Schreiben und Schreibgeräte – Ein (Selbst)Interview

  • Hallo, Torsten. Wenn ich mich in deiner Wohnung so umschaue, hat hier ja ziemlich viel mit geschriebener Sprache zu tun. Da gibt es Bücher, eine alte Schreibmaschine, einen Computer, daneben stehen verschiedene Füller… Aber es gab ja wohl mal eine Zeit, in der du mit all dem nichts anzufangen wusstest: seit wann hast du ein Verhältnis zur Schrift?

*lacht* »Verhältnis«… Das klingt fast, wie eine erotische Beziehung, eine Partnerschaft. Aber an so einer Perspektive ist sicher auch was dran. – Also, angefangen hab ich mit dem Schreiben in der Schule. Ich glaube, meinen Namen konnte ich damals in großen, krakeligen Druckbuchstaben zusammensetzen. Als ich dann aber Schreiben lernte, ging das alles sehr schnell. Innerhalb kürzester Zeit fand ich zu Büchern und Geschichten, die mich seit dem auch nicht mehr losgelassen haben.

  • Bücher und Geschichten… Naja, das hat aber ja noch nicht so viel mit Schreiben als Kulturtechnik zu tun…

Zumindest wenn es um das eigene Schreiben geht. Natürlich wurden all diese Texte von jemandem zu Papier gebracht. Aber es stimmt schon, es ist ein Unterschied, ob man liest oder ob man schreibt. Deshalb ist es ja auch sicher kein Zufall, dass viele Kinder zuerst ihren Namen schreiben können. Schon das Lernen einer Sprache ist eine Form der Weltaneignung. Wenn man etwas zu benennen vermag, wird man ihm gegenüber selbständig, kann mit ihm umgehen, man wird zum Subjekt, gewinnt Selbst-Bewusstsein.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man erst dann wirklich mit etwas umzugehen vermag, wenn man Sprache dafür hat. Das gilt sicherlich vor allem für Gefühle, die sich ja gleichzeitig der sprachlichen Beherrschbarkeit entziehen. Vielleicht gibt es auch deshalb so viele Liedtexte, die sich mit der Liebe befassen…

  • Äh, Entschuldigung, aber kommen wir da nicht ein wenig vom Thema ab?

Nein, überhaupt nicht. Ok, so ein Exkurs führt vielleicht zu weit. Aber ich finde, dass Sprache für den Menschen etwas ganz wichtiges ist. Es ist eine der wesentlichen Formen, auf das zu Antworten, was wir »Wirklichkeit« nennen. Ein solches »Antworten« geschieht natürlich nicht nur in Sprache. Aber hier musst du mir noch einen kurzen Exkurs erlauben, damit später dann klarer wird, was mir Schreiben und die unterschiedlichen Formen des Schreibens bedeuten.

  • Jaja, mach nur…

Das geht schon ganz früh los. Ein Baby spricht seine Eltern noch völlig ohne Sprache an, es erhebt einen Anspruch. Und die Eltern treten in einen Dialog: nehmen es in den Arm, stillen es usw. Das ist nicht nur eine Reaktion auf »natürliche« Bedürfnisse, sondern schon ein echter An-Spruch und eine Antwort, ein Dialog. Und so gehen wir ja mit allem um. Die ganze Welt ist voller Ansprüche. Und die Sprache ist eine Form der Antwort darauf, vielleicht die zentralste. Da steht etwas, »schaut« uns an – und wir nennen es »Baum«. Das einzige Problem dabei ist, dass Sprache auch Macht bedeutet. Das wissen ja schon die alten Mythen von der Entstehung der Welt. Im christlichen Schöpfungsverständnis gibt es da aber eine kleine Variante: Der Mensch benennt alles und gewinnt so Macht über die Dinge. Gott aber spricht und erschafft dadurch etwas. Das ist auch eine Macht. Aber doch ganz anders. Wir können erst »Licht« sagen, wenn »Licht« schon da ist. Gott sagte in diesem Schöpfungsmythos »Licht« – und es wurde Licht. Da zeigt sich immer noch ein Verständnis des Menschen davon, daß er selbst zwar auf den Anspruch der Wirklichkeit antwortend handelt, aber diese Wirklichkeit, das »Ding an sich« weder völlig zu erkennen noch gar zu er-schaffen vermag. Und damit sind wir schon voll in philosophischen Gedanken über Sprache drinnen. Das muss hier bei Andeutungen bleiben. Geht ja vielleicht auch nur darum, einen Eindruck davon zu geben, für wie wichtig ich Sprache halte. Etwas allgemeiner formuliert: Wenn es uns nicht gelingt, einem An-Spruch der Wirklichkeit antwortend zu begegnen, sei es nun eben in der Sprache der Wörter, des Bildes, des Tanzes, der Musik, der Wissenschaft, der Ethik…, dann sind wir nicht erfahrungsfähig. Das geht sogar so weit, daß ich den Person-Begriff davon abhängig mache. Per-Sonare: Hindurch-Tönen. In unserer Antwort auf eine Wirklichkeit, tönt diese Wirklichkeit durch uns hindurch. Die Person ist also auch ein vom Klang des Anspruches der Wirklichkeit durch-töntes. Aber das führt jetzt vielleicht wirklich zu weit.

