Gedichtinterpretation: Clemens Brentano, Sprich aus der Ferne
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Clemens Brentano (1778–1842)
Sprich aus der Ferne (1801)
Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.
Wenn das Abendrot niedergesunken,
Keine freudige Farbe mehr spricht,
Und die Kränze still leuchtender Funken
Die Nacht um die schattigte Stirne flicht:
Wehet der Sterne
Heiliger Sinn
Leis durch die Ferne
Bis zu mir hin.
Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.
Glänzender Lieder
Klingender Lauf
Ringelt sich nieder,
Wallet hinauf.
Wenn der Mitternacht heiliges Grauen
Bang durch die dunklen Wälder hinschleicht,
Und die Büsche gar wundersam schauen,
Alles sich finster tiefsinnig bezeugt:
Wandelt im Dunkeln
Freundliches Spiel,
Still Lichter funkeln
Schimmerndes Ziel.
Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und traurend die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.
Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.
Das Offensichtliche liegt dem lyrischen Ich in Clemens Brentanos 1801 erschienenem Gedicht „Sprich aus der Ferne” viel zu nah. Das Ferne, das nicht Offensichtliche, das Verborgene, die „heimliche Welt” (V. 2) interessieren dieses lyrische Ich viel mehr. Möge diese „heimliche Welt“ einmal mehr zu ihm sprechen! Mit dieser Sehnsucht beginnt das Gedicht; diese Sehnsucht wird am Ende wieder aufgegriffen, indem exakt die gleiche Strophe wiederholt wird. Ein Rahmen, der sieben weitere Strophen umschließt.
Doch unter welchen Bedingungen kann diese Sehnsucht Wirklichkeit werden? Die Konditionalsätze in den Strophen 2, 4 und 6 geben Antwort, wenn auch metaphorisch verschlüsselt:
– Wenn die Sonne untergegangen ist und die Farben der Welt undeutlich werden, verblassen (V. 5f.),
– wenn die Sterne (V. 7f) und der Mond (V 13f.) aufgegangen sind,
– wenn die Sterne am Himmel funkeln (V 15f.) und
– (unheimliches) Dunkel über der Erde liegt, das lyrische Ich im Wald begleitet (V 21–24),
dann kann die „heimliche Welt“ zum lyrischen Ich sprechen. Und dieses „Sprechen“ spricht den ganzen Menschen an, packt ihn bei allen Sinnen. „Wenn“ (V. 5, 13, 21) die Bedingungen ideal sind, dann sieht das Auge nicht die naheliegende Welt im gleißenden Sonnenlicht, sondern das „leis“ (V. 11) sich verströmende Licht der Sterne dringt in das Auge, das Licht aus der „Ferne“ (V. 11). Und damit das Dunkel nicht zu großes „Grauen“ (V. 21) auslöst, scheint der Mond und wie ein leichter Wind „wehet Friede“ (V. 15), ein Friede, der den ganzen Körper erfasst, die Spannungen des Tages abfallen lässt, zu einer körperlich spürbaren Erfahrung wird. Doch vor allem das Sehen und das Hören bilden das Zentrum der metaphorischen Sprache. Die Sinne werden jedoch in einer ganz bestimmten Form angesprochen: Zwar soll die „heimliche Welt“ (V. 1, 33) zum lyrischen Ich sprechen (V. 1, 33), doch dies geschieht in einem Umfeld, dass als „leis[e]“ (V. 11) charakterisiert wird, als „still“ (V. 7), voller an Musik erinnernder Klänge (V. 17f.).
Diese akustischen Wahrnehmungen sind eng an visuelle Formen der Wahrnehmung gebunden, werden in synästhetisch gestalteten Versen sogar direkt miteinander verbunden. Die Farbe muss zum schweigen kommen (V. 6), jene Farbe, die im hellen Licht das Auge erreicht und in der Masse der Reize, die am hellichten Tage das lyrische Ich umgeben, jener heimlichen Welt kaum Resonanzräume bietet. Die „leuchtende[n] Funken“ (V. 7) sind „still“ (ebd.), ebenso die Träne, die den Mond charakterisiert (V. 13) und die Lieder „glänzen“ (vgl. V. 17f.).
