Was Tweets und Postings auf Facebook mit Strukturen der Bildung zu tun haben. Ein Versuch.

Vorbemerkung: Diesen Essay bitte bis zum Ende lesen, weil sich dann manche Schnappatmung vielleicht in Wohlgefallen auflöst 😉 . In diesem Beitrag berichtete ich von der Versuchung Verhaltensweisen zu be-/verurteilen, die in einen Reflexionsprozess übergeht.

Wenn ich meine Facebook-Timeline durchgehe, auf Twitter schaue, dann fällt mir auf, dass es dort kaum Inhalte gibt, die über kürzeste Einwürfe hinaus gehen und mehr als Meinung oder – was freilich auch Meinung ist – Kommentar sind. Es werden Bilder veröffentlicht, Artikel Dritter verlinkt, Befindlichkeiten geteilt… Und das ist alles gut und in diesem Rahmen hat dies seinen Platz. – Wo aber finden die komplexeren Gedankengänge statt? In den Blogs?

Nun, es betreiben weniger Leute als man glaubt neben Ihren Auftritten auf Plattformen wie Facebook und Twitter eigene Blogs, in denen Denkprozesse über Jahre hinweg in Artikeln ihren Niederschlag finden. ((Die Liste bei der Zentrale für Unterrichtsmedien ist historisch betrachtet beeindruckend und dennoch klein selbst angesichts vergleichsweise wenigen Lehrer*innen, die sich ihr Metier reflektierend bei Facebook und Twitter finden.)) Zudem sind die Blogs, die betrieben werden, kaum noch Diskussionsorte, an denen Kommentare Beiträge ergänzen, konstruktiv hinterfragen etc. Stattdessen geben wir uns Plattformen hin, auf denen gelassener Austausch nur dann möglich ist, wenn nicht gerade ein Troll oder Extremist Bullshit und verbale Fäkalien hinterlässt, die dann die Diskussion bestimmen – und sei es nur durch die Distanzierungen, die geäußert werden.

Orte des differenzierten Austauschs gäbe es eigentlich…,

Wir hätten durchaus sowohl auf Facebook wie auch in den Blogs die Möglichkeit zu differenzierten Austauschprozessen. Dazu böten sich auch die Gruppen an. In diesen aber das gleiche Spiel: Kürzeste Einwürfe, lange Kommentare werden, gerade wenn sie kontrovers sind, weitgehend ignoriert, als ob sie zu lesen eine Überforderung wäre. Selbst Anfragen – in meinem Fall jetzt in Gruppen, die von Lehrer*innen dominiert werden – gehen selten über Basisinformationen hinaus, erwecken selten den Eindruck, da habe jemand über ein (didaktisches / methodisches) Problem mit den im Studium und im Referendariat hoffentlich erworbenen Mitteln nachgedacht. Ob jemand mit App xy schon gerarbeitet habe, und welche Erfahrungen er/sie damit gemacht habe; ob man ein Buch wisse, dass man in Klasse a lesen könne; was zu beachten sei, wenn man Tablets im Unterricht einführt…

… doch das Konsumieren ist leichter

Ich nehme eine starke Konsumhaltung wahr; eigene Anstrengung, um sich selbst etwas zu erarbeiten, um dann vor einem bereits vorhandenen Gedankentableau spannende Fragen zu stellen, die fordern und auch den Antwortenden weiterbringen können, finde ich hin und wieder einmal – und dann meist in den wenigen Blogs, deren Autor*innen mit einer gewissen Kontinuität über Prozesse, Kontexte, Systeme und Strukturen, über Didaktik, Methodik etc. nachdenken.

Manchmal frage ich mich, ob die Fragen wirklich ernst gemeint sind, die mir da im »Twitterlehrerzimmer« begegnen. Aber das ist eigentlich weniger das Problem (Trolle sind ein Problem; Hater auch). Ohne diese kleinen praktischen Tipps geht es nicht und der pragmatische Erfahrungsaustausch ist nach wie vor nicht zu unterschätzen, wenn es um die Frage geht, wie man sich Kleinigkeiten im Beruf verbessern kann.

Wo bleibt die Didaktik?

Aber: Ich vermisse neben diesen Alltagsfragen etwas. Wenn in den »Sozialen Medien« nach Apps gefragt wird oder nach konkreten Anleitungen für den Unterricht, fällt mir auf, dass die Antwort kaum möglich ist, weil sich diese aus einem didaktischen Konzept ergeben würde. Erst also müsste man wissen, was denn eigentlich als Lernangebot in welchem Kontext (Lerngruppenanalyse!)  angedacht ist. – Und dann merke ich oft, dass die Nachfrage in diese Richtung (fast schon) als Affront verstanden wird; in der Regel bleibt die Frage nach den didaktischen Implikationen unbeantwortet. Dann kann ich natürlich auch bei der urprünglichen Fragen nicht weiterhelfen, denn um diese zu bearbeiten, braucht man ja nun gerade dieses etwas mehr an Didaktik, das nicht dargestellt wurde.

