Die Handschrift, das Lernen und andere Formen von Prüfungen

In der NZZ ein Artikel, der einmal mehr betont, dass die Handschrift das Gehirn in besonderer Weise stärke. Immer noch wird auf die Studie von 2014 verwiesen, die sich auf Studierende bezog. Überhaupt wird die Handschrift immer mit dem Lernen korreliert. Aber was ist denn nun mit erfahrenen Schreibern, die über Jahre per Hand geschrieben haben, das heute noch immer tun, sich aber beim Tippen einfach wohler fühlen.

Dass Schreiben (und Lesen) nicht gleichzeitig mit dem Tippen gelernt werden kann, liegt für mich nahe. Beim Tippen kann ich das Prinzip, das hinter der Form der Buchstaben steht, deren Gesetzmäßigkeit ja nicht so erfassen, wie ich das tue, wenn ich sie mit dem Stift auf Papier male und so die Zeichen überhaupt erst erfahrbar kennenlerne. Dennoch lernen Kinder und Jugendliche das Tippen auf dem Bildschirm heute ohne Zutun der Schule sehr schnell. Es geht da um deren Grundbedürfnis nach Kommunikation, welche heute nun einmal weitgehend in getipptem Text stattfindet, wenn nicht gerade eine Sprachnachricht gesendet wird.

Aber das ist gerade nicht mein Thema. Worum es mir geht: Was ist denn nun mit Erwachsenen, die über Jahre die Handschrift gepflegt haben, sich ihrer nach wie vor bedienen, wenn es um komplexere Texte geht, die aber dennoch das Tippen von Texten zur Erstellung dessen, was ich »produktive Texte« nenne, bevorzugen? Dass ich mir etwas, das ich per Hand geschrieben habe, besser merken können soll als etwas, das ich getippt habe, leuchtet mir zunächst ein. Aber wenn ich auf meine Praxis des Schreibens und die Frage des Gedächtnisses schaue, komme ich zu einem differenzierteren Bild.

Diesen Text schreibe ich mithilfe eines Programms, in dem ich mir z. B. anzeigen lassen kann, was ich alles an diesem Tag im Laufe der Jahre geschrieben habe. Einmal im Jahr komme ich auf diese Einträge automatisch zurück und kann sie wiederholen. Bis ich einmal händisch geschriebenen Text wieder anschaue, ich habe dafür einfach keine Routinen entwickelt, obwohl solche sicher hilfreich sind, vergeht in der Regel mehr als ein Jahr. Ausnahme: Ich habe die Texte digitalisiert und als PDF in einen Eintrag eingefügt, den ich mit dieser App verfertigt habe. In solchen Fällen begegnen mir auch die handschriftlichen Aufzeichnungen im Jahresrhythmus. Und im Falle mir wichtiger Aufzeichnungen zu diversen Themen, die ich immer wieder benötige, hilft mir die Suchfunktion meines Rechners, die Aufzeichnungen immer wiederzufinden, selbst solche, die ich womöglich längst vergessen habe.

Lernen hat mit Wiederholung zu tun. Wenn diese Wiederholung handschriftlich erfolgt, mag sie dem Lernen in besonderer Weise dienen. Wenn das zu Lernende nun aber in einer Handschrift vorliegt, die Schüler:innen manchmal selbst nicht lesen können, was soll die Handschrift dann für das Lernen bringen?

So eingängig all diese Artikel sind, die die Handschrift feiern, so unzugänglich sind sie für mich nach vielen Jahren und Jahrzehnten, in denen ich per Hand Notizen angefertigt habe, die aber in keinem Wiederholungskontext stehen und damit weitestgehend der Vergessenheit anheimgegeben sind.

Und wie oft habe ich schon gedacht, ich müsste, sollte, wollte mir doch Texte, die ins Blog sollen, erst per Hand vorschreiben. In Wirklichkeit habe ich noch nie einen Text, der für produktive Zwecke – also für die Veröffentlichung – gedacht war, per Hand vorgeschrieben. Diese Texte wurden immer direkt getippt. Dann wurden die Texte immer bearbeitet. Manche Texte durchwanderten einen Prozess, nach dem der veröffentlichte Text mit dem ursprünglichen Ansatz kaum noch etwas zu tun hatte. Andere Texte wurden einmal getippt und publiziert. Da waren dann in allen Fällen nicht einmal die Korrekturen handschriftlich, sondern mit einer Kommentarfunktion erzeugt worden, die im Schreibprogramm genau für solche Zwecke vorgesehen ist.

Vermutlich schreibe ich diesen Artikel, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Denn einerseits haben all die Menschen ja recht, die darauf hinweisen, dass in Lernprozessen, die eng mit dem Lernen in formalen Kontexten (Schule / Universität) verbunden sind, es manches gibt, was für die Handschrift spricht. Andererseits weiß ich aus meiner eigenen Praxis, dass in meinem Alltag das Handschriftliche auf das Lernen bezogen eine schlechtere Wahl ist, obwohl ich die Handschrift nach wie vor regelmäßig nutze. Den Grund habe ich schon genannt: Ich kann mit dem Getippten einfach leichter wiederholen und somit auf lange Sicht für mich nachhaltiger lernen. Dass meine eigenen Lernerfahrungen meinem Wunsch widersprechen, dass das mit der Handschrift einfach besser sein soll, erzeugt dieses schlechte Gewissen in mir. Ich komme mir manchmal vor, als würde ich die Handschrift verraten, die mir so lange gute Dienste geleistet hat, die über Jahrhunderte, ja, über Jahrtausende hinweg für uns Menschen die wesentliche Form war, in der wir Wissen von Generation zu Generation weitergegeben haben. O. k., Bücher sind schon langer Zeit nicht mehr handschriftlich. Vielmehr nutzen wir gedruckte Schrift mit entsprechenden Schriftarten für die Publikation von Wissen. Und diese Publikationen sind in der Regel nicht mit der Hand geschrieben worden!

Spätestens in der Sekundarstufe II wäre es an der Zeit, neben handschriftlichen Texten auch getippte Dokumente zu akzeptieren. Und es sollte auch möglich sein, Leistungsnachweise in die Zeit der Digitalität zu transferieren. Die handschriftliche Klausur hat mit dem, was heute jungen Menschen in ihrem Leben an Leistung zeigen müssen, indem sie ihre Kompetenzen zur Erlangung dieser Leistung sinnvoll einsetzen, kaum noch etwas zu tun. Anderer Formen der Leistungsnachweise etablieren sich an Schulen und an Universitäten nur zögerlich, immer mit dem Image versehen, dass ohne Überwachung Leistungen eher simuliert statt wirklich erbracht würden. Handschriftliche Klausuren mit einem Minimum an erlaubten Hilfsmitteln gelten nach wie vor als die mit am rechtssicherste Form des Leistungsnachweises. Oh, was haben wir für Vorstellungen von dem, was ein Leistungsnachweis zeigen soll?

Warum setzen wir keine fächerübergreifenden Planspiele ein, um Schüler:innen Leistungen zu ermöglichen? Besteht die Gefahr, dass Essays eher von einer KI als von den Schüler:innen verfasst werden, wenn die Schüler:innen mit Themen befasst werden, die sie im Rahmen dessen, was die Lehrpläne vorgeben, erarbeiten müssen? Ist die optimale Voraussetzung für eine Leistung, dass Schüler:innen diese ohne Hilfsmittel erbringen? Oder reduziert die Klausur mit minimalen Hilfsmitteln die Aussagekraft der Bewertung nicht massiv, weil sie nichts darüber aussagt, wie ein junger Mensch Leistung zeigt, wenn er oder sie mit einem Problem aus der nicht klausurierten Welt (mit einem Real-World-Problem) konfrontiert wird?

