig genau mit dem versieht, was in der heutigen Bildungsdebatte ganz oben auf der Agenda steht: Handlungskompetenzen.
Mir geben diese Zusammenhänge viel Stoff zum Denken.
Wie denken Sie darüber? Was denkst du darüber? Mithilfe der Kommentarfunktion zu diesem Artikel, können Sie / kannst du hier selbst das Vernetzen ein klein wenig üben und jeden, der es mag, an Ihren / Deinen Gedanken zum Thema teilhaben lassen.
Vielen herzlichen Dank für diesen Artikel!
Ich bin in der nächsten Woche auf einem Podium zum Thema „Lebenslanges Lernen mit dem Web“ (insbesondere unter Berücksichtigung des Lernens älterer Mitbürger, wenn ich das mal so einfach mit JPM assoziieren darf. ;-)) – da sind mir deine Überlegungen eine gute Vorbereitung!!
Schöne Zusammenfassung! Der Titel ist göttlich, pensioniert und doch immer klüger 😉
Wenn ich mich selbst zitieren darf: „Wenn vor einem unkontrollierbaren Einbruch in die Privatsphäre (Identifikation von Personen über Bildabgleich) und einem Definitionsmonopol (per Handy gelieferte Welterklärung unter Wikipedianiveau) gewarnt wird, so ist das legitim.“
Assheuers Kritik an Google in der letzten ZEIT scheint mir durchaus philosophisch begründet. Und Google hätte nicht die Chance des Verdummungspotentials, wenn es das Internet nicht gäbe. (Wer’s im Zusammenhang lesen will: http://fontanefan.blogspot.com/2010/01/kritik-google-schon-nicht-mehr-erlaubt.html)
Was soll ich sagen?:-)) Klar, dass es mich enorm freut und motiviert!
Nebenbei: mein virtueller philosophiekurs für senioren läuft sehr gut: http://de.wikiversity.org/wiki/Benutzer:Jeanpol/philosophie
Und dümmer werden wir durch philosophie wahrscheinlich auch nicht!:-))
„Pensioniert und immer klüger…“ – Podium zum Thema „Lebenslanges Lernen“ im ersten Kommentar.
Ich denke genau, die beiden Stichworte sind entscheidend in der Diskussion.
Du hast es in deinem Post schon beschrieben, dass im Laufe der Geschichte, immer wenn Neues (hier Medien) kam, die „alte Generation“ zur Verteufelung neigte und neigt (am alten Paradigma festhalten). Hier erklären häufig Menschen, die selbst nicht in der Materie drin sind, das es keinen Mehrwert bringen kann oder schlimmeres.
Jean-Pol Martin ist ein sehr guter Beweis, gerade auch im Kontext Lehrende, das es ohne sich darauf einzulassen nicht funktioniert!
Als Coach habe ich mich zu lebenslangem Lernen „verpflichtet“, das ist unser Berufsethos, mein Selbstverständnis – Wie sollte ich sonst auch die verändernden Bedingungen der Gesellschaft und somit die des Einzelnen, entsprechend begleiten können?
Wenn also mein „Klientel“ mit einer Veränderung im Lebensalltag konfrontiert ist, dann setze ich mich damit auseinander, damit ich entsprechend meinen Job machen kann.
Sind Lehrende nicht auch auf eine bestimmte Art Coaches?
Wäre es nicht sinnvoll sich in ein gesellschaftsrelevantes Thema einzuarbeiten und dann den SuS dieses „neue Thema“ – hier Internet, Computer – nahe zu bringen?
In allen Facetten? Also nicht nur einseitig verteufeln oder verherrlichen, sondern so unterschiedlich die Ansichten der Lehrenden zum Thema sind, so unterschiedlich auch das Thema einbringen. Die SuS machen sich dann schon ihr eigenes Bild.
Aber diese zu lernende Internet- und Computercompetenz einfach unter den Tisch fallen zu lassen und/oder schlecht zu machen, das nenne ich unterlassene Bildungsleistung.
Anmerkung:
Alles auf fehlende Computerräume etc. zu schieben, das erhält den Kreislauf des Alten! Wir würden ja, wenn wir dies das oder jenes hätten…
@ Fontanefan Natürlich ist Google-Kritik erlaubt und wichtig! Aber: 1. Wer vermittelt denn den SuS und allen anderen das Google ein Konzern und nicht das Internet ist? und 2. Google ist nicht das Internet!
