Zehn Perspektiven auf mein Selbstverständnis als Lehrer – Eine Annäherung (Auszüge aus meinem Notizbuch).

Vorbemerkung: In meinem Notizbuch denke ich in schriftlicher Form über all das nach, über das ich nachdenken mag. Es kann dabei um Tagespolitik, um Besuche von Ausstellungen, Theater- und Opernaufführungen, um gelesene Bücher und eigentlich alles gehen, was mit einem Tagebuch nichts zu tun hat.

Mein Notizbuch könnte ich vielleicht als ein »Denktagebuch« (Hannah Arendt) bezeichnen. – In diesem denke ich unter anderem regelmäßig über meine Rolle als Lehrer (an einem Gymnasium) nach. Lange habe ich mich gefragt, ob ich die folgenden Notizen in meinem Blog festhalten soll. Es handelt sich um Notizen, nicht um ausgearbeitete Elaborate. Diese Notizen spiegeln Gedanken wider, die ich im Laufe eines längeren Zeitraums für mich immer wieder aufgenommen habe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich diese Notizen veröffentlichen will. Das Ziel: Vielleicht eine Debatte über das Selbstverständnis von Lehrer:innen. Oder aber: Einfach nur Anregung zum Nachdenken darüber, wie man seine eigene Rolle in dem von einem ausgeübten Beruf sieht.

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Schule soll selbstständiges, eigenständiges – autonomes Lernen ermöglichen.

Schule muss selbstständiges, eigenständiges – autonomes Lernen ermöglichen.

Das ist ein gravierender Unterschied. Beide Formulierungen leben von den in ihnen zur Sprache kommenden Paradoxien.

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»Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.

Bildung beginnt mit Neugierde.« Peter Bieri https://www.zeit.de/2007/32/Peter-Bieri#:~:text=Ausbilden%20können%20uns%20andere%2C%20bilden,Bildung%20beginnt%20mit%20Neugierde.

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Wenn Schule eine Ausbildung ist, dann würde der schulische Erziehungsauftrag in Bieris Sinne Manipulation sein.

Wenn Schule Bildung im Sinne Bieris zum Ziel hat, kann der Erziehungsauftrag nicht primär durch heteronom verordneten Unterricht erfüllt werden.

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Schule belegt so viel Zeit im Leben von Kindern und Jugendlichen, dass für eigenständiges Lernen kaum noch Platz bleibt. – Andererseits: Das Lernen als Prozess ist immer etwas Eigenständiges. Lehrer:innen können Schüler:innen nicht zum Lernen zwingen. Und wenn Zwang doch gelingt – sofern man hier von Gelingen sprechen kann – dann bekommt das Gelernte etwas Undynamisches, etwas, das es schwer macht, an das Gelernte (aus freien Stücken) anzuknüpfen und dieses so zu vermehren und zu dynamisieren.

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Wenn Lernen mit Zwang geschieht, dann scheitert es auf lange Sicht, weil keine Neugier im Spiel ist. Ja: im Spiel. Lernen im autonomen Sinne hat immer etwas von einem Spiel. Von sich aus autonomen Lerner:innen kann es gelingen, dem heteronomen Anspruch der Schule durch den spielerischen Umgang mit den Fächern und den Anforderungen, widerständig zu begegnen.

Die Kinder und Jugendlichen im Unterricht mit Selbstbestimmung zu konfrontieren ist für diese womöglich so exotisch, dass sie das, was ein Lehrer oder eine Lehrerin ihnen da abfordert, selbst als Fremdbestimmung erleben. »Lerne selbstbestimmt« eignet sich nicht als Imperativ.

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Als Lehrer an einer staatlichen Schule habe ich die Spannung auszuhalten, dass von mir erwartet wird, Schüler:innen bestimmte, vorgegebene Kompetenzen und Kenntnisse zu vermitteln und diese zugleich zu mündigen Bürger:innen zu erziehen, die der freiheitlich-demokratischen Teilhabe fähig sind.