Im zweiten Staatsexamen für Lehrer:innen in Hessen werden heute nicht mehr konstruierte Fälle auf Basis der von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst angegebenen Ausbildungsschwerpunkte verwandt. Die Basis der Prüfung ist vielmehr das Portfolio, in dem ein Schwerpunkt erarbeitet wird, der dann in der mündlichen Prüfung die Basis bildet. »Es geht doch«, dachte ich, als ich in jüngster Vergangenheit an genau so einer Prüfung teilgenommen habe. Wie wäre es, wenn in der mündlichen Abiturprüfung Schüler:innen ein Portfolio hätten, das das von ihnen eigenverantwortete Lernen dokumentiert und dann als Basis für ein (fächerverbindendes) Gespräch genutzt würde? Statt dass sich Prüfungen auf zwei Halbjahre der Schuljahre 12 und 13 beziehen müssten, wie das in Hessen der Fall ist, müssten dann die Prüfungen fächerverbindend stattfinden. Da wird Deutsch mit Geschichte verbunden oder der Faust mit dem Doktor aus dem Woyzeck und das ganze mit erkenntnistheoretischen Fragen angesichts aktueller Entwicklungen in der Biochemie; ethische Fragestellungen, die in Religion oder Ethik reflektiert wurden, werden mit praktischen Fragestellungen der Biologie oder Politik oder Wirtschaft verbunden, weil der Schüler oder die Schülerin diese Verbindungslinie spannend fanden … 

Kurz: Wie wäre es, wenn wir umdenken würden. Bislang müssen Lehrer:innen Prüfungsaufgaben erfinden, die dann den Schüler:innen vorgelegt werden. Zukünftig könnte es doch reizvoll sein, dass die Schüler:innen mit einem fächerübergreifenden Lernportfolio ihre Prüfungen vorbereiten und dann im Grunde den fächerübergreifenden Prüfungsgegenstand selbst bestimmen können.

Zumindest in der Oberstufe und für das Abitur sollte eine solche Vorgehensweise bei den Prüfungen umsetzbar sein. Sie, liebe Schülerin, lieber Schüler, wollen die allgemeine Hochschulreife erhalten? Nun, dann zeigen Sie doch einmal, was sie getan haben, um diese nachvollziehbar erreicht zu haben.

Das hat dann alles mit dem Ausgangspunkt dieses Beitrags anscheinend nichts mehr zu tun. Außer dann, wenn klar geworden ist: Das Lernen der weiterführenden Schule hängt nicht davon ab, ob es handschriftlich oder digital begleitet wird. Ja, Schreiben zu lernen wird nach wie vor ein konsequentes Training (sic!) der Handschrift in der Primarstufe benötigen. Aber wenn dieses zuverlässig (sic!) beherrscht wird, sollte es zu einem Anwendungswissen werden, dass sich auch in getippten Dokumenten wiederfindet. Die Diskussion um Handschrift oder nicht überdeckt die eigentlichen Herausforderungen, wenn die (Hand)Schrift erst einmal gelernt ist. Diese Herausforderungen bestehen darin, das Lernen so zu gestalten, dass es dazu führt, echte Probleme reflektieren und vielleicht sogar lösen zu können.

Mit der Frage »Handschrift oder Tippen?« hat das dann allerdings nicht mehr viel zu tun. Dieser (Schein)Gegensatz lenkt davon ab, welche Notwendigkeiten mit erfolgreichem Lernen heute verbunden sind. Schüler:innen mindestens der Oberstufe müssten sich in kontinuierlichen Forschungsprozessen befinden, in denen sie im Kontext von Geisteswissenschaften, Sprache(n), gesellschaftswissenschaftlichen Fächern und den Naturwissenschaften an Themen (Problemen) arbeiten. Dafür bräuchte es an den Schulen allerdings ganz andere Raumkonzepte und Ausstattungen, als wir diese heute haben.