Gerade deswegen ist es doch so wichtig, dass unsere Kinder (und alle anderen) das System Internet verstehen lernen.
Damit jeder für sich seine Entscheidung treffen kann, ob und inwieweit er/sie das Internet in sein Leben einlässt…
Moinsen,
auch ich bin in dieses Netzwerk gerutscht und fühle mich sehr wohl. 🙂
In der Schule gibt es verschiedene „Fronten“ die sich um die neuen Medien ringen. Die Verweigerer, die Enthusiasten und die, die wollen, aber nicht können. Hierbei habe ich festgestellt, dass diese Lager nicht nach Alter geteilt sind. Man kann also nicht pauschalisieren und sagen, die alten Kollegen und Kolleginnen sind gegen die neuen Medien und die jungen dafür!
Ich glaube eher, es hat mit der Persönlichkeit zu tun: Sich mit neuen Dingen auseinanderzusetzen und die Lehrerpredigt des „lebenslangen Lernens“ auch auf sich anzuwenden.
Man muss aber festhalten, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch sinnvoll ist. Wichtig ist es auf jedenfall, den SuS eine Kompetenz an die Hand zu geben, um sich im Netz *bewusst* bewegen zu können. Das ist aber nur möglich, wenn die Schule die Möglichkeiten bereit stellt.
Bei uns ist es durchwachsen – wir haben zwar PC-Räume, aber immer wenn man mal auf ein digitales Medium (auch ohne Vernetzung) zurückgreifen will, muss man Beamer und Kabeltrommel ausleihen und durch die Schule tragen. Optimale Arbeitsbedingungen sehen anders aus. Aber: Wenn ich als Lehrkraft möchte, dass die SuS lernen sich auf dem Terrain zu bewegen und die Umstände in der Schule sind nicht optimal, dann muss ich eben in den sauren Apfel beißen.
Kolleginnen und Kollegen, die dieses nicht leisten können oder wollen, sind in meinen Augen keine schlechteren Menschen, denn auch sie tragen dazu bei den SuS ein Weltbild zu vermitteln. Auch wenn das für „uns“ schwierig zu verstehen ist, bin ich der Meinung, dass das absolut Okay ist, solange sie es nicht verteufeln. Der Weg der Mitte ist bekanntlich ja der, der beschritten werden soll. 😀
Meine 75Cent zum Thema 😉
Heute standen schon wieder wie aus heiterem Himmel zwei Kartons mit interaktiven Tafeln auf dem Flur.
Ich neige gelegentlich zum Pathos: Für mich ist das ein Symbol, dass etwas in unser Leben eindringt, dem wir uns um unserer selbst Willen, aus purem Egoismus stellen *müssen*.
Die Wahl besteht lediglich darin, ob man dann nackt in einer Ecke dem Löwen begegnen möchte oder doch lieber mit Dompteurskräften das stolze Tier zu Kunststücken bewegt.
Welcher von beiden Fällen wird attraktivere Entwicklungsmöglichkeiten bieten?
Stellen müssen wir uns der Endlichkeit der Ressourcen. Wenn man sich vormacht, Web 2.0 wäre die richtige Bildung, brauchte man in der 3. Welt gar nicht erst anzufangen. Und den funktionalen Analphabetismus bekämpft man mit Web 2.0 auch nicht. Es ist gut für manche Zwecke, aber nicht das, woran es uns am meisten fehlt.
http://fontanefan.blogspot.com/2010/01/schei-smartboards.html
@fontanefan Meine Überlegungen hierzu gibt es als Audioboo.
Hier ein Blog von einer internationalen Gruppe von afrikanischen Lehrern, die nur selten Internetzugang haben und daher nur per E-Mail miteinander verkehren. http://nachbarschaftafrika.blogspot.com/
Das Internet macht da schon einiges an raschem Austausch möglich, sogar eine solch weit verstreute Autorschaft eines Blogs von Autoren, die ihn allenfalls alle vier Wochen mal sehen können.
Ja… meine (im Netz bisher ungeäußerten) Überlegungen gehen in die Richtung (von Dir und der Vorrednerinnen):
a) Der Ausdruck „digital native“ ist gut/ brauchbar, an der Definition dahinter kann man noch arbeiten
b) Jean-Pol ist ein Prachtexemplar eines „digital native“ in diesem Sinne
c) [to come in meinem Blog]
Es grüßt, die eLEx