Auf der anderen Seite ist das Gedicht, trotz der Dunkelheit, in der es seinen Raum findet, voller visueller Wahrnehmungen: Da sind das „Abendrot“ (V. 5), die „Farbe“ (V. 6), „leuchtende Funken“ (V. 7), eine „schattigte Stirn“ (V. 8), es glänzt (V. 17), es ist dunkel (V. 22f.), „finster“ (V. 25) gar, Lichter funkeln (V. 27), ein „Schimmern“ (V. 28) ist zu sehen, „Nächte“ und „Lichter“ (V. 31) werden unmittelbar miteinander verbunden.
Und in dieser Ganzheitlichkeit, in der das lyrische Ich in diesen Versen angesprochen wird, in dieser Ganzheitlichkeit, in der es „da ist“, präsent, anwesend, lauschend, schauend, staunend, zeigt sich sich die Erkenntnis, die in dieser Dunkelheit gewonnen werden kann, als Gegenpart zur aufgeklärten Erkenntnis, deren Lichtmetaphorik des Tages diejenige der Nacht gegenüber gestellt wird. Während das analytische Denken der Aufklärung das Einzelne in seinen Details wahrnimmt, ist die Einsicht des nächtlich schauenden lyrischen Ichs, entsprechend der Ganzheitlichkeit, mit der es sich ansprechen lässt, eine ganzheitliche, die wahrzunehmen vermag, dass „alles […] freundlich verbunden“ (V. 29) ist, das Trost und Trauer einander verwandt sind (V. 30), dass „alles […] ewig im Innern verwandt“ (V. 32) ist.
Diese Wahrnehmung der Welt aber ist keine, die ihre ganze Kraft im Verstande alleine entfalten kann, sie will erlebt, gefühlt werden. Die Einsicht, die das lyrische Ich aus früheren Erlebnissen genau dieses Zustandes, dieser Stimmung gewonnen hat, geht über den Verstand hinaus, ergreift den ganzen Körper, ist ein Wiegen und Wogen, das die Sinnlichkeit mit dem Verstand vereint. Diese Bewegung der Ganzheitlichkeit, die sich dem lyrischen Ich gleichzeitig aber nicht in der Klarheit des Tageslichtes zeigt, mag der Grund für das gewählte, wechselnde, dem Leser nicht leicht zugängliche, Vermaß sein, das in den Langstrophen 2, 4, 6 und 8 aus vierhebigen Daktylen und Trochäen, in den Kurzstrophen aus zweihebigen Daktylen und Trochäen gebildet ist. Dass dieses Metrum kein Zufall ist, was ja durchaus der Fall sein könnte, zeigt sich in der Konsequenz, mit der es durch alle Strophen durchgehalten wird, was angesichts der Kompliziertheit des Metrums kein Zufall sein kann. Dies sei hier beispielhaft an den ersten zwei Strophen gezeigt (betonte Silben sind hier fett dargestellt):
Sprich aus der Ferne (Daktylus, Trochäus mit weiblicher Kadenz)
Heim-lich-e Welt, (Daktylus; Trochäus mit männlicher Kadenz)
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.
Wenn das A-bend-rot nie-der-ge-sunk-en, (Trochäus, Daktylus, Trochäus mit weibl. Kadenz)
Kei-ne freudi-ge Far-be mehr spricht, (Trochäus, Daktylus, Trochäus, mit männl. Kadenz)
Und die Kränze still leuch-ten-der Funken
Die Nacht um die schat-tig-te Stirne flicht:
Das Gedicht entspringt dem Willen des Dichters, eine Situation zu gestalten und ist deshalb formal bewusst gestaltet. Doch anders als in Balladen, wird hier keine Geschichte erzählt, anders als in Gedankenlyrik werden keine philosophischen, religiösen oder weltanschaulichen Fragen reflektiert, sondern eine Stimmung dargestellt, in der das Objektive (die Nacht, der Sternenschein, das Mondlicht…) von subjektiven Empfindungen durchdrungen und von diesen in einen über-objektiven Zusammenhang hinein sogar „aufgelöst“. Und diese Subjektivität drückt sich in der metaphorischen Sprache aus, zu der Lesende einen subjektiven Zugang finden müssen, soll der in dem Stimmungsgedicht enthaltene Funke auf ihn überspringen.