Und dann sind da noch ein paar grundsätzliche Fragen, die seit Jahren mehr oder weniger priorisiert auf der Agenda stehen, von der Politik durchaus gesehen werden, von den Lehrer*innen vor Ort jedoch, selbst wenn sie direkt mit den Folgen und be-, oft überlastenden Auswirkungen auf die Arbeit konfrontiert sind, kaum theoretisch aufgearbeitet werden (können [sic!] – siehe unten): Wie ist das mit der Ausgrenzung ganzer sozialer Gruppen aus den Schulen? Welches Ausmaß und welche Folgen hat Alltagsrassismus im Schulsystem? Welche Strukturen stehen dahinter? Wie kann man diese bearbeiten? Welche Konzepte sind mit Inklusion verbunden? Welche theoretischen Rahmen bezüglich der Digitalisierung setzen wir, welchen kennen und nutzen wir?

Vom Phänomen zum Problem

Kurz: Wo bleibt die Theorie der Bildung? – Genau, die bleibt außerhalb der verfügbaren Zeit, weil wir – Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen, Sozialarbeiter*innen, Schulamtsmitarbeiter*innen etc. – mit der verfügbaren Zeit gerade mal das Notwendigste schaffen. Und ich frage mich, ob es eigentlich schon mal eine Gewerkschaft gab, die für Lehrer*innen Studierdeputate einforderte oder über die Anerkennung nachgewiesener Beschäftigung mit Theorie z. B. in Form von Anerkennungsstunden im Deputat verhandelt hat?

Wozu haben wir die universitären Bildungswissenschaften, wenn deren Erkenntnisse in den Schulen – aus diversen Gründen – nicht oder nur mit massiver Verzögerung ankommen und dann oftmals noch verzerrt, weil über Studien diverser Interessengruppen vermittelt.

Vielleicht zeigt sich in dem Kommunikationsverhalten – in diesem Fall von Lehrer*innen – in den »Sozialen Medien« also ein Problem, für das man auf den ersten Blick die »faulen« Lehrer*innen (sind sie in der Regel ganz und gar nicht) verantwortlich machen will, während eventuell sich in den Phänomenen Strukturen zeigen, die diese Probleme fördern, mit sich bringen, aufrechterhalten.

Viel wird von Fortbildungen gesprochen, die Lehrer*innen selbstverständlich in Anspruch nehmen sollen. Und der Fortbildungsbedarf ist hoch und gestiegen (Inklusion, neue Curricula, Digitalisierung, Prävention, DaZ usw.), begleitet von immer stärker eingeforderten adminisitrativen Tätigkeiten im Bereich der Dokumentation, dem Erstellen von Förderplänen, der Beratung von Eltern, dem Austausch mit Fachpersonal, das Inklusionsprozesse begleitet, die Entwicklung von Medienkonzepten, Ganztagskonzepten… 

Diese Administration geschieht an vielen Schulen immer noch ohne angemessene Lehrerarbeitsplätze, ohne Dienstrechner, ohne die Möglichkeit, bestimmte Arbeiten an ein Sekretariat deligieren zu können.

Sollen Fortbildungen wirksam sein, dürfen die von ihnen ermöglichten Effekte nicht von administrativen Notwendigkeiten aufgefressen, verhindert werden: Was einzelne Kolleg*innen lernen, müsste in ein System des Wissensmanagements an Schulen eingearbeitet werden, um verfügbar zu sein, die Multiplikation zu erleichtern. Aber ein Management der Kenntnisse und Kompetenzen an einer Schule erfolgt eher unstrukturiert, ist oft davon abhängig, was einzelne Personen über an den Schulen vorhandene Kompetenzen wissen. Im Idealfall sind hier Schulleitungsmitglieder*innen wichtige Instanzen der Vermittlung; aber über die Arbeitslast von Schulleitungen will ich hier nicht auch noch referieren. Nur so viel: Sie ist sehr hoch.

