Gedichtinterpretation: Joseph Mohr – Stille Nacht, heilige Nacht
Gedichtinterpretation: Joseph Mohr – Stille Nacht, heilige Nacht von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
Es ist das bekannteste Weihnachtslied der Welt, in über 300 Sprachen übersetzt, gesungen mit der Melodie Franz Xaver Grubers.
Beginnt man, Suchmaschinen nach Interpretationen zu diesem berühmten Text zu befragen, tauchen viele musikalische Interpretationen auf. Aber was ist mit dem Text?
Vorne weg: Ich werde hier keine Detailinterpretation der einzelnen Strophen schreiben, werde mich nicht dazu auslassen, dass das Originalgedicht (!) sechs Strophen hatte, die heute gesungene Version aber nur drei hat etc. Hier versuche ich eine grundsätzliche Einordnung des Textes, mit dem Ziel, den Text zumindest ein wenig aus der Kitschecke heraus zu holen. Damit will ich nicht behaupten, dass der Text sich bei näherer Betrachtung plötzlich in großartige Literatur verwandeln würde, das passiert selbst bei sehr genauer Analyse des Textes nicht. Im Zusammenhang seiner Entstehungszeit kann aber verständlich werden, warum der Text in seinen Grundzügen so ist, wie er ist.
1816 entstanden, wurde „Stille Nacht, heilige Nacht“ 1818 erstmals aufgeführt.
Sprechen wir heute davon, dass Weihnachten ein romantisches Fest sei, so liegen wir mit dieser Äußerung goldrichtig.
Weihnachten, wie wir es heute kennen, fand in Grundzügen seine Prägung in der Epoche der Romantik, die etwa in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts einzuordnen ist. Sehr viele Weihnachtslieder unseres Weihnachtsfestes wurden in dieser Zeit geschrieben.
„Stille Nacht, heilige Nacht“ ist ein romantisches Gedicht; kein großartiges Werk der Epoche, aber doch eines der berühmtesten. Und es ist in meinen Augen kein Zufall, dass sich in ihm eine der zentralen Fragestellungen der Romantik wiederfindet.
Als Weihnachtslied gehört „Stille Nacht, heilige Nacht“ zur religiösen Lyrik. Religion hat es aber seit der Aufklärung genau so schwer, wie die Überzeugung, dass es hinter der naturwissenschaftlich erforschbaren Wirklichkeit andere Wirklichkeiten gibt, die im grellen Licht des aufklärerischen Denkens nicht nur nicht wahrgenommen sondern sogar ausgeblendet oder verneint werden.
Aufklärung im philosophischen Sinn erhebt den Anspruch, Klarheit in den Nebel des Wissens zu bringen, Licht ins Dunkel.
Aufklärung ist mit Lichtmetaphern verbunden, sodass es kein Zufall ist, dass der englische Terminus Technicus „enlightenment“ heißt. – Ein wichtiges Unternehmen, das die Welt verändert, Menschenrechte mit sich brachte usw. Und doch ist der Anspruch der Aufklärung schnell in der Gefahr, von Menschen erfahrene, aber nicht beweisbare Wirklichkeiten, in Frage zu stellen, wenn nicht gar zu verneinen. Was bliebe von der Liebe, betrachteten wir sie nur unter naturwissenschaftlicher Perspektive?
Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts sahen die Dichter und Denker, die Dichterinnen und Denkerinnen der Romantik diese Gefahr der Einseitigkeit der Aufklärung und stellten dieser – in gewisser Form begann das schon ca. fünfundzwanzig Jahre vor 1800, in der Epoche von Sturm und Drang und Empfindsamkeit – ihre Wirklichkeitswahrnehmung gegenüber.
Das Motiv der Sehnsucht, am berühmtesten ist hier wohl die Suche nach der blauen Blume in Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“, trat gemeinsam mit den Motiven des Nebels, der Nacht, der (unerfüllten, sehnsüchtigen) Liebe in den Blick der romantischen Autoren. Aber auch Gespenstergeschichten, die ja auch auf eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit verweisen, finden in der Schauerromatik ihren Platz.
Religion und deren Symbolik gehörte für Aufklärer, auch angesichts der von ihnen vorgebrachten Kirchenkritik und des Kampfes gegen die (christliche) Religion im Nachklang der französischen Revolution, in das Reich der dunklen Zeit vor der Aufklärung, in der Religion allzu oft zur Vernebelung der Gedanken der Menschen missbraucht worden war, auch um z. B. Machtinteressen zu verschleiern,
Vor diesem Hintergrund mag es kein Zufall sein, dass viele Vertreter und Vertreterinnen der Romantik selbst oft religiös und Katholiken waren, die gegen die Aufklärung und gleichzeitig als deren Fortführung andere Motive suchten, die Nacht, den Nebel, das Unscharfe, Verschleierte in den Blick nahmen, und sich an den Grenzen des dem aufklärerische Denkens Zugänglichem zu bewegen.
In diesem Kontext steht Josef Mohrs „Stille Nacht, heilige Nacht“. Hier trifft die Metaphorik des Weihnachtsfestes als ein Fest des Lichtes, in dem Sinne, dass in christlicher Perspektive das „Licht der Welt“ in das Dunkel der Zeit hinein tritt, auf die Zeit, in der das Gedicht / Lied entstanden ist.
Weihnachten ist ein Fest zur Zeit der Wintersonnenwende und schließt so wohl an vorchristliche Lichtfestivitäten dieser Jahreszeit an, doch Mohr geht in seinem Gedicht so weit zu sagen, dass es eine Nacht ist, die heilig ist, eine Nacht, in der alles schläft, während das, was Christen als Teil des göttlichen Heilshandelns sehen, geschieht.
Hier wird der Aufklärungsmystik mit ihrer Lichtmetaphorik die Lichtmetaphorik des christlichen Glaubens gegenüber gestellt, dem Verstand Erwachsener wird die Bedeutung des kleinen Kindes vor Augen geführt.
In diesem Sinne ist Josef Mohrs Weihnachtstext romantisch durch und durch; gleichzeitig versucht der Text theologische Wahrheiten zu vermitteln, religiöse Wahrheiten, in einer Zeit, in der es gerade dem Katholizismus schwerer und schwerer zu fallen begann, sich in ach so aufgeklärten Kontexten zu rechtfertigen.
Wenn es je zutraf, dass sich die Romantiker gegen die Aufklärung wandten, in den meisten Fällen scheint es eher der Versuch gewesen zu sein, der oft als intellektuell kalt empfundenen Entwicklung aufklärerischen Denkens, die Möglichkeit anderer Erkenntnisweisen im Sinne ganzheitlicher Erkenntnis zur Seite zu stellen, so trifft diese antiaufklärerische Tendenz auf Mohrs Text in seiner Zeit wohl zu.
Verbunden mit Grubers Musik gelingt es diesem Gedicht aber bis heute, romantische Gefühle in Menschen zu aktivieren. Wir aufgeklärte Menschen, sind wir es wirklich?, lassen uns von einem der antiaufklärerischsten Texte der möglicherweise in weiten Kreisen gar nicht so antiaufklärerischen Romantik verzaubern, von einem Gedicht, das als Gedicht zudem höchst mittelmäßig ist!?
Wie so oft bei Bestsellern, so auch hier: Es braucht nicht viel, um die Herzen der Menschen zu erreichen, unabhängig vom Bildungsgrad. Und damit ist das Lied dann plötzlich doch wieder ein authentischer Ausdruck dessen, was an Weihnachten gefeiert wird, trotz mancher Bedenken gegenüber der literarischen Qualität von „Stille Nacht, heilige Nacht“: Christen feiern die Ankunft eines Gottes in menschlicher Gestalt, der kein exklusiver Bildungsbürgergott ist, kein Gott ausschließlich derer, die reich an Bildung oder Geld sind, sondern einer, der sich gegen Rechtfertigungszwänge durch Bildung und Besitz stellt und statt dessen den Wert des Menschen an sich ins Zentrum stellt, diesseits aller Leistungen, mit deren Hilfe Menschen kategorisiert werden.
Und in diesem Sinne ist der literarisch erst einmal bescheidene Text Mohrs auf Weihnachten und die christliche Botschaft des Festes gewendet, in seiner fast schon naiven Machart, ein großartiger Text, der letztlich nur dann zu Kitsch wird, wenn er von der in ihm vermittelten Botschaft und deren Bedeutung losgelöst gesehen wird. – Angesichts heutiger Kommerzialisierungstendenzen in allen Gesellschaftsbereichen und des Weihnachtsfestes insbesondere, angesichts des Leistungsdrucks und der Tendenz zur Reduktion des Wertes von Individuen auf deren wirtschaftlichen und durch formale Zertifikate (Zeugnisse) belegbaren Wert, bekommt das vielleicht einst wirklich antiaufklärerische Lied plötzlich einen ganz eigenen aufklärerischen Wert, so da nur Ohren sind, diese Seite des Liedes zu hören, zu fühlen und zu leben.
Wow! Vielen Dank für diese nachvollziehbare und informative Analyse (besonders für mich als Physiklehrer… g). 🙂
Vielleicht sollte man die folgenden Zeilen aus den heute weitgehend unbekannten Strophen doch nicht ganz übergehen:
„Und als Bruder huldvoll umschloß
Jesus die Völker der Welt!
[…]
Aller Welt Schonung verhieß!“
Es spricht daraus m.E. eine Kriegsmüdigkeit, nachdem man erfahren hatte, dass die Befreiungskriege keine Freiheit gebracht hatten. Und andererseits klingt darin ein ganz unromantischer Internationalismus an.
Andererseits: „Holder Knab’ im lockigten Haar“ ist für mich durchaus nicht ‚authentischer Ausdruck dessen, was an Weihnachten gefeiert wird‘.
@apanat
Natürlich hast du recht: Einzelzeilen des Gedichtes zeigen durchaus die Schwächen des Textes auf. Ein Grund dafür, dass ich eher eine grundlegende Einordnung vorgenommen habe, statt mich an eine Detailanalyse zu wagen.
Was du über einen unromantischen „Internationalismus“ beschreit, könnte man ebenso als Ausdruck Mohrs Katholizismus verstehen, da dieser lange vor der Idee eines „Internationalismus” als grenzübergreifend verstanden wurde. Dass diese von dir angeführte Zeile darüber hinaus eine Reaktion auf die Erfahrungen in den napoleonischen Kriegen darstellen könnte, ist mir nachvollziehbar. Das wird auch von anderen Interpreten so gesehen.
Fände es schön, wenn du diese Aussage, die so ja erst einmal nur als Behauptung im Raum steht, näher darlegen und begründen könntest. Ohne deine Begründung für diese Aussage zu kennen, fällt es mir schwer, darauf zu reagieren.
@Herr Larbig Zunächst einmal: Das Lied besteht sicher nicht nur aus platten Stereotypen und ist sehr wohl interpretationsfähig (zwei Kriterien, die gegen Kitsch sprechen).
Der „holde Knab‘ im lockigten Haar“ ist aber m.E. auf Schönheit und Attraktivität hin stilisiert und weder ein realistisches Neugeborenes, bei dem die Haare eher am Kopf kleben und nicht sonderlich reichlich sind, noch ein passendes Bild für den Messias und den Sohn Gottes.
@apanat: Nicht nur platte Stereotypen – Zustimmung. Es werden durchaus zentrale Themen des christlichen Glaubens angesprochen.
Dass der „holde Knabe im lockigen Haar“ eine ästhetische Stilisierung ist, sehe ich auch so.