Das Gedicht / das Stilmittel der Woche, das Fremdwort des Tages. Über Routinen im Deutschunterricht.
Nachdem ich dem „Fremdwort des Tages“ im Deutschunterricht einer Kollegin begegnet war, wollte ich das direkt übernehmen. Immer am Anfang einer Deutschstunde nicht nur ein neues Wort kennenlernen, sondern auch etwas über dessen Geschichte, dessen Herkunft (Etymologie) zu vermitteln, schien mir ein guter Ansatz, um bewusste Sprachreflexion zu einem festen Bestandteil des Unterrichts zu machen.
Spätestens in der Sekundarstufe II (Klassen 11–13 G9 / Klassen 10–12 G8) fiel mir auf, dass Schüler:innen Mittel zur stilistischen Gestaltung von Texten zu zwei Zeitpunkten des Unterrichts auswendig zu lernen versuchten: zum einen im Kontext der Analyse politischer Reden, zum anderen im Umfeld der Lyrik-Einheiten. Dieses Auswendiglernen war in der Regel wenig effizient. Die Stilmittel wurden nicht nachhaltig erkannt und schon gar nicht in eigenen Texten angewandt. Was aber würde passieren, wenn ich die Idee des Fremdworts des Tages auf Stilmittel übertrüge?
Nachdem ich mir die Stilmittel-Listen im Lehrwerk angeschaut und mit der Zahl der Unterrrichtswochen verglichen hatte, wurde mir klar: In einem Schuljahr war es möglich, mehr Stilmittel unterzubringen, als in den Listen des Lehrwerkes standen. Ich beschränkte mich auf ein Stilmittel pro Woche, verbunden mit der Vorstellung, dass die Schüler:innen es in der jeweiligen Woche durch aktive Nutzung kennen- und nutzen lernen würden.
Nach jeweils einigen Wochen übernehmen dann die Schüler:innen sowohl die Auswahl als auch die Vorstellung entweder des Fremdworts oder des Stilmittels, sodass auch noch das Vortragen einen regelmäßigen Raum im Unterricht bekommt, was von den Schüler:innen ebenso unterschiedlich als Chance genutzt wird, wie andere Lernoptionen.
Zuletzt fiel mir dann auf, dass Lyrik in der Schule nur in Unterrichtseinheiten vorkommt, in denen es um analytische Herangehensweisen an zunächst Balladen, später dann auch andere Formen von Gedichten geht. Dass diese Begegnungen mit Lyrik dem ohnehin schon geringen Interesse an dieser Literaturform, die es objektiv betrachtet gibt, eher nicht dienlich ist, sehe ich als selbstverständlich an. Aber was konnte ich als einer der vergleichsweise wenigen regelmäßigen Leser von Gedichten hier tun? Der naheliegende Gedanke infolge meiner Erfahrungen mit den Fremdwörtern und den Stilmitteln war, Gedichte zum regelmäßigen Teil des Unterrichts zu machen. Und so gibt es in meinen aktuellen Deutschgruppen immer in der ersten Deutschstunde der Woche ein „Gedicht der Woche“1. Dieses wird ausgeteilt, in meinem Klassenraum auch vergrößert ausgehängt und zweimal vorgelesen. Manchmal gibt es noch einen kurzen Verstehenshinweis, aber die Gedichte werden nicht weiter analysiert. Im Wechsel wird jeweils ein Autor / eine Autorin vorgestellt. Und anders als im Deutschunterricht leider oft üblich, nehme ich auch Gedichte aus jüngst erschienenen Gedichtbänden, schrecke aber ebenso vor „Klassikern“ nicht zurück.
Ob diese regelmäßige Versorgung mit lyrischem „Stoff“ den Zugang der Schüler:innen erleichtert, den einen oder die andere vielleicht sogar Lust auf Gedichte entwickeln lässt, weiß ich nicht. Aber eine Rückmeldung fand ich bemerkenswert: „Ich muss in diesem Schuljahr nur zählen, wie viele Gedichte ich in meinem Ordner schon abgeheftet habe, um zu wissen, wie viele Wochen Unterricht ich bereits hatte.“ Ob beim Durchzählen vielleicht der ein oder andere Vers noch einmal wahrgenommen oder sogar ein Gedicht, das einem gefällt, erneut gelesen wird, weiß ich bislang nicht. Ich hoffe es.
- Es gibt jeweils nur eine dieser Routinen in meinen Lerngruppen: Entweder gibt es das Fremdwort des Tages, was eher in den jüngeren Lerngruppen die Routine der Wahl ist, oder das Stilmittel der Woche oder das Gedicht der Woche. ↩︎