Über meinen Abschied von Twitter
Am 3. April 2024, abends um 21:07 Uhr, habe ich nach fünfzehn Jahren, fünf Monaten und zwölf Tagen (draußen regnete es) meinen Twitter-Account (heute heißt Twitter »X«) deaktiviert. Am 3. Mai 2024 wird er dann endgültig gelöscht sein. Bis dahin könnte ich den Account reaktivieren. Trotz der nicht erwarteten Emotionalität, die sich kurz nach dem Deaktivieren einige Momente zeigte, habe ich das nicht vor.
Im Jahr 2008 eröffnete Twitter für jene, die sich auf diese seit 2006 existierende soziale Kommunikationsphantasie einließen, deren Sinn, deren Zweck, deren Möglichkeiten und deren Abgründe damals noch weitgehend unklar waren, einen Raum des öffentlichen Denkens und Austauschs, wie ich ihn nicht erwartet hatte. Das Motto damals »What are you doing?« lud dazu ein, in jeweils hundertsechzig Zeichen der Twitter-Welt mitzuteilen, was man gerade tue. Diese Zeichenbegrenzung hatte damit zu tun, dass man am Anfang Twitter im Browser oder per SMS mit Inhalten füllte. Das Zeitalter der »Smartphones« begann erst 2007.
Meine ersten Tweets tasteten sich dann auch noch in kurzen lyrischen Versuchen an dieses Medium heran:
In kürzester Zeit lernte ich über Twitter Menschen kennen, die sich mit Bildungsfragen befassten. Christian Spannagel, heute Professor für Mathematik und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Informatik und Implementierung neuer Medien an der PH in Heidelberg, traf ich zunächst online, ebenso Prof. Dr. Jean-Pol Martin, der als Französischdidaktiker »Lernen durch Lehren« (LdL) in den Fremdsprachenunterricht implementierte und Lehrer:innen anderer Fächer motivierte, diese Idee zum Beispiel in den Mathematikunterricht zu übertragen. Christian Spannagel, stand damals noch vor seiner Berufung nach Heidelberg; Jean-Pol Martin war 2008 emeritiert worden. Und am 9. Mai 2009 passierte dann zum ersten Mal, was mir in den folgenden Jahren häufiger passieren sollte: Ich traf Menschen, die ich aus dem digitalen Raum Twitter kannte, im analogen Raum des LdL-Projekttages an der PH in Ludwigsburg. Dort begegnete ich zudem erstmals Lutz Berger, der über Jahre hinweg digital vernetzte Aktivitäten im Bildungskontext medial begleitet.
Ich entdeckte das Educamp über Twitter. Hier wiederholte sich die Erfahrung, dass man sich trotz der ersten Begegnung außerhalb der digital vernetzten Kommunikation nicht fremd war. Twitter bot am Anfang eine sehr reale, lebensnahe Form der Kommunikation; die Probleme, mit denen die Plattform heute zu kämpfen hat, gab es in den ersten Jahren in deutlich geringerem Maße.
Und zur Zusammenarbeit über Twitter inspiriert, beschlossen André J. Spang und ich 2013 das Format des moderierten und synchron geführten Twitterchats in Form des #EDchatDE zu gründen, der von September 2013 bis Januar 2019 in zweihundertvierundzwanzig Ausgaben Lehrer:innen auf Deutsch und Englisch miteinander vernetzte, von Peter Ringeisen, Christiane Schicke und Mandy Schütze kontinuierlich unterstützt und von Alicia Bankhofer, Ines Bieler, Urs Henning, Monika Heusinger, Elke Höfler und Peter Jochum über einen längeren Zeitraum mitgestaltet wurde. – Man kannte sich aus dem Internet, über Twitter und Blogs, die gerade in meiner Anfangszeit auf Twitter eine wichtige Ergänzung darstellten. Nicht zufällig begann ich 2008 mein eigenes Blog. Das Blog bietet bis heute Platz für längere Texte, während Plattformen wie Twitter und heute Mastodon und BlueSky für kürzere Gedanken, Hinweise auf interessante Inhalte im WorldWideWeb genutzt werden. Blogs und Twitter liefen in den ersten Jahren eng nebeneinander; die damals schon auf Twitter aktiven Lehrer:innen schrieben zu einem großen Teil auch Blogs.
In den vergangenen Jahren, die Zahl der Lehrer:innen auf Twitter hatte kontinuierlich zugenommen, vernetzte man sich im »Twitterlehrerzimmer«, dem virtuellen Raum mit dem Hashtag #twlz. Material wurde getauscht, auf interessante Artikel im Netz verlinkt. Meist war das konstruktiv. Aber es ist vorbei. »Über das Ende des Twitterlehrerzimmers« hat Bob Blume kürzlich in einer Kolumne reflektiert, das muss an dieser Stelle also nicht erneut vertieft werden.
Twitter öffnete mir viele Türen, verbunden mit Einladungen zu Tagungen und Konferenzen, der einen oder anderen Möglichkeit, Texte außerhalb meines Blogs zu publizieren; Twitter hat mich mit Menschen zusammengeführt, denen ich mich nach wie vor verbunden fühle. Twitter war für meine »digitale Sozialisierung« ein wichtiges Medium, das zudem mit einer für mich großen Reichweite verbunden war1. Das sind ein paar Gründe für die oben schon erwähnte nicht erwartete Emotionalität nach dem Deaktivieren: Mit meinem Abschied aus Twitter habe ich ja bereits 2022 begonnen, nun aber ist er endgültig.
Während ich diesen Beitrag schreibe, kommen immer mehr Erinnerungen hoch, die hier keinen Platz finden, weil sie erstens anekdotischen Charakter haben und zweitens den Rahmen sprengen würden. Als ich gerade versuchte, noch ein paar weitere Namen von Menschen zu nennen, denen ich in diesen Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Stimmungslagen verbunden begegnete, habe ich das schnell wieder aufgegeben. Denn mit jedem Namen, den ich mir notierte, stieg die Angst ob all derer, die ich völlig zu Unrecht vergessen würde aufzuschreiben. Also belasse ich es bei den bislang genannten Namen.
Ein wenig wehmütig schaue ich auf diese Zeit meiner Nutzung von Twitter zurück. Es sind nur etwas mehr als fünfzehn Jahre, aber die digitale Welt hat sich geändert. Twitter ist als X für mich angesichts des Übermaßes an »seltsamen« Inhalten unbrauchbar geworden. Ende 2022 wechselte ich ins Fediverse (Mastodon); aktuell teste ich auch BlueSky. Der Grund war – neben der extremen Verrohung des Umgangs miteinander2 – die spätestens im Rahmen der Pandemie unerträglich gewordene Dominanz radikalisierter Umgangsformen, die durch die Übernahme durch Elon Musk nicht weniger wurde.
Heute stehen mehr audiovisuelle Vernetzungsplattformen im Vordergrund (TikTok, Instagram, Snapchat…); auch Lehrer:innen finden sich dort. Die Trennung zwischen Content-Produzenten und -Konsumenten scheint mir aber viel größer zu sein, als ich das bei Twitter erlebt habe; das Thema »Follower« scheint dort ebenso noch einmal potenziert eine Rolle zu spielen. Für Texte, die einen gewissen Entstehungsprozess hinter sich haben, bleibt ein Weblogbuch (Blog) in meinen Augen aber weiterhin eine ernstzunehmende Option.
Und, um das hier nicht wie die Trauerrede wirken zu lassen – die es auch ist, ich bin traurig, dass sich Twitter so entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat; aber ich bin auch wütend, dass Hassrede, Fake News, Kriegspropaganda, extremistisch orientierte politische Propaganda, Verschwörungsmythen etc. so lärmend, kreischend, grell und wenig bunt heute soziale Medien oft dominieren (wollen) – stelle ich an den Schluss meine Freude darüber, dass ich vielen vertrauten und eben immer auch neuen »Gesichter« (Menschen und deren Accounts) nach wie vor im Fediverse, bei BlueSky, bei LinkedIn und – ganz wichtig – in manchem nach wie vor und seit Jahren betriebenen Blog begegnen kann.
Vernetzung heißt, Raum für Begegnung schaffen, miteinander im Austausch sein. Das war vor Twitter möglich und das ist auch nach Twitter möglich. Wie sich KI bezogen auf die Vernetzung auswirken wird oder schon auswirkt – das ist dann ein ganz anderes Thema.
- Zum Schluss folgten mir noch 17480 Accounts auf Twitter. Ich glaube, der wirkliche Abschied inklusive Löschung des eigenen Accounts, fällt schwer, weil das Netzwerk auf Twitter über Jahre gewachsen ist. Andererseits: Manchmal ist weniger vielleicht wirklich mehr. Mastdodon und BlueSky generieren insgesamt weit weniger Reichweite und damit auch Aufmerksamkeit. Aber gerade diese Reichweiten und Aufmerksamkeit sind ja auch ein Teil des Problems bei Twitter geworden. ↩︎
- Es gab auf Twitter durchaus auch in jener von mir genossenen Zeit dort harte Auseinandersetzungen, es wurden Erfahrungen mit »Shit-« und »Candystorms« gemacht, aber es hielt sich in einem anderen Rahmen, der im Laufe der Zeit verschwand, weil es zu einer völligen Entgrenzung radikalisierter Provokationen und Manipulationsversuchen gekommen ist. ↩︎