  • Da steh ich jetzt. Verstehe kaum noch was. Nur so viel: Sprache ist dir sehr wichtig. Was hat das aber nun alles mit dem Schreiben zu tun?

Irgendwann muss jemand auf die Idee gekommen sein, dass die Laute, die wir zur Kommunikation verwenden doch auch in eine von den Sprechvorgängen unabhängige Form gebracht werden könnte. Wenn es stimmt, dass Schrift zuerst in wirtschaftlichen Zusammenhängen auftaucht, dann stand dahinter wohl ein funktionales Bedürfnis. Man wollte die Besitztümer überblicken können, den Handel mit anderen vielleicht vereinfachen und kam so auf die Idee: Wir brauchen eine Form der »Daten-Speicherung«, die von der direkten Gesprächssituation unabhängig ist. Wir wollen nicht immer durch die Warenlager gehen müssen, um zu wissen, was wir denn nun so alles haben. Also nehmen wir Zeichen und lassen diese stellvertretend für das Bezeichnete stehen. Und das ist ja nun auch das faszinierende für mich an Schrift und am Schreiben: Die Möglichkeit durch Kombination von Zeichen Inhalte auszudrücken. Man kann plötzlich zu einer ganz anderen Form des Gespräches kommen: über Räume hinweg, zum Beispiel im Brief, ja, selbst beim Telefon funktioniert das ja alles über Zeichen, über Codierung und Decodierung, hier dann eben auf der Ebene elektrischer Zeichen, wie ja auch beim Computer; aber nicht nur das Gespräch über räumliche Distanzen wurde so möglich, sondern auch über Zeiten hinweg. Nimm mal Sokrates. Der hat soviel wir wissen nichts aufgeschrieben, aber das Gespräch intensiv gepflegt. Wenn es nun keine Schrift gegeben hätte, wären wir heute nicht mehr in der Lage, davon etwas zu wissen, denn dieses Wissen hätte sich wahrscheinlich kaum im mündlichen Gedächtnis so lange gehalten. Das einzige Problem: wir können natürlich nicht mehr Sokrates direkt kommunizieren. Diese Form des Gespräches über Zeiten hinweg ist dann doch ein wenig einseitig: wir können darauf antworten, es weiter führen, aber eben nicht mehr mit Sokrates.

  • Aber das heißt ja, dass Schrift ganz eng mit so etwas wie dem Gedächtnis zusammenhängt.

Ja, genau so ist es. Allerdings ist es wieder Sokrates, der das im Phaidros-Dialog ein wenig in Frage stellt. Demnach dient Schrift zwar der Erinnerung, nicht aber dem Gedächtnis. Im Gegenteil: Es findet sich dort die Urform klassischer Medienkritik, die man bis heute immer wieder findet. Wenn wir »Wissen« außerhalb des Gedächtnisses ablegen, dann wird das Gedächtnis dadurch geschwächt. Heute sagt man so schön: »Man muss nichts wissen, nur, wo es steht.« – Aber diese Kritik ist mir dann doch ein wenig zu eng. Denn die Möglichkeiten der Schrift sind doch so faszinierend und bereichernd, dass ich sagen würde: Sokrates hat Recht – aber nicht ganz. Zumindest nicht dann, wenn man Schrift so einsetzt, daß es dem analogen Wesen des Menschen entspricht.

