Gedichtinterpretation: Joseph von Eichendorff, Das zerbrochene Ringlein (In einem kühlen Grunde)
Gedichtinterpretation: Joseph von Eichendorff, Das zerbrochene Ringlein (In einem kühlen Grunde) von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
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Joseph von Eichendorff (1788–1857)
Das zerbrochene Ringlein
In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein‘ Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei.
Sie hat die Treu‘ gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
Ich möcht‘ als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.
Ich möcht‘ als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still!
Ein Mühlrad rauscht gleichmäßig, angetrieben von einem fortlaufend fließendem Bach. (V2) So beginnt Joseph von Eichendorffs Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“ und es scheint fast, als habe Eichendorff dieses Bild eines Mühlrades als formalen Rahmen des Gedichtes gesetzt: Gleichmäßig strömen die dreihebigen Jamben durch die 20 Verse, die in Vierergruppen auf fünf Strophen aufgeteilt sind, gleichmäßig wird der Kreuzreim verwendet. Doch bereits in der ersten Strophe bricht sich der Reim der Verse 2 und 4, erklingt ein unreines Reimpaar, wenn auf „Mühlenrad“ „hat“ reimt. – Das gleichmäßige Drehen des Mühlenrades, der, im Gedicht freilich nicht genannte, aber wohl mitzudenkende, gleichmäßige Fluss des Bachs, werden als etwas „Gebrochenes“ zur Sprache gebracht, denn dieser Anblick ist für das lyrische Ich mit der Erinnerung an „mein Liebste“ (V3) verbunden, von der er sich verraten fühlt, denn „Sie hat die Treu gebrochen” (V7).
Nun blickt das lyrische Ich auf den Ort, an dem die Geliebte einst wohnte, erinnert sich des Treuebruchs und der Ring, der in seiner geschlossenen, kreisförmigen Gestalt ein Symbol für das Unzerbrochene, das Vollkommene, das Ewige ist, „sprang entzwei“ (V8).
Was tun in ein solcher Situation? Das lyrische Ich überlegt: Will er ein Spielmann sein, der durch die Lande reist (V9)? Oder vielleicht ein Reiter, der sich in das Getümmel der Schlacht stürzt? Auch wenn die Überlegungen in den Strophen 3 und 4 mit einem Punkt enden, so sind es doch auch Fragen, ob einer dieser Wege, die in die Ferne führen, weg von den Orten, an denen der Anblick der Mühle die schmerzliche Erinnerung immer wach hält, dem Leid des lyrischen Ichs ein Ende setzen kann.
Die letzte Strophe, in der das lyrische Ich den Klang des Mühlrads als Auslöser der Gedanken, die in dem Gedicht geäußert werden, wieder aufgreift, gibt Antwort: Das lyrische Ich ist zu einer Antwort auf die Frage nicht fähig, erkennt vielleicht, dass auch die Flucht die Erinnerung nicht tilgen wird. Und so bekommt das Mühlenrad aus V2 in Strophe 5 eine symbolische Bedeutung. Es steht für die ständig sich aufdrängende Erinnerung, für die melancholisch geprägte Entscheidungsunfähigkeit, die mit dieser Erinnerung verbunden ist, für das gleichmäßig das ganze lyrische Ich durchdringende und bestimmende Leiden an der zerbrochenen Liebe, für den Teufelskreis, in den dieses Leiden das lyrische Ich gezogen hat. Das Mühlrad wird zum Rad, auf das das lyrische Ich aufgespannt ist, wie es die Opfer mittelalterliche Justiz waren, die gerädert wurden. Das lyrische Ich fühlt sich „wie gerädert“. Wir kennen diesen Ausspruch bis heute, der bisweilen genutzt wird, wenn Menschen sich müde, aller Energie beraubt oder depressiv fühlen. – Das ist große Kunst: Nicht zu sagen, dass man sich gerädert fühlt, sondern einen scheinbar konkreten Gegenstand zu nehmen, der unter der Hand mit ambivalenten, letztlich nicht völlig auflösenbaren Bedeutungen verbunden wird.