Unterrichtsentwicklung oft – unverschuldet – kein »Kerngeschäft«

Bleibt dann oft als letze Möglichkeit, sich in Sachen Unterricht weiterzuentwickeln, der kurze Tweet mit einer Frage, die sich gerade aus einer Situation heraus ergibt, der kurze Facebook-Eintrag, mit der Bitte um Ideen für konkreten Unterricht, weil der Kopf gerade mal wieder leer ist und an der Grenze der Konzentrationsfähigkeit arbeitet. – Und dann gibt es da noch diejenigen, die ohne darüber nachzudenken, auf diese Lehrpersonen (verbal) herabblicken, sich vielleicht über einen kleinen Rechtschreibfehler produzieren, ohne in Frage zu stellen, dass sich in den Phänomenen, die wir – hier speziell bei Lehrer*innen – wahrnehmen, Strukturen zeigen, die wir nicht direkt wahrnehmen, die erst zutage treten, wenn wir darüber staunen, dass eigentliche Selbstverständlichkeiten, wie die von Theorie geleitete Praxisreflexion, so selten anzutreffen sind. Staunen aber ist der Beginn nicht nur der Philosophie, sondern auch eventuell eines Nachdenkens über soziale Strukturen bzw. Strukturen von Systemen, die einen vorsichtiger werden lassen, wenn sich ein Akteur – in diesem Fall aus dem Bildungsspektrum – vielleicht einmal wieder mit von manchen als plump wahrgenommenen Fragen an die Öffentlichkeit wendet.

Strukturen und Systeme von Bildung

Wann immer etwas von einer Berufsgruppe, hier von Lehrer*innen, erwartet wird, sollte man die Frage stellen, inwiefern die Ermöglichung des Gelingens des Geforderten in die Strukturen von Schulen, Berufsausbildung, Universitäten, Unterricht etc. integriert ist bzw. werden muss. So haben die ersten Versuche der Inklusion gezeigt, dass diese schief geht, wenn man nicht an den großen Stellschrauben dreht und zwar an den ganz großen, die größer sind, als die Abschaffung von Förderschulen. Das gilt ebenso für die Digitalisierung im Bildungskontext. Auch dort wird trotz intensiver Fortbildungen vieles erst einmal Zeit brauchen, bis »es« gelingen kann, weil sich die Strukturen von Bildung – und damit meine ich im Extremfall durchaus das ganze Bildungssystem – gerade erst so zu transformieren beginnen, dass erkennbar wird, wie sich das System verändert.

Wie eine OP am offenen Herzen

Da unsere Systeme am laufen sind, das gilt bei der Digitalisierung für die ganze Gesellschaft, ich lege hier den Schwerpunkt aber auf die Schule, können wir nicht einfach einmal alles auf Null setzen und die Strukturen neu aufbauen, sodass diese inklusiv und die Digitalisierung optimal im Ganztagsbetrieb nutzend angelegt sind. ((Ok, in Frankfurt und andernorts steigen die Schülerzahlen, es werden neue Schulen eröffnet und gebaut, sodass man da schon etwas auf den Weg bringen könnte. Ob diese Chance gesehen wird?))

Vielleicht brauchen wir Labore wie »Learnlife« in Barcelona wo andere Strukturen des Lernens erprobt und Erkenntnisse über Publikationen multipliziert werden. Vielleicht sollten wir die Fragen nach dem Funktionieren von Apps, die zum Standard in den »Sozialen Medien« geworden sind, ernst nehmen und das Konzept der App im System der Bildung – z. B. als »Serious Game« – reflektieren und praktizieren, statt Gamifikation tendenziell pauschal abzulehen, da bei dieser eventuell zu sehr auf Belohnungskonzepte gesetzt wird.

Die Revolution findet statt

Kurz: Wir erleben zur Zeit Entscheidungen und Entwicklungen, die die Strukturen der gesamten Bildung, wie wir sie kennen, auf den Kopf stellen, während wir gleichzeitig weiterarbeiten, als sei nichts geschehen, weil wir zuverlässig Schüler*innen zu den Abschlüssen bringen wollen und müssen und diese bislang schon gar nicht an den neuen, im Entstehen begriffenen Strukturen orientiert sind – oder wie sehen Abiturprüfungen aus, die mit Laptop und Internet zu belastbaren Ergebnissen kommen?

Spannung aushalten

Aus dieser Spannung kommen wir nicht raus. Wir sollten einander aber immer wieder bewusst machen, dass wir als Lehrende und mit der Ausbildung von Lehrenden betraute Personen ((– ich schreibe das durchaus auch an mich selbst, bevor jetzt Leute Tweets raussuchen, in denen erkennbar wird, dass ich den aktuellen Reflexionsstand noch nicht erreicht hatte –)) manchmal seltsam anmutendes Verhalten zeigen, das von dieser Spannung zeugt. Dann sollten wir im Zweifel mal eine böse Replik, den unterschwellig aggressiven Unterton, der sich in den »Sozialen Medien« (unter Lehrer*innen) so breit gemacht hat, unterlassen, sollten wir schweigen, sollten wir pragmatisch antworten. Wir leben in einer Zeit der Überforderung, der wir nur begegnen können, wenn wir mit Geduld, aber auch mit großer Anstrengung, uns den theoretischen, praktischen und oft auch pragmatischen Herausforderungen stellen, um den Berg, den wir nicht mit einem Schritt besteigen können, dennoch Schritt für Schritt zu erklimmen.