Zum Bildungsbegriff der OECD und von PISA – Ein Kommentar
Prof. Dr. Andreas Schleicher, der bei der OECD für Bildung zuständig ist und das mit den PISA-Tests… na, ihr wisst / Sie wissen schon, Andreas Schleicher empfiehlt((Schleicher, Andreas: Lernen im 21. Jahrhundert – Teil 1: Neue Anforderungen an die Bildung. http://www.teachersnews.net/artikel/nachrichten/schulleitung/030623.php – Zugriff: 9.11.2014, 14:00)), dass man die erfolgreichsten Bildungssysteme der Welt als Maßstab [für das eigene Bildungssystem] nehmen solle. Ich verstehe das als Aufforderung, sich diese Systeme anzuschauen und sie in die eigenen Schulsysteme zu übertragen.
Zitat: „Der Maßstab für Erfolg ist auch nicht mehr allein die Verbesserung der Bildungsergebnisse im nationalen Rahmen, sondern die Leistung der erfolgreichsten Bildungssysteme der Welt.“ (http://www.teachersnews.net/artikel/nachrichten/schulleitung/030623.php)
Schaut man nun einmal, wo diese aus OECD / PISA-Sicht sind, dann sind es auf den ersten vier Plätzen China, Singapur, Hong-Kong und Süd Korea.
Wer das Drillsystem in diesen „erfolgreichsten Bildungssysteme[n] der Welt“ kennt, wird sich wundern, was Herr Schleicher in seinem Beitrag schreibt: In diesen Bildungssystemen steht das kooperative Lernen nun wirklich nicht im Zentrum, da wird kaum eine Literalität gefördert, die die Relevanz von Suchmaschinen-Ergebnissen einzuschätzen vermag etc.
Ich finde, es ist höchste Zeit, der OECD in Bildungsfragen die Kompetenz zuzusprechen, die sie wirklich hat: Bildung heißt für die OECD, dass Menschen (vor allem) optimal ökonomisch genutzt werden können. Überspitzt ausgedrückt kommt es mir persönlich manchmal so vor, als würden Menschen in solchen Institutionen (unterbewusst?) als so etwas wie „Nutztiere“ für die Wirtschaft betrachtet.
Da ist mir der Bildungsbegriff von Peter Bieri((Bieri, Peter: Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede an der PH Bern am 4.11.2005. Den verlinkten Beitrag Bieris empfehle ich dringend als vergleichende Lektüre zu dem Beitrag Schleichers, da erst so die Universen, die zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen liegen, so richtig deutlich werden.)) dann doch näher: „Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“
Dazu sagt der Dirigent Nikolaus Harnoncourt: „Heutige Bildungspolitiker kennen nur ein Ziel: den funktionierenden Menschen. Es geht darum, Kinder zu besseren Ameisen heranzuziehen. In der ganzen Welt geht es nur noch um Produktionsprozesse, die Finanzwirtschaft hat die Herrschaft erobert, und die PISA-Studie ist ihr Instrument. Ich halte das für verbrecherisch. Dass die Kultur in diesem System keinen Platz mehr hat, überrascht mich nicht.“
Wir erleben hier eine Ökonomisierung der Bildung, deren Ausmaß im Rahmen der durch die OECD betriebenen Globalisierung des Problems kaum mehr für den Einzelstaat und in Deutschland das einzelne Bundesland greifbar ist. Hier werden Konstrukte, Thesen und Annahmen aus wissenschaftlich nur noch bedingt tragfähigen „Studien“ abgeleitet, die in ihrer Massivität den Duktus des „common sense“ vermitteln (sollen). Im Rahmen der Kompetenzorientierung wird Bildung (sofern man heutzutage überhaupt noch davon ausgehen kann, dass wir darunter eine allgemein verbindliche Vorstellung haben) in zunehmend kleine Happen zerlegt – und mit ihr der einzelne Lerner, Schüler – > Mensch!
Was mit Schrauben, Autos oder anderer in Masse und maschinellen Prozess gefertigten Produkten funktionieren mag, führt im Bildungswesen zu einer verheerenden Zergliederung menschlichen Lernens. Ein Blick auf die von Torsten oben angesprochenen Gesellschaften zeigen doch bereits jetzt, wohin das führt. Hieraus ein erstrebenswertens und nachahmungswürdiges Ideal abzuleiten, lässt mir eine gewisse Gänsehaut den Rücken herunter laufen.