Ja, das lyrische Ich muss sich eingestehen, dass es nicht weiß, was es angesichts des Lärms, den das Mühlrad erzeugt – wohl mehr innerlich, als Ankerpunkt der Erinnerung – eigentlich will. Und so greift es zur finalen Phantasie des Sterben-Wollens, denn dann „wär’s auf einmal still!“ (V20). Ein Ausrufezeichen, gepaart mit dem Wort „still“ (V20) beschließen das Gedicht und bringen die Sehnsucht des lyrischen Ichs auf den Punkt, die ein wenig vereinfacht mit einem „Ich will endlich meine Ruhe haben“ zusammengefasst werden kann. „Still!“, ihr Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Seelenschmerzen, schweigt endlich. „Still!“
Dieses „Still!“ ist aber auch ein Appell an die eigenen Gedanken, an die eigenen Fluchtwünsche, die in den Strophen 3 und 4 zum Ausdruck kommen. In Strophe 3 ist es die Flucht in die Heimatlosigkeit des Spielmanns, der, berufsbedingt, kaum in die Lage kommen wird, sich weiteren tiefen menschlichen Beziehungen stellen zu müssen, nach dem er einmal so verletzt wurde, wie das lyrische Ich des Gedichts.
Und auch das Soldatenleben, wie es in Strophe 4 imaginiert wird, ist ein unruhiges, unstetes Leben. Todesgefahr begleitet dieses Leben. Hier taucht der Todeswunsch schon indirekt auf, der dann in Strophe 5 direkt ausgesprochen wird.
Das Vergessen wird so nicht erreicht. Das lyrische Ich sehnt sich letztlich nach Erlösung. Für diese Erlösung steht das „still!“ als letztes Wort des Gedichts.
Eichendorffs „Das zerbrochene Ringlein“ ist Ausdruck der hohen Kunst der Lyrik: Inhalt und Form sind ineinander verwoben, spiegeln sprachmächtig und doch in einfachen Worten eine ganze Seelenlage in 20 kurzen Versen wider, die auch einen heutigen Leser in sich hinein ziehen können.
Das so einfach wirkende Gedicht ist komplex. Und auch die gerade noch unterstellten „einfachen Worte“ wirken nur einfach, denn zumindest im ersten Vers taucht mit der Formulierung „In einem kühlen Grunde“ gehobene Sprache auf. Gemeint ist ein kühles Tal, in der die Mühle steht. Und selbst dieses Bild, das „kühl“ und „Grunde“ kombiniert, kann, so sehr es als Ortsbeschreibung daher kommt, bereits als Zusammenfassung der Gefühle des lyrischen Ichs betrachtet werden. Vom „kühlen Grunde“ ist es nicht weit zur inneren Kühle, die jemand verspürt, der am Abgrund steht oder aus der Tiefe des Tals den Blick nur bis zu dessen Begrenzungen schweifen lassen kann und so keinen Horizont sieht, keine Perspektive für das eigene Leben mehr erkennen kann, eine Vorausdeutung, die aber erst vom Ende des Gedichtes her zu erkennen ist. Und so schließt sich das „Rad“ dieses Gedichtes, so treten Ende und Anfang das Gedichts in Verbindung und bilden wohl eine der schönsten, traurigsten und nachvollziehbarsten Dichtungen über das so oft besungene Thema des Leidens an zerbrochener Liebe. Und entsprechend wurde das Gedicht auch rezipiert: Heute ist es als Volkslied bekannt.
Wieder einmal eine großartige Interpretation.
Dennoch sei mir eine Anmerkung gestattet:
Das lyrische Ich dieses Gedichts ist innerlich so umgetrieben, dass es rasen möchte, hin und her hetzen, dem Tod ins Auge blicken, nur um abgelenkt zu werden. Von ‚innerer Kühle‘ spüre ich nichts. Die gibt es etwa bei Büchner, wo Personen alles in sich als tot empfinden, abgestorben.
Unser lyrisches Ich dagegen ist getrieben. Es entscheidet sich nur aus dem kühlen Grund gegen die Flucht in die Welt, weil es voraussieht, dass all das ihm keine Ruhe bringen wird.
Ruhe – so schätzt es seine Situation ein – findet es (wie der Wanderer am Brunnen vor dem Tore) nur im Tod.
So jedenfalls lese ich das Gedicht.
Das „auf einmal still!“ finde ich in der Interpretation hervorragend herausgearbeitet.
Danke für diese Ergänzung, diese Erweiterung der Perspektive, diese Verschiebung der Perspektive.
So wünsche ich mir das: Eine Interpretation, die durch Kommentare ergänzt wird, die den Blick weiten, andere Schwerpunkte setzen. Ich finde das toll, weil so einfach auch deutlich wird, dass Interpretationen mit unterschiedlichen Zugangsweisen nachvollziehbar sind und es eben „die richtige“ oder gar „die endgültige“ Interpretation nicht gibt, solange ein Ansatz nur angemessen nachvollziehbar ist.
Was die „Kühle“ angeht: Für mich schließen sich die „innere Kälte“ und die „Raserei“ nicht aus. Hochkochende Emotionen stehen für mich nahe der „Gefühlslosigkeit“, nämlich dann, wenn der Reiz zu stark wird, die Gefühle selbst bedrohlich werden. Diesen lähmenden Stillstand meine ich, wenn ich von der inneren Kühle spreche. Ich verbinde hier assoziativ den „kühlen Grund“ mit der Todessehnsucht am Ende, die freilich auch durch ein Übermaß an Emotionen entsteht, ein Übermaß, das lähmt, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit „einfrieren“ lässt. Aber ja: Ich kann nachvollziehen, dass der Zustand des lyrischen Ichs anders gesehen werden kann, hoffe aber, dass auch meine Lesart zumindest nachvollziehbar ist.
Die Multiperspektivität gefällt mir auch daran, wenn Unterricht sich nach außen öffnet.
Und was die „Eindeutigkeit“ von Interpretationen angeht: Enzensberger hat von seinen Gedichten gesagt, er wisse nicht, wie man sie interpretieren solle. Das müsse man schon selbst tun.
Finde die Interpretation sehr interessant, habe das Gedicht, oder besser gesagt einige Teilaspekte jedoch anders ausgelegt. Das lyrische Ich habe ich als Antriebslos beschrieben, was durch die Tatsache gestützt wird, dass es zwar über die Möglichkeiten seines weiteren Lebens nachdenkt, diese jedoch nicht ausführt. Auch stellt es ich in Vers 18 die Frage was es „will“ antwortet jedoch nur mit „möchten“ darauf, was m.E. eine abgeschwächte Form des Wollens darstellt und wieder auf die Ziellosigkeit bzw. Antriebslosigkeit hindeutet. Das lyrische Ich scheint dauerhaft der Passive Part der Beziehung zu sein, auch erkennbar an Vers 2:
Sie hat mir Treu versprochen,
Sie hat die Treu’ gebrochen,
Seine (ehemalige) Frau scheint der aktive Part gewesen zu sein. So könnte man schließen, dass er ihr zu langweilig geworden ist und sie ihn deshalb verlassen hat. Andererseits könnte man ihm natürlich nicht langeweile, sondern Zufriedenheit und Ausgeglichenheit unterstellen, was für manche Menschen halt langweilig ist, besonders in einer Beziehung bzw. Ehe. Dies ist jedoch reine Ansichtssache.
Ich hoffe ihr könnt meine Gedanken nachvollziehen.
MFG xYx
@xYx „die melancholisch geprägte Entscheidungsunfähigkeit, die mit dieser Erinnerung verbunden ist“ hat Herr Larbig schon angesprochen.
Seine Ehefrau aber wird das lyrische Ich wohl kaum als „Liebchen“ bezeichnen.
So weit mein Versuch, deine Interpretation nachzuvollziehen. Möglich ist sie aber.
Weniger Kommentar als Frage:
Ich bin seit mehr als 50 Jahren im Männerchor. Irgendwann vor mehr als 30 Jahren habe ich daserste Mal erlebt, dass sich jemand weigerte die Strophe vom Reiter in der blutgen Schlacht zu singen. Mittlerweile habe ich feststellen können, dass es zwei Lager gibt, die der Pazifisten, die diese Strophe ablehnen und die der Germanisten, die diese Strophe singen lassen, weil sonst das ganze Gedicht inhaltlich zerrissen würde. Ich gehöre eher zum zweiten Lager.
Jtzt wäre ich für eine Antwort dankbar
Man soll Geschiebenes immer unter dem Aspekt der Zeit sehen, wann es gechrieben wurde. Ach herrjeh „die blutige Schlacht!“ Wohl vergessen dass Eichendorff im Lützowschen Freikorps diente! dann auch in der Landwehr, und die Zeit der Befreiungskriege 1807-1815 eine wirkliche Zeit des großen Schlachtens war, die ich wirklich nicht miterleben möchte..
@Wilfried:
Auch als Pazifist kann man davon angerührt sein, wenn ein unglücklicher Liebhaber den Tod sucht.
Das Gedicht ist ja ein Rollengedicht.
Wer es als Sänger vorträgt, spricht ja nicht von sich. Auch wenn man den richtigen Ausdruck für die Interpretation der Rolle zu finden versuchen sollte.
Ich möcht’ als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
Hör ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still!
Danke sehr. Nützlich für meine Deutsch für Fort. beim Gymnasium hier in CA. @herrplatt