Gedichtinterpretation: Joseph von Eichendorff, Mondnacht

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Gedichtinterpretation: Joseph von Eichendorff, Mondnacht von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz
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Lineare und aspektorientierte Interpretationen stehen im Deutschunterricht in der Regel im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um die Deutung literarischer Texte geht.

Die lineare Interpretation folgt dabei sehr kleinschrittig dem Verlauf eines Textes und baut eine Gesamtinterpretation linear entlang des Textes auf.

Im Extremfall wird Zeile für Zeile, Satz für Satz in den Blick genommen, sodass sich diese Form der Interpretation vor allem für kürzere Texte anbietet und vor allem bei Gedichten ihre Stärke ausspielen, aber auch bei kürzeren Prosatexten zum Einsatz kommen kann.

Bei längeren Texten werden Absätze oder Kapitel in den Blick genommen, doch bietet sich solchen Texten eher die aspektorientierte Interpretation an, die von Anfang an auf einzelne Aspekte eines Textes als Schwerpunkt einer Interpretation hin ausgerichtet ist.

Während die lineare Interpretation theoretisch schon während dem ersten Leseprozess geschrieben werden kann, praktisch wird auch meistens der Text mehrfach gelesen, bevor die interpretierende Annäherung beginnt, setzt die aspektorientierte Interpretation gute Textkenntnis voraus.

Soweit die Theorie. An dieser Stelle soll nun einmal, anders als bei meinen bisherigen Gedichtinterpretationen auf herrlarbig.de, eine möglichst konsequent durchgeführte lineare Interpretation als Zugang zu einem lyrischen Werk versucht werden.

Zum Teil werde ich Abschnitte der Interpretation selbst noch ein wenig erläutern. Solche erläuternden Teile erscheinen in eigenen, eingerückten und farblich abgesetzten Absätzen, die kursiv gesetzt sind. Diese Teile können übersprungen werden, wenn alleine die Interpretation des Gedichtes interessiert.

Joseph von Eichendorff

Mondnacht (1837) ((Das Gedicht ist wohl schon um 1835 entstanden, wurde aber 1837 erstmals veröffentlicht.))

Es war, als hätt‘ der Himmel

Die Erde still geküsst,

Dass sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müsst.

 

Die Luft ging durch die Felder,

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis‘ die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

 

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

 

Schritt für Schritt: Eichendorffs Mondnacht linear interpretiert

Die Überschrift Joseph von Eichendorffs 1837 veröffentlichten Gedichts „Mondnacht“ gibt dem Erwartungshorizont Lesender eine Richtung: Das Gedicht spielt nachts, in einer klaren Nacht oder zumindest in einer solchen, in der der Mond deutlich zu erkennen ist, sei es auch zwischen Wolkenfetzen hindurch. Es wird sich zeigen, ob dies im Verlaufe des Gedichts näher dargestellt wird, ob die Überschrift mit dem Inhalt übereinstimmt oder, was Gedichtüberschriften auch immer wieder tun, ob die Überschrift eine falsche Erwartungshaltung weckt, die dann im Verlaufe des Textes mit Bedeutung angereichert wird. Doch bei Eichendorff als Dichter der Romantik ist zu erwarten, dass ein Gedicht folgt, das nicht nur eine Mondnacht beschreibt, sondern auch die Gefühle des lyrischen Ichs in einen Zusammenhang mit dieser Nacht stellt.

In dieser Einleitung wird, was oft nicht gemacht wird, die Überschrift als Teil des Gedichts berücksichtigt. Ja, wenn ein Gedicht einen Titel hat, dann ist dieser Bestandteil des Gedichts – und angemessen zu berücksichtigen. Darüber hinaus wird das Gedicht mit Bezug auf den Autor bereits in den Rahmen einer Literaturepoche gestellt und Vorwissen über diese Literaturepoche berücksichtigt, um die Erwartungshaltung, die der Interpret gegenüber diesem Gedicht hat, darzustellen und zu begründen. Das bedeutet nicht, dass eine solche Erwartungshaltung im Laufe des Gedichtes bestätigt werden muss. Der Verlauf des Gedichtes kann auch eine ganz andere Richtung nehmen, die dieser von der Überschrift ausgelösten Erwartungshaltung widerspricht. Wenn dies passiert, ist es im Verlauf der Interpretation angemessen zu berücksichtigen und die Frage zu stellen, welche Bedeutung dies für das Verständnis des Gedichtes hat.

Ein Vergleich, nicht mit „wie“, sondern mit „Es war als“ eingeleitet, eröffnet in Vers 1 das Gedicht und stellt sofort den Bezug zum lyrischen Ich her, das hier offensichtlich seinen Eindruck von dieser Mondnacht darzustellen beabsichtigt. Diese drei ersten Wörter des Gedichts vermitteln den Eindruck, dass hier weniger eine Beschreibung der Mondnacht das Ziel ist als die Darstellung einer Stimmung, die in dieser Mondnacht erzeugt wird.

Das nächste Wort „hätte“ wird um das -e verkürzt. In der Folge wird es vom zweisilbigen zum einsilbigen Wort, was notwendig ist, da dieser Vers als dreihebiger Jambus (Es war als hätt’ der Himmel) mit weiblicher / klingender Kadenz gestaltet ist. Außerdem verstärkt das „hätt’“ als Konjunktiv Zwei (irrealis) den Eindruck, dass es um die Wahrnehmung der Mondnacht durch das lyrische Ich geht, denn bereits hier wird angedeutet, dass der Eindruck des lyrischen Ichs von einem Bild ausgeht, das also solches kein Teil der „Realität“, sondern Teil des Eindrucks, der Stimmung des lyrischen Ichs ist.

Mit „der Himmel“ lenkt das lyrische Ich den Blick des Lesenden „nach oben“, zum Himmel, der sowohl für den realen Himmel stehen kann, der in der deutschen Sprache aber auch den Bereich des Transzendenten umfasst. An dieser Stelle bleibt offen, welche Himmelsvorstellung gemeint ist und das fehlende Satzzeichen am Ende des Verses ist ein erster Hinweis, dass das Versende noch nicht das Satzende ist. Ein Enjambement leitet in Vers 2 über, der mit „die Erde“ beginnt und diese Erde somit unmittelbar mit dem Himmel formal verbindet. Dass es nicht nur eine formale Verbindung ist, zeigt der Rest des Vers 2, der wiederum dreihebig jambisch gestaltet ist, nun aber mit einer männlichen / stumpfen Kadenz endet und mit dieser auch den ersten Sinnschritt des Gedichts markiert. Das „still geküsst“ verbindet Himmel und Erde in der Vorstellung des lyrischen Ichs, doch da der erste Sinnschritt mit einem Komma endet, ist der Eindruck des lyrischen Ichs noch nicht vollendet, der hier dargestellt wird.

In Vers 3 wird der Eindruck des lyrischen Ichs vertieft, eingeleitet mit der Konjunktion „dass“, die auf einen Nebensatz hinweist, also darauf, dass dieser Kuss von Himmel und Erde nun weiter charakterisiert wird. Diese Charakterisierung wird zunächst mit dem visuellen Eindruck des „Blütenschimmers“ verbunden, der dem lyrischen Ich faktisch vor Augen steht. Es ist wohl eine Nacht im Frühjahr oder Sommer, eine Nacht, in deren fahlem Licht die Blüten schimmernd zu erkennen sind. Dieser visuelle Eindruck wird in Vers 4 personifiziert, dabei wird der Erde (sie), wiederum unter Verwendung des Konjunktivs Zwei (müsst), die Fähigkeit des Träumens (von ihm – dem Mond) zugeschrieben, eine Fähigkeit, die aber alleine den Eindruck des lyrischen Ichs in bildlicher Sprache darstellt. Und wiederum wird um des Rhythmus Willen ein -e weggelassen („müsst“ statt „müsste“), sodass spätestens hier davon ausgegangen werden kann, dass der Rhythmus des Gedichts bewusst vom Autor gestaltet wurde und somit die Form unmittelbar dem Inhalt des Gedichtes verbunden ist.

Auch wenn hier Zeile für Zeile vorgegangen wird: Diese Interpretation entsteht vor dem Hintergrund, dass das Gedicht schon ganz gelesen wurde. Ohne dass hier die Form der linearen Interpretation verlassen würde, fließt diese Kenntnis natürlich in die Betrachtung der Einzelverse ein.

Die erste Strophe Eichendorffs „Mondnacht“ stellt, so kann zusammenfassend gesagt werden, eine die Stimmung des lyrischen Ichs in dieser Naturerfahrung deutenden Zugang zu dieser Erfahrung dar. Dabei ist sich das lyrische Ich dieser Deutung bewusst, nutzt den Konjunktiv Zwei, um diese in gleichmäßig fließendem Rhythmus gesprochene Erfahrung als solche zu kennzeichnen. Dennoch ist die Erfahrung nicht irreal, sie geht vielmehr über die rein sachliche Ebene der Naturwahrnehmung hinaus. Der klare Himmel, die Erde, der Blütenschimmer bilden in der Wahrnehmung des lyrischen Ich eine Einheit, sie sind nicht getrennt. Der Eindruck geht über die reine Beschreibung dessen, was für das lyrische Ich in dieser Situation „ist“ hinaus. Und doch erfolgt die Versprachlichung dieser Erfahrung erst im Nachhinein, wie die Nutzung der Vergangenheitsform in Vers 5 verdeutlicht.

Vers 5 holt nun die Beschreibung der eigentlichen Situation nach. „Die Luft ging durch die Felder“, ist erst einmal nichts anderes, als der Versuch einer Versprachlichung einer nicht weiter gedeuteten Wahrnehmung, auch wenn an dieser Stelle statt „ging“ das dem im Alltagsgebrauch mit der Luft eher verbundene Verb „wehte“ hätte genutzt werden können. Dennoch scheint das lyrische Ich der Luft hier keine „Beine machen“ zu wollen oder, anders ausgedrückt, hier liegt keine Personifizierung der Luft vor, sondern tatsächlich nur eine Beschreibung der Situation, in der das lyrische Ich die in der ersten Strophe bereits bildhaft angedeutete existenzielle Erfahrung verortet. Dafür spricht auch, dass Vers 5 eine abgeschlossene Sinneinheit bildet und mit einem Komma endet.

Ein solches Komma steht auch am Ende von Vers 6, in dem eine erste Folge der wohl nur sehr leichten Luftbewegung in dieser Nacht beschrieben wird, die die Ähren auf den Felder in eine leichte, sachte Bewegung versetzt. Während also in Strophe 1 jeweils zwei Verse (1 – 2 und 3 – 4) durch versübergreifende Sinnzusammenhänge und formal durch ein Enjambement verbunden sind, erfolgt in Strophe 2 eine Aufzählung von Sachverhalten. Strophe 2 ist in diesem Sinne eine Bestandsaufnahme, der Versuch, die Situation sprachlich zu vermitteln, in der die Stimmung auftrat, die im Zentrum des Gedichtes steht.

Diese Bestandsaufnahme wird in Vers 7 fortgeführt. Neben den visuellen Eindruck der sich leicht im Wind wiegenden Felder tritt hier die Wahrnehmung des leisen Rauschens der Wälder, das durch diesen leichten Wind erzeugt wird. Und wiederum ein Komma am Zeilenende.

Vers 8 wechselt nun die Wahrnehmungsebene, stellt eine Art Höhepunkt der sinnlichen Wahrnehmung des lyrischen Ich dar, die in Strophe 2 im Zentrum steht. Über all diesen Detailwahrnehmungen steht die Wahrnehmung der sternklaren Nacht, eine Situation, die bis heute in der Lage ist, bei Menschen „romantische Gefühle“ auszulösen.

Das „Und meine Seele spannte“ in Vers 9 eröffnet die dritte Strophe mit dem ersten direkten Auftauchen des lyrischen Ichs in diesem Gedicht. Es erfährt so etwas wie „Weite“, eine „Weite“, die unmittelbar an die Erfahrung der Einheit von Himmel und Erde in Strophe 1 und an die beschriebenen Gegebenheiten in Strophe 2 anschließt, nun aber die eigentliche Erfahrung, die in dem Gedicht aufgegriffene Stimmung ins Zentrum stellt, wie Vers 10 direkt bestätigt, sind es doch „Flügel“, die die Seele ausspannt. Sie erhebt sich, sie fliegt, sie wird weit. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, dass das lyrische Ich in diesem Gedicht nicht nur zu versprachlichen versucht, sondern auch an Leser des Gedichtes weitergeben will!?

Und hier taucht das Enjambement aus Strophe 1 wieder auf. Wieder wird das Gefühl der Einheit formal widergespiegelt.

Schon gemerkt: Auch bei einer linearen Interpretation steht nicht streng wirklich nur die einzelne Zeile im Mittelpunkt. Natürlich kann auf alles Bezug genommen werden, was bereits erarbeitet wurde. „Linear“ ist diese Art der Interpretation nur in der Art, wie sie Schritt für Schritt Zeile für Zeile in den Blick nimmt und sich an dieser „linearen“ Lesart entlang arbeitet. Am Ende soll idealerweise trotz dieses kleinschrittigen Vorgehens ein Gesamtbild des Gedichts stehen, ein Gesamtbild, das auch dadurch entsteht, dass auf bereits  erarbeitete Zeilen und Strophen intensiv Bezug genommen wird.

Und wieder ein Hauptsatz, der die ersten zwei Verse der Strophe umfasst und der somit parallel zu Strophe 1 gestaltet ist. Vers 11 führt das begonnene Bild weiter. Nicht nur spannt die Seele ihre Flügel aus, sie fliegt auch, fliegt „durch die stillen Lande“, nimmt diese Lande aus einer Art Vogelperspektive war, also aus einer Perspektive, in der die Gesamtheit der Wirklichkeit in den Blick genommen, die Einheit von Himmel und Erde, die Verbundenheit von allem wahrgenommen werden kann. Brentano fasst dieses romantische Gefühl in „Sprich aus der Ferne“ mit den Versen „Alles ist freundlich wohlwollend verbunden, / Bietet sich tröstend und traurend die Hand, / Sind durch die Nächte die Lichter gewunden, / Alles ist ewig im Innern verwandt.“

Es ist ein Gefühl der Ganzheit, das das lyrische Ich als eine Form des „Zuhause“ erlebt, denn in Vers 12 wird diese erfahrene Weite der Seele, die durch die stillen Lande fliegt, mit einem „als flöge sie nach Haus“ charakterisiert; nun durch ein Komma von Vers 11 abgesetzt und somit hervorgehoben, da nicht in einer Aufzählung sondern als deutende Beschreibung des Fliegens gedacht. Vers 12 ist der Vers, auf den das ganze Gedicht zu läuft, in dem es seinen Höhepunkt findet, in dem das Gefühl des lyrischen Ichs kulminiert, das sich selbst in der Naturwahrnehmung in seiner Ganzheit wahrzunehmen vermag.

Resumee:

Ein Klassiker der romantischen Lyrik, eines der wohl bekanntesten Gedichte dieser literarischen Epoche und dabei auch ein das Lebensgefühl der Romantik treffend darstellendes Gedicht! Was von aufgeklärten Geistern auseinander gerissen wurde, fügen Romantiker wieder zusammen. Himmel und Erde sind verbunden, die Naturwahrnehmung ist mit der Psyche des Menschen auf das Engste verbunden, hinter der Wirklichkeit gibt es eine Kraft, die über das Beobachtbare hinaus geht. Die Romantiker gehen so weit zu sagen, dass diese Kraft den Menschen zu sich selbst kommen lässt, den Menschen als Ganzheit Mensch sein lässt.

Eichendorffs „Mondnacht“ greift diese Weltsicht der Romantik nicht nur auf, verbindet diese nicht nur mit der Sehnsucht nach Weite (des Geistes, der Wahrnehmung, der gesamten menschlichen Existenz), sondern vermag sogar, dieses Gefühl beim Leser zu erzeugen.

Das Gedicht ist ein Zeugnis der Kraft, die der Dichtung inne wohnt. Sie ist in der Lage, die Wirklichkeit in Sprache zum Singen zu bringen, Erfahrungen, die ein lyrisches Ich in einer konkreten Naturerfahrung macht, in eine Sprache zu fassen, die selbst diese Erfahrung der Ganzheitlichkeit beim Leser auslösen kann oder aber zumindest eine Sensibilität für diese Erfahrungen schafft; eine Sensibilität, die den Menschen in dieser Hinsicht erfahrungsfähig macht.