Ich stimme der These des Artikels zu und auch denen, die sich in den ersten Kommentaren dazu äußern. Es ist erstaunlich, dass unter einem Gros der Lehrerschaft eine fast einstimmige Meinung besteht, die gegen die zunehmende Funktionalisierung und Ökonomisieren der „von der Bildung Betroffenen“ spricht. Nur ist das ganze eben nicht nur einen Bottom-Up-Problem.
Es kann nur gehen, indem man mit oder sogar trotz den durch das Bildungssystem vorgegebenen Leitlinien, die zu einer „Kompetenzorientierung“ (Zerfaserung) auffordern, eine Lernumgebung schafft, in der die Schülerinnen und Schüler nicht zu funktionierenden „Ameisen“, sondern in erster Linie zu kritisch denkenden Menschen werden, die es schaffen, vor dem Hintergrund ihrer durch die Schule geförderten, ganzheitlichen Bildung Entscheidungen zu treffen, die für ihren Werdegang wichtig sind. Fernab vom Gedanken, ob sie mit monetärer Goutierung versehen sind.
Ansonsten können wir die Kultur auch ganz abschaffen: http://bobblume.de/2014/03/23/g5-weg-mit-der-kultur/
Ich bin aber trotz allem positiv gestimmt. Weil ich mittlerweile viele Menschen kenne, die auch mithilfe digitaler Medien den Weg hin zu einem kooperativen und ganzheitlichen Bildungsverständnis eingeschlagen haben, der nicht Selektion als erstes Mittel der Bildung sieht.
Wir müssen weiter daran arbeiten.
Unbedingt. Sehe ich ganz genauso.
Wenn ich einem Artikel voll und ganz zustimmen kann, kommentiere ich meist nicht. In diesem Fall ist es meiner Meinung nach aber wichtig, dass wir uns gegenseitig darin bestärken, dass wir weiter gehende Ziele haben müssen als nur Kompetenzen. (Dass PISA zu Recht darauf hingewiesen hat, dass manche Kompetenzen im Schulbetrieb des öfteren zu kurz kommen, sollte man freilich zugestehen. Das Problem ist nur, dass es verengt nur messbare Kompetenzen propagiert.)
Darf ich noch etwas zum Bildungsbegriff ansprechen, was von Hentig als entscheidend angesehen hat:
Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit
Die Wahrnehmung von Glück
Die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen
Ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz
Wachheit für letzte Fragen
Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung .
Gerade das Letzte wird bei einer Ausrichtung auf PISA sträflich vernachlässigt.
Deshalb herzlichen Dank für diesen Artikel!
Danke dir für den Kommentar.
Von Hentig hat viel geschrieben, vielleicht auch manches, was wertvoll ist, aber seit 2010 kann ich ihn nicht mehr ohne Wissen um das Schicksal vieler Kinder an der Odenwaldschule lesen (= ich rezipiere Hentig nicht mehr). Warum? Nun, man lese zum Beispiel nur diesen einen Artikel:
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/odenwaldschule-die-wahrhaftigkeit-und-hartmut-von-hentig-11502178.html
Ich misstraue einem Bildungsbegriff wie dem von Hentigs (und andere Vertreter der Reformpädagogik – auch darauf weißt der verlinkte Artikel hin) , in dem das im Artikel dargestellte Denken / Menschenbild irgendwie implizit ist. (Man kann es auch aus diesem Interview herauslesen, das von Hentig 2010 dem Spiegel gab: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/hartmut-von-hentig-im-interview-voll-neid-habe-ich-auf-diesen-mann-gesehen-a-683439.html)
Entsprechend werde zumindest ich von Hentig in bildungspolitischen Debatten nicht mehr berücksichtigen, nicht zitiere, ja noch nicht einmal unausgesprochen im Hinterkopf haben.
Natürlich muss man, wenn man eine neue Information hat, die zur Korrektur seines früheren Verständnisses verwenden.
Doch nur in Ausnahmefällen wird man einfach auf das Gegenteil seines früheren Verständnisses wechseln dürfen.
Der Fall Reformpädagogik und sexueller Missbrauch ist zu komplex, als dass man sie in einem einzigen Kommentar angemessen behandeln könnte.
Nur so viel: Ein Bewusstsein für Verantwortung ist das, woran es Menschen, die Minderjährige missbrauchen, fehlt.