Doch auch damit ist es noch nicht getan. Die letzte Strophe schließt den Rahmen, greift den Wunsch wieder auf, dass die „heimliche Welt“ (V. 2) „aus der Ferne“ (V. 1) zum lyrischen Ich sprechen möge. Und so stellt das Gedicht nicht die Stimmung selbst dar, die in ihr doch beschrieben wird, sondern ist Ausdruck nach der Sehnsucht, dass sich diese Stimmung wieder einstelle. Das Gedicht reflektiert auf die Ursachen („Wenn“), aus denen sich die Stimmung ergibt („dann“), ist eine Art Bedienungsanleitung, unter welchen Bedingungen sich das romantische Gefühl und die Erfahrung des „Alles ist freundlich wohlwollend verbunden“ (V. 29) einstellt.
Das lyrische Ich hat diesen Zustand erfahren; in diesen Zustand sehnt es sich zurück und lädt die Lesenden dazu ein, sich mit ihm und doch für sich selbst auf den Weg zu dieser Erfahrung zu machen, die die Welt in ihren Tiefendimensionen erschließt, die Augen, das Ohr, das ganze Fühlen des Menschen auf diese Tiefendimensionen hin einstellt und diese für die „heimliche Welt“ (V 2, 34) öffnet.
Clemens Brentano hat mit „Sprich aus der Ferne“ ein programmatisch für den Weltzugang der Romantik stehendes Gedicht geschaffen, das in seiner komplexen Verwobenheit von Inhalt und Form selbst die Ganzheitlichkeit abbildet, die es ansprechen, die es wecken und ausdrücken will. Diese Ganzheitlichkeit des Gedichtes macht dieses Gedicht zu einem meisterhaften Kunstwerk, das die Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks zur Zeit seiner Entstehung umfassend nutzt und sie in seiner Zeit auch an die Grenzen des Ausdrückbaren heranführt. Und dort, wo diese Grenze des Ausdrückbaren erreicht ist, beginnt der „leis[e]“ (V. 11), glänzend „klingender“ (V 17f.), „freundlich[e]“ (V. 26) „schimmernde[…]“ (V. 26, 27) Erfahrungsraum, der das lyrische Ich schweigend staunend in die Tiefendimensionen der Wirklichkeit, in die schweigende Faszination angesichts der Wirklichkeit eintauchen lässt.
Diese Interpretation ist eine mögliche. Wenn Sie andere Gedanken zu dem Gedicht haben, andere Ideen, etwas vertiefen oder ergänzen wollen, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie die Kommentarfunktion zu diesem Beitrag nutzen würden.
Hallo Herr Larbig,
im Zuge meiner Vorbereitung auf das anstehende Deutsch-Abitur bin ich auf Ihre Interpretation gestoßen. Zunächst möchte ich ein Lob aussprechen, denn ich finde, dass das Allumfassende in der Interpretation sehr gut beleuchtet wird. Weiterhin empfinde ich den Kontrast zwischen Licht und Schatten ebenfalls, dies ist mir bereits beim Lesen des Gedichtes aufgefallen, doch ich konnte es nicht explizit benennen.
Eine persönliche Schwäche findet sich meinerseits im Finden des Versmaß, diese Fähigkeit bewundere ich sehr 😛
Nun würde ich Ihnen sehr gern meine eigenen Ansätze nahe bringen, denn wie Sie erwähnten, ist dies nur eine Möglichkeit.
Ich empfinde das Gedicht zweidimensional, sowohl durch die Form gegeben (zwei seperat stehende Gedichte mit Unendlichkeitsanspruch durch die Gleichgestaltung von Anfang und Ende)wie auch durch die Doppelsinnigkeit die sich vielmals im Inhalt finden lässt:
Das von Ihnen erwähnte Licht-Schatten Bild,
aber auch die Gegenwärtigkeit des Göttlichen in der Nacht in Kontrast zur wirklichen Welt.
Die Romantiker besinnten sich sehr auf Gott und sahen sich selbst als Bindeglied der unüberbrückbaren Himmelswelt. (Romantische Ironie) Hier könnte man sogar so weit gehen eine Verzweiflung über das Bewusstsein der Lage des lyrischen Ichs herzuleiten, da es sich bewusst ist, dass das Göttliche nie zu erreichen ist. Auch eine neue Sichtweise kann hier auf das „Fernweh“ des lyrischen Ichs gewonnen werden.
Als Beleg würde sich evtl das „Austragen der Sterne“ in der 2. längeren Strophe anbieten. Ich sehe hier die Tatsache illustriert, dass man nur in der Lage ist, das Himmelreich zu erreichen, wenn man stirbt.
Ich weiß nicht, ob man so weit gehen kann, hier eine Todessehnsucht zu sehen, doch unweigerlich steht dies im Raum.
Die Sehnsucht speist sich aus sich selbst, wie man dies schon sehr oft gehört hat, auch das lässt sich hierin schön sehen. Die immer wiederkehrende Nacht, mit ihren unfassbar/unbegreiflichen Sinneseindrücken überwältigt das lyrische Ich völlig.
Allerdings ist auch wie ich finde und Sie hervorragend herausstellten, der Weg zur Erkenntnis, des Ganzen und Vollendeten in der Natur wichtig. Aus dem „Griff nach den Sternen“ entwickelt sich ein „durch den Wald gehen“ und die Natur scheint gemeinsam mit dem lyrischen Ich um die nicht zu erreichenden Träume zu trauern. Er wird somit eins mit der Natur, woraus sich finde ich auch die sinnesübergreifenden Wahrnehmungen ergeben. Verdeutlicht wird dies auch durch die vielen Personifikationen, mit denen es sich mit der Natur gleichstellt. Die Sterne sind wohl ein Sinnbild für die gestorbenen Seelen (angelehnt an meine eigene vorausgegangene Interpretationsidee).
Anschließen würde ich mich auf jeden Fall mit der Steigerung der Empfindung durch die Nacht hindurch, es zeigt sich ein zeitlicher Ablauf.
Einleuchtend fand ich ebenfalls Ihre Einführung mit den „Bedingungen“ durch die Konditionalsätze. Diese Besonderheit ist meinen Augen schlicht entgangen. (:
Eine weitere Idee zur letzen (langen) Strophe wäre noch die gemeinsame Trauern um das zu Ende gehen ihres gemeinsamen „Nachterlebnisses“ und die sich wiederum daraus ergebende Erkenntnis, dass Alles ewig „im Inneren verwandt“ bleibt und damit auch eine gewisse Einsicht der Determinierung und der Begrenzung seiner Möglichkeiten vorliegt.
Insgesamt finde ich auch die geringe Präsenz des lyrischen Ichs interessant, so steht eher die Empfindung als die Person im Mittelpunkt, wobei die Romantiker sehr großen Wert auf Individualismus legten und andererseits handelt es sich ja um die Sinneswahrnehmungen eines Menschen und nicht um die eines Kollektivs.
Ich hoffe meine neuen Ideen ermöglichen Ihnen auch einen neuen Einblick in das Gedicht und ich habe mich sehr über Ihre Interpretation gefreut und sie war durchaus lehr- und hilfreich für mich.
Liebe Grüße, Melanie
Guten Tag, Herr Larbig.
Was ich aus ihrer Interpretation nicht entnehmen kann ist wie mit der Thematik des irrationalen und dunkeln umgegangen werden muss, denn so wie ich es verstehe wird in dem Gedicht die Traumwelt, der Idealzustand nicht nur einseitig thematisiert, gerade in Strophe 6 geht doch auch eine Bedrohung von der Welt aus oder? Ich bin mir in diesem Punkt jedoch unsicher. Insgesamt finde ich ihre Interpretation sehr hilfrreich, mir hilft jedoch gerade die Bestimmung des Metrums enorm.
Gruß Nikhil