Über das (schulische) Interpretieren von Gedichten

In der Schule werden Gedichte gelesen. In der Schule werden Gedichte interpretiert. In der Schule wird zu selten ein Gefühl für die Schönheit der Sprache und der Bedeutung, wie sie in Gedichten anzutreffen ist, nachhaltig entwickelt. Ich zumindest kenne keinen Schüler und keine Schülerin, der oder die in der Schule erlernte Analysefähigkeiten gegenüber Gedichten anwenden würde, die ihm oder ihr im Alltag begegnen. Ja, im Alltag sind wir von Gedichten (unterschiedlicher Qualität freilich) umgeben, werden wir mit Gedichten überschüttet – wenn wir Musik hören. Oh ja: Die meisten Songtexte sind Gedichte.

Nach der Schule beschränkt sich die intensive Beschäftigung mit der Kunst des Gedichts auf ein paar leidenschaftliche Lyrik-Geeks, GermanistikstudentInnen, GermanistikprofessorInnen und DeutschlehrerInnen bzw. Lehrende von Fremdsprachen. In der Breite werden Romane gelesen. Dramatische Werke hingegen teilen das bittere Schicksal der Lyrik, so es um die Lektüre solcher Werke geht.

Im Literaturstudium werden Gedichte gelesen. Im Literaturstudium werden Gedichtanalysen und -interpretationen gelesen, es werden eigene Analysen erstellt, die sich in der Regel auf das gedankliche Zusammenführen der Forschungsergebnisse Dritter beschränken. Ich erinnere mich nur an einen Literarturprofessor, der mich als Studenten mit der Herausforderung konfrontierte, über Gedichte so, wie sie sind, nachzudenken, mir also substantielle eigene Gedanken zu meinem Verständnis eines Gedichtes zu machen und diese Gedanken dann auch noch so zu formulieren, dass Dritte diese nachvollziehen können. – Aber auch hier wurde die Frage nach dem Gedicht als Kunstwerk (sic!) meist gar nicht gestellt. Die Frage, was literarische Kunst ist, steht in einem Studium nicht im Vordergrund, in dem es nicht um die Sprachkunst als solche geht.

Zugegeben: Die Frage nach dem Gedicht als Kunstwerk begann auch für mich erst relevant zu werden, nachdem ich einer Kunstgeschichts- und Philosphiedozentin begegnete, die das Kunstwerk ins Zentrum stellte und nicht die Sekundärliteratur.

Eigentlich ist es verrückt: Im Studium wird mehr mit Sekundärliteratur gearbeitet als mit den Primärtexten. Das lässt sich kaum vemeiden, denn es ist toll, dass so viele Gedanken und Forschungen Dritter den Zugang zu den Gedichten erleichtern wollen.

In der Schule sieht das alles ein wenig anders aus. Deutschunterricht ist kein Germanistikstudium, vielmehr werden in ihm Grundlagen des Zugangs zur Sprache und zur Literatur gelegt, die, zumindest im Idealfall, dazu befähigen sollen, ein Studium, gegebenenfalls auch ein literaturwissenschaftliches Studium aufzunehmen.

Schülerinnen und Schüler werden meist an die Grundlagen der Gedichtanalyse herangeführt, es werden die wichtigsten biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe eingeführt, Gedichte werden in den Epochen verortet, Basistexte der Lyriktheorie – meist Opitz und vielleicht noch ein wenig Aristoteles, Schiller und Brecht – werden den Schülern vorgelegt. Stilfiguren werden gelehrt und sollen gelernt werden. Etc.

Das ist gut so. Kunstverständnis, die Entwicklung eines ästhetischen Gespürs, hat immer auch mit Wissen zu tun. Man sieht nun einmal in der Regel vor allem das, was man weiß. Das gilt auch für Gedichte.

Diese Heranführung an Gedichte führt dann aber oft zu dem Phänomen, dass mehr über als mit den Gedichten ein Gespräch gesucht wird, in dem auch und vor allem die persönlichen, individuellen, biographisch und zeithistorisch geprägten Zugangsweisen ernst genommen werden und sich einen Weg suchen können, zur Sprache zu kommen – zur eigenen Sprache in der Beschäftigung mit Kunst.

Kunst, also auch Gedichte, entsteht nicht, damit anschließend Schule und Wissenschaft an ihnen analytisches und interpretatorisches Handwerk lehren, sondern 1. als Dialog des Künstlers mit der (subjektiven) Wahrnehmung der Wirklichkeit und 2. als Einladung an Lesende und Betrachter bildlicher Werke, sich selbst in den Dialog mit der eigenen (subjektiven) Wahrnehmung der Wirklichkeit zu begeben – und diesen Dialog gegebenenfalls so formulieren zu können, dass er für Dritte zumindest nachvollziehbar wird.

Um diesen subjektiven Zugang zu Gedichten zu vertiefen ist Sekundärliteratur oft hilfreich. Wenn aber der Umgang mit Gedichten alleine das Ziel der (schulisch) angemessenen Interpretation hat, dann wundert es mich nicht, dass außerschulisch Gedichte in der Wahrnehmung der Mehrheit der Erwachsenen kaum noch eine Rolle spielen. Die Schule funktionalisiert Gedichte (und andere literarische Texte) so stark, dass die Literatur als Kunst im außerschulischen Kontext ihre Funktion ( = in Klausuren erfolgreich Analysen schreiben zu können) verliert. Ästhetische Bildung scheint sich, vor allem gegenüber sprachlichen Kunstwerken, mehr auf das Verstehen von Kunst zu beschränken, statt auf die existentielle Bedeutsamkeit der Kunst für die Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst und der Wirklichkeit, in der es lebt, hin abzuzielen.

Die persönlichkeitsbildende Begegnung mit Kunst hat in Schule und Studium eher Seltenheitswert und muss von denen, die trotz allem diese Kunstwerke nicht aus ihrem Leben verbannen wollen, oft erst mühevoll (wieder)erlernt werden.

Der schon erwähnte Professor, der uns in seinen Seminaren die wirkliche Auseinandersetzung mit unseren individuellen Zugangsweisen zu Gedichten abverlangte, gab sich mit allzu sehr angelesenen Äußerungen zu Gedichten selten zufrieden. „Das haben Sie schön referiert. Aber jetzt sagen Sie uns doch einmal, was dieses Gedichte für SIE bedeutet!“ – An dieser Stelle verstummten wir Studenten meist ratlos. Wir brauchten lange um zu verstehen, dass wir oft viel zu schnell und viel zu intensiv alleine auf Sekundärliteratur setzten, statt uns selbst wirklich mit dem Gedicht zu beschäftigen. Wir befassten uns mehr mit den Gedanken anderer zu einem Gedicht, statt uns eigene zu erlauben. Wir „töteten“ Gedichte, statt sie für uns zum Leben zu erwecken.

Eine ähnliche Situation erlebte ich als Referendar, als mir eine Ausbilderin zu einem didaktisch und methodisch stark strukturiertem Unterrichtsentwurf zwei Fragen stellte – ja, es ist oft ein langer Weg, Einsichten, die man doch längst für sich selbst als wichtig erachtet, angemessen in die Wirklichkeit zu übertragen –, die mich schlagartig an die Situation als Student gegenüber der Frage des Professors nach eigenen Gedanken zu Gedichten zurückwarfen: „Wo kommt in Ihrem Entwurf der Text vor? Wo kommen die Schüler und Schülerinnen vor? Sie haben da einen methodisch und didaktisch starken Entwurf, der aber den Text mit Methoden überlagert und mit diesen die Schüler und Schülerinnen vom Text fern hält.“ – Mir blieben vierundzwanzig Stunden bis zu einem wichtigen Unterrichtsbesuch. In der Kürze der Zeit entschied ich mich, die Methoden drastisch zu reduzieren und die Schülerinnen und Schüler in ein literarisches Gespräch mit dem Text zu bringen. Es war die wohl methodenärmste Stunde, die ich je im Referendariat für einen Unterrichtsbesuch zustande brachte – und eine der ganz spannenden Stunden, weil plötzlich der Text durch die echten Fragen der Schülerinnen und Schüler an ihn, im echten Gespräch der Schülerinnen und Schüler mit dem Text und miteinander zu funkeln begann wie der Sternenhimmel in einer klaren, warmen Sommernacht, weit weg vom Streulicht der Großstädte.

Überdidaktisierter und methodisch überladender (Deutsch-)Unterricht wirkt oft wie das Streulicht der Großstädte: Er überstrahlt den eigentlichen Gegenstand des Unterrichts, macht ihn so unsichtbar wie die Lichtverschmutzung den Sternenhimmel.

Großartige Kunstwerke bergen dieses Sternenglanzpotential in sich. Sie sind inhaltlich so stark, dass sich die notwendigen Methoden im Umgang mit ihnen in diesem Umgang selbst entwickeln. Dann muss sich plötzlich nicht mehr der Lehrer im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung Gedanken über die Methoden der Erarbeitung eines Textes machen, sondern kann, unter der Voraussetzung, dass er viele Methoden beherrscht, um diese gegebenenfalls individuell professionell begleiten zu können, den Schülern und Schülerinnen den Freiraum eröffnen, die ihnen vom Text her angemessenen Methoden selbst zu benennen, auch wenn dieser Prozess so moderiert werden muss, dass der / die Lehrende gegebenenfalls Angebote machen kann. Auf diesem Wege bekam ich schon Goethes „Wanderers Nachtlied“ als Rap vorgeführt, Ausschnitte aus Jurek Beckers „Bronsteins Kinder“ verfilmt, Referate zu der Frage, warum ein Gedicht auf Schüler die Wirkung erzielen konnte, die es auf sie hatte, eine Lesung zu einem Gedicht von Nelly Sachs als „Klanginstallation“ mit Schülern, die den Raum mit ihren Stimmen und dem Text Nelly Sachs füllten – und in diesem Rahmen mühten sich Schüler dann plötzlich ganz freiwillig mit der Frage ab, mit welchen Stilmitteln es einem Dichter gelingt, Lesende „gefangen zu nehmen“. Etc.

Gute Kunst findet im Betrachter selbst zu den Methoden, die für ein Kunstwerk und seinen Betrachter angemessen sind. Große Kunst „lehrt“ den ernsthaften Betrachter selbst, wie sie zu betrachten ist, auch wenn sie auf den ersten Blick sehr sperrig wirkt. Lehrende müssen Annäherungsformen an Kunst vermitteln, die einen solchen Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachter ermöglichen.

Das ist angesichts der Lehrplanvorgaben und den üblichen Zeitvorstellungen dieser Lehrpläne nicht einfach umzusetzen, sollte aber zumindest mit einer gewissen Regelmäßigkeit Raum im Unterrichtsgeschehen finden. Es muss Raum bleiben, für die Texte und die sie Lesenden, um zu nachhaltigen Interpretationen zu gelangen, in denen dann nicht mehr nur die klassischen und berechtigten Erwartungen der Schule vorkommen, sondern die Texte als Kunstwerke ebenso wie die Schülerinnen und Schüler, die sich ihnen auszusetzen lernen.