Wäre das schulische Lernen aber wirklich so heteronom gedacht, wie es in der heutigen Praxis den Anschein hat, dann bräuchten wir keine Lehrer:innen mit hoher akademischer Qualifikation, denen dann auch noch pädagogische Freiheit zugesprochen wird.

Im Hessischen Schulgesetz heißt es dazu: »Die für die Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Lehrerin oder des Lehrers erforderliche pädagogische Freiheit darf durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Konferenzbeschlüsse nicht unnötig oder unzumutbar eingeengt werden.« (§ 86, Absatz 2 HSchG – https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/jlr-SchulGHE2005V2P86) Dort heißt es dann auch: »Die Lehrerinnen und Lehrer erziehen, unterrichten, beraten und betreuen in eigener Verantwortung im Rahmen der Grundsätze und Ziele der §§ 1 bis 3 sowie der sonstigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und der Konferenzbeschlüsse.« (§ 86, Absatz 2 HSchG – https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/jlr-SchulGHE2005V2P86)

An dieser Stelle ein längeres Zitat aus dem Hessischen Schulgesetz, das die Komplexität der Aufgaben der Schule und damit von Lehrer:innen verdeutlicht (https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/jlr-SchulGHE2022pP2 ):

§ 2

Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule

(1) Schulen im Sinne dieses Gesetzes sind für die Dauer bestimmte Bildungseinrichtungen, in denen unabhängig vom Wechsel der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler allgemein bildender oder berufsqualifizierender Unterricht planmäßig in mehreren Gegenstandsbereichen einer Mehrzahl von Schülerinnen und Schülern erteilt wird und Erziehungsziele verfolgt werden. Sie erfüllen in ihren verschiedenen Schulstufen und Schulformen den ihnen in Art. 56 der Verfassung des Landes Hessen erteilten gemeinsamen Bildungsauftrag, der auf christlicher und humanistischer Tradition beruht. Sie tragen dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Persönlichkeit in der Gemeinschaft entfalten können.

(2) Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler befähigen, in Anerkennung der Wertordnung des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Hessen

  1. die Grundrechte für sich und andere wirksam werden zu lassen, eigene Rechte zu wahren und die Rechte anderer auch gegen sich selbst gelten zu lassen,
  2. staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen und sowohl durch individuelles Handeln als auch durch die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen mit anderen zur demokratischen Gestaltung des Staates und einer gerechten und freien Gesellschaft beizutragen,
  3. die christlichen und humanistischen Traditionen zu erfahren, nach ethischen Grundsätzen zu handeln und religiöse und kulturelle Werte zu achten,
  4. die Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und der Solidarität zu gestalten,
  5. die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zu erfahren,
  6. andere Kulturen in ihren Leistungen kennen zu lernen und zu verstehen,
  7. Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen und somit zum friedlichen Zusammenleben verschiedener Kulturen beizutragen sowie für die Gleichheit und das Lebensrecht aller Menschen einzutreten,
  8. die Auswirkungen des eigenen und gesellschaftlichen Handelns auf die natürlichen Lebensgrundlagen zu erkennen und die Notwendigkeit einzusehen, diese Lebensgrundlagen für die folgenden Generationen zu erhalten, um der gemeinsamen Verantwortung dafür gerecht werden zu können,
  9. ihr zukünftiges privates und öffentliches Leben sowie durch Maßnahmen der Berufsorientierung ihr berufliches Leben auszufüllen, bei fortschreitender Veränderung wachsende Anforderungen zu bewältigen und die Freizeit sinnvoll zu nutzen.

(3) Die Schule soll den Schülerinnen und Schülern die dem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen,

  1. sowohl den Willen, für sich und andere zu lernen und Leistungen zu erbringen, als auch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum sozialen Handeln zu entwickeln,
  2. eine gleichberechtigte Beziehung zwischen den Geschlechtern zu entwickeln,
  3. Konflikte vernünftig und friedlich zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen,
  4. sich Informationen zu verschaffen, sich ihrer kritisch zu bedienen, um sich eine eigenständige Meinung zu bilden und sich mit den Auffassungen Anderer unvoreingenommen auseinander setzen zu können,
  5. ihre Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeiten zu entfalten und
  6. Kreativität und Eigeninitiative zu entwickeln.

(4) Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten, ihre Aufgaben als Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union wahrzunehmen.

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Frage: Wie oft nehmen sich Lehrer:innen eigentlich die Schulgesetze der eigenen Länder vor und reflektieren ihr eigenes Handeln vor dem rechtlichen Auftrag? Ich frage das, weil hier im HSchG ein Bild vom Lehrberuf gezeichnet wird, das sehr viel mit gelebten Haltungen zu tun hat! Wie sollen Lehrer:innen denn dem hier genannten Auftrag nachkommen, wenn all dies nicht Teil der eigenen inneren Haltung sich selbst, anderen Menschen und dem Beruf gegenüber ist?

Ich lese diese Artikel aus dem Hessischen Schulgesetz, unter dessen Legislative ich falle, als einen Auftrag, jungen Menschen Bildung (im Sinne Bieris) möglich zu machen und gleichzeitig Elemente der Ausbildung in die schulische Arbeit einfließen zu lassen.

Ich lese diese Artikel aus dem Hessischen Schulgesetz, unter dessen Legislative ich falle, zudem als Auftrag, mich selbst im Sinne Bieris dem Prozess der Bildung lebenslang zu stellen und gleichzeitig mich fachlich kompetent lebenslang ausbilden zu lassen – weil ich das will, weil ich mich für diesen Beruf entschieden habe.

Für mich heißt das: Eine Haltung aus meiner Bildung (Persönlichkeit) heraus zu leben und für Schüler:innen auch erfahrbar zu machen, ohne dass ich dabei aus der Rolle der Lehrperson heraustreten müsste, ​und​ sowohl Wissen als auch Kompetenzen den Schüler:innen nahezubringen und deren Aneignung zu überprüfen. Es geht aus meiner Sicht darum, ein Experte in den eigenen Fächern zu sein, und als eine im Sinne Bieris gebildete Persönlichkeit in den Kontakt mit Lerngruppen und Schüler:innen zu treten.

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Je länger ich an diesen eher assoziativ sich aneinander fügenden Notizen sitze, umso deutlicher wird mir, dass der Anspruch, den ich an mich selbst als Lehrperson habe, komplex ist. Ich spüre da keine Überforderung, sondern eine Faszination gegenüber all dem, in dem der Lehrberuf mich lebenslang ausbildet und bildet. Ein Lehrerleben lang habe ich neue Kenntnisse und Kompetenzen so zu erwerben, dass ich diese vermitteln kann; ein Lehrerleben lang darf ich aber auch aktiv mich selbst bilden, verändern, neu erfinden, persönliche Kontinuitäten und Brüche bezüglich meiner Haltungen zulassen.

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Der Lehrberuf ist ein Beruf, in dem ich auf der Basis fachlichen Wissens und der lebenslangen Lust auf (Selbst)Bildung, junge Menschen in einem Abschnitt ihres Lebens unterrichte, begleite und auch beeinflusse, womöglich sogar präge. Das geht einerseits weit über den Fachunterricht hinaus; andererseits braucht es dazu eine professionelle Persönlichkeit. Als Lehrer bin ich in einer Rolle, die eine andere ist, als jene, die ich privat lebe. Das bedeutet nicht, dass die Werte unterschiedliche sein müssen, sondern nur, dass die Lehrerrolle eine Rolle ist, die es bewusst anzunehmen und zu gestalten gilt.

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Lehrer:in sein bedeutet für mich, Verantwortung für mich als reflektierenden Praktiker zu übernehmen; jungen Menschen Wissen und Kompetenzen so zu vermitteln, dass sie diese nutzen können – und gleichzeitig Bildungsprozesse zu ermöglichen, die sehr viel mit autonomem Lernen zu tun haben. (vgl. Bieri, auch unter https://www.nzz.ch/articleDAIPS-ld.366864 )