  • Schon wieder so ein Begriff, bei dem man meinen könnte, es stünden ganze Bibliotheken von Philosophie dahinter: »Analoges Wesen des Menschen«. Heißt das, der digitale Umgang mit Schrift im Computer wird von dir kritisiert.

Hey, dieses Gespräch ist via Computer entstanden und wird mittels digitaler Technik zur Verfügung gestellt. Ich wollte eben natürlich ein wenig provozieren. Es kommt ein wenig darauf, an, was ich schreiben möchte. Davon hängt dann auch immer ab, ob ich es per Hand oder per Computer tue. Sieht so aus, als ob wir jetzt so langsam dem eigentlichen Thema dieses Gespräches näher kommen – oder?

  • Och, ich hab zwar nicht alles verstanden, was du gesagt hast, aber zumindest ist doch angekommen, dass das alles etwas mit dem Schreiben, mit Handschrift, mit Füllern und auch mit dem Computer zu tun hat. Lass mich mal ganz einfach fragen: Was ist für dich der größte Unterschied beim Schreiben per Hand und per Computer?

Erstens: die Schreibgeschwindigkeit. Zweitens: die körperliche Verbindung zwischen Gedanken und Schrift. – Egal, wie schnell ich per Hand auch schreibe: da ich kein Steno kann, bin ich da immer langsamer als wenn ich einen Text am Computer tippe. Und es kann ja Anlässe geben, bei denen das Schreiben am Computer genau die Form ist, die den Inhalt des Geschriebenen entspricht. So ein Interview zum Beispiel: da versuche ich, tatsächlich ein Gespräch mit mir selber zu führen. Das geht am Rechner sehr gut, das ich ja fast so schnell tippe, wie ich spreche. Ich sitze also hier, spreche vor mich hin und schreibe es parallel direkt auf. Ich muss beim Tippen ja nicht mehr groß nachdenken. Ähnliches passiert, wenn ich mit geschlossenen Augen am Rechner sitze und zum Beispiel kleine Geschichten schreibe, die als eine Art Film in meinem Kopf ablaufen. Da muss ich sehr schnell sein, um den Bildern folgen zu können. Bei diesen Formen des Ausdrucks, die also sehr nah, an der Geschwindigkeit des Sprechens und Sehens in der Wirklichkeit sind, ist der Computer für das Schreibgerät der Wahl. Außerdem bietet es eine gewisse Distanz zum Geschrieben, da ich ja nichts anderes tue, als relativ mechanisch auf Tasten zu drücken.

Die Handschrift ist langsamer. Ich nutze sie zum Beispiel zum Nachdenken. Dann sitze ich vor einem Blatt Papier, lasse die Gedanken fließen und versuche, diese so genau als möglich aufzu-zeichnen. Oder wenn ich einen Text lese und ihn im Gedächtnis verankern möchte, dann bediene ich mich der Handschrift, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass das Exzerpieren am Computer zwar sehr komfortabel ist, aber gleichzeitig so schnell, dass man es kaum schafft, das Gelesen im Gedächtnis zur Verfügung zu halten. Ich zumindest habe dann nichts anderes als eine Erinnerungsmöglichkeit, die eben vom Rechner abhängt. Außerdem setze ich den Körper beim handschriftlichen Arbeit ganz anders ein. Die Gedanken fließen vom Kopf in die Hand und über einen Füller aufs Papier. Es entsteht auf dem Papier eine Spur des Körpers, die man beim Computer so nicht hat. Das ist mir zum Beispiel in Briefen wichtig. Wenn ich einem Freund oder einer Freundin etwas schreibe, dann ist in der Handschrift zumindest etwas von meinem Körper präsent und ich vermag viel mehr zwischen den Zeilen auszudrücken. Je nach Stimmung sieht die Schrift anders aus. Oder: wenn ich im Zug bzw. Kaffee schreibe, dann sieht die Schrift auch anders aus. Außerdem genieße ich die Unabhängigkeit des Schreibens von elektrischem Strom. Mit Feder und Tinte kann ich auch bei Kerzenlicht schreiben. Schließlich ist es noch eine Gefühlssache: Wenn ich zwei Stunden am Computer geschrieben, