Kleist mit Schülern lesen – aber wann?
Die Vorgeschichte
Am Donnerstag vor dem Beginn des neuen Schuljahres spazierte ich mittags durch Frankfurt-Sachsenhausen, weil ich in einem französischen Bistrot den Mittagstisch genießen wollte. Als ich gerade den Schweizer Platz umrundete, sah ich im Kaffee auf der anderen Seite einen Kollegen, den ich sehr schätze und der auch Deutsch unterrichtet. Ich plante spontan um, sorgte dafür, dass er mich sah – und die nächste knappe Stunde war von leckerem Kaffee, hausgemachtem Quiche und einem anregenden Gespräch bestimmt. Nach sechs Wochen merkt man erst, dass man viel zu lange nicht miteinander gesprochen hat…
Im Gespräch erzählte der Kollege, dass er in seinen Klassen das Schuljahr aus aktuellem Anlass mit Heinrich von Kleists »Das Erdbeben in Chili« beginnen würde. Ein paar Tage zuvor hatte ein Erdbeben Italien heimgesucht und die Orte Amatrice, Accumoli, Pescara del Tronto und Arquata del Tronto hatten viele Tote und große Zerstörungen zu beklagen. – Nun gibt »Das Erdbeben in Chili« zwar keine »Antworten« auf Fragen, die mit einem solchen Erdbeben verbunden sein können, aber die Novelle greift die Frage nach dem »Willen« auf, der hinter einer Naturkatastrophe steht und Leid bei Menschen verursacht.
Ich fragte den Kollegen, ob es ihn stören würde, wenn ich mich dieser Idee, Kleist in unterschiedlichen Jahrgangsstufen zu lesen, anschlösse. Natürlich fand er das großartig, aber ich bewege mich unter Lehrern – und da sind manchmal die mir selbstverständlich erscheinenden Verhaltenweisen dazu geeignet, für Überraschungen zu sorgen, sodass ich mir das Fragen fast schon angewöhnt habe, wenn ich eine gute Idee übernehmen will.
Das »Experiment« beginnt
Und dann begann das »Experiment«: Da Kleist gemeinfrei vorliegt, fertigte ich aus entsprechendem Material eine Kopiervorlage an und brachte den Text in die erste Stunde des Schuljahres in die von mir unterrichteten Klassen 8 und 11 mit.
Naturgemäß sind die reinen Textausgaben, die gemeinfrei (im Internet) verfügbar sind, nicht didaktisch aufbereitet – und somit nicht mit Worterklärungen in Form von Fußnoten versehen. Das macht aber nichts, denn Wörter nachzuschlagen ist in digitalen Zeiten nun wirklich zu einer Trivialität geworden. Außerdem lädt die nicht kommentierte Ausgabe zunächst einmal ein, den Text zu lesen und nicht gleich mit Sekundärtextelementen überschüttet den Eindruck zu gewinnen, ohne die Assistenz sei ich sonst nicht in der Lage, den Text gewinnbringend zu lesen.
Mir war klar: Eine Klasse 8 und eine Klasse 11, ein Deutsch Leistungskurs zumal, würden den Text nicht auf gleiche Weise aufnehmen und verarbeiten.
Mit der Klasse 8 las ich den Text bewusst vollständig in drei Doppelstunden in größeren Abschnitten, immer wieder nach wenigen Absätzen unterbrochen, um Raum für Nachfragen, Gespräche über die Handlung und Informationen zum Autor zu geben.
Mich beschäftigte bei dieser Entscheidung, in zwei unterschiedlichen Jahrgangsstufen diesen Text zu lesen, vor allem die Frage, was da möglich sein und an welche Grenzen ich stoßen würde.
Der Hauptunterschied war in meiner Beobachtung, dass es im Deutsch Leistungskurs sehr schnell gelang, Kleists kompakte Sprache zumindest in Grundzügen zu erfassen und den Zusammenhang von Form und Inhalt zu erkennen. Das war beruhigend, denn nach »Das Erdbeben in Chili«, das in Hessen nicht zum Oberstufenpflichtkanon des Landesabiturs 2018 gehört, griffen wir mit der prüfungsrelevanten Novelle »Die Marquise von O.« zu einem Werk, in dem Körpersprache, Satzzeichen und das Unausgesprochene eine noch größere Rolle als in »Das Erbeben in Chili« spielen.
Den Mittelstufenschülern und -schülerinnen fiel es nicht schwer, den Text zu verstehen und zumindest zu begreifen, wie kompliziert – und gerade deshalb von größter Exaktheit – Sätze sein können. Zwar fiel das Wort »Theodizee« nicht, aber die damit verbundenen Fragen können Schülerinnen und Schüler einer achten Klasse bereits gut formulieren.
In beiden Stufen war es möglich die Begriffe rund um literarische Topoi einzuführen, die in »Das Erdbeben in Chili« in meisterlicher Art umgesetzt beobachtet werden können: Neben den schrecklichen Ort (»locus terribilis«) setzt Kleist in exemplarischer Perfektion den lieblichen Ort (»locus amoenus«).
Die Verständlichkeit der Novellen Kleists ist in meinen Augen direkt mit der Kompliziertheit des Satzbaus verbunden, weil nur so die Komplexität des Geschehens wirklich nachvollziehbar dargestellt ist: Wo Figuren angesichts ihrer Emotionen in einer Notsituation schweigen, stellt Kleist diesen Figuren durch die klar voranschreitende und immer sehr genau darstellende Sprache eine Sprache gegenüber, die dennoch auszudrücken vermag, was in der Sprachlosigkeit verborgen bleibt, ohne dass Kleist die Sprachlosigkeit aussparen würde.
Gleiches bei der Interpunktion, die bei Kleist nahezu ausschließlich der literarischen Gliederung des Textes folgt und von Normierung nichts wissen will, da Kleist sie viel effizienter als formales Element mit Bedeutung für den Inhalt seiner Novellen benutzten will – und zudem noch das Glück hatte, in einer Zeit mit nur sehr gemäßigter Normierung der formalen Richtigkeit von Schriftsprache zu leben.
Kleists Novellen sind Texte, die in sich so unglaublich viele Anknüpfungspunkte für Lesende unterschiedlichster Zeiten tragen. Kleists Werke sind so großartige Kunstwerke, dass für sie gilt, was in meinen Augen von jeder großen Kunst gesagt werden kann: Die Texte sind relativ altersneutral, weil sie sich als wirkliche Gesprächspartner anbieten, die in der Lage sind, das Verstehen seines Gegenübers freundlich ernst zu nehmen, zu akzeptieren, aber auch so herauszufordern, dass Grenzen des Verstehens bei der intensiven Lektüre verschoben werden.
Für Achtklässler mit ihren ca. 13 Jahren sind die Texte auf der Handlungsebene durchaus verständlich und zudem spannend erzählt; für Elftklässler, die um die 16 Jahre alt sind, ergeben sich bereits ganz andere Verstehensfacetten, die im Text verborgen sind. Und bei der Heranführung der Schülerinnen und Schüler an die unterschiedlichen Bedeutungsschichten von Kleisttexten entdecke auch ich als Lehrer immer wieder andere Deutungsoptionen, andere Anknüpfungspunkte, aus denen sich für mich neue Lesarten des Textes ableiten lassen.
Für den Schuljahreseinstieg war die Entscheidung, Kleist in unterschiedlichen Jahrgangsstufen zu lesen, eine gute Entscheidung, die vermutlich die Lektüreerfahrungen durch das gesamte Schuljahr begleiten und prägen wird.
In der Oberstufe lesen wir jetzt »Die Marquise von O.« und stellen uns dabei unter anderem der Frage, woher Kleists Interesse für die Verlogenheit gesellschaftlicher Moral und die Familie als verlängerten Arm der Gesellschaft gekommen sein könnte. – Als Schlüssel erweist sich hier z. B. Kleists anrührender Brief an Ernst von Pfuel vom 07. Januar 1805, der durchaus als ein Liebesbrief eines Mannes an einen anderen Mann gelesen werden kann. So sehr die Kleistforschung Zurückhaltung übte, wenn es um solche Themen ging, und die Rätselhaftigkeit so mancher Stelle in Kleists Werken betonte, so wenig überraschend ist es, wenn man einen Brief wie jenen an Pfuel als homoerotisches Bekenntnis liest, dass Kleist sich mit Fragen der gesellschaftlichen Moral befasste.
Sprache gab es Anfang des 18. Jahrhunderts für das, was Kleist erlebte, zumindest keine positiv besetzte. Doch gerade in der verzweifelten Erfahrung der Marquise Julietta von O. ob ihrer Gewissheit eines reinen Gewissens angesichts der für sie lange Zeit völlig unglaublichen Schwangerschwaft zeigt sich womöglich Kleists eigenes Hadern angesichts eines in der Moral der Gesellschaft seiner Zeit verbotenen Gefühls, für das er möglicherweise literarisch sprachliche Ausdrucksformen suchte.
Zu entdecken, dass Literatur in einer solchen Weise durchaus zumindest die Vermutung eines biographischen Bezuges zugeschrieben werden kann, ist für den einen Schüler oder die andere Schülerin dann doch ein Wegzeichen auf der Entdeckungsreise in die faszinierende Welt der Literatur und deren leidenschaftlichen Dechiffrierung, von der man weiß, dass sie bei großartigen Werken zu keinem Ende kommt.
In der achten Klasse schließt sich an Kleists »Das Erdbeben in Chili« nun die meines Erachtens völlig zu Unrecht zum Schrecken ganzer Schülergenerationen erklärte Novelle »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm an. Alternativ wäre hier noch Gerhart Hauptmanns »Bahnwärter Thiel« möglich gewesen, den ich aber gerade erst mit einer Klasse gelesen habe, sodass nun Storm mal wieder an der Reihe ist.
Für mich hat sich bei der Lektüre von »Das Edbeben in Chili« in unterschiedlichen Klassenstufen gezeigt, dass großartige Literatur Zusätze wie z. B. »Jugend«-Literatur nicht braucht. Und großartige »Jugend«-Literatur braucht solche Zusätze ebenfalls nicht, weil diese für Erwachsene nach wie vor als Literatur etwas zu sagen hat.
Altersstufen unterscheiden sich bei der Lektüre wirklich guter Literatur vor allem bei Aspekten, die entwicklungspsychologisch geprägt sind, und bei der Frage möglicher Anknüpfungspunkte im Sinne eines konstruktivistischen Verständnisses des Lernens. Um das literarische Spiel in all seinem Reichtum für sich beim Lesen entfalten zu können, braucht man Kenntnisse zumindest der Regeln dieses Spiels.
Darüber hinaus ist der die Welt erschließende Wortschatz bei älteren Jugendlichen in der Regel größer bzw. er kann zumindest auf eine Basis zurückgreifen, von der ausgehend, man (warum eigentlich sollte das nur am Gymnasium möglich sein?, – dort aber ist es nötig) weitere Schritte in Richtung der »Bildungssprache« geht, die etwas anders als eine »Fachsprache« ist.
Die Frage in der Überschrift »Kleist mit Schülern lesen – aber wann?« findet somit eine Antwort: Kleist kann man an der weiterführenden Schule je nach Text ab der 7. Klasse lesen. Dann aber kann man ihn in jeder Altersstufe mit Gewinn zur Hand nehmen, da die Anknüpfungspunkte für das Lernen bei Kleist Legion sind. Doch man muss diese Anknüpfungspunkte weder alle finden noch für sich relevant werden lassen.
Während man in der achten Klasse die Betonung eher auf die Arbeit am Inhalt legt, ohne das Aufzeigen bedeutungstragender Elemente auf sprachlicher Ebene alters(un)angemessen zu vernachlässigen, kann man in der 11. Klasse die formale Bedeutung tragenden Elemente des Werkes in den Vordergrund stellen.
Und am Ende haben alle etwas gelernt: Die Schüler und Schülerinnen der achten und elften Klassen ebenso wie der Lehrer, der selbst noch im Unterrichtsgespräch neue Seiten an Kleists Texten entdeckt und bei der Lektüre mit den ihm anvertrauten Jugendlichen selbst zum Lernenden wird, was der Lebendigkeit der Auseinandersetzung mit Literatur letztlich immer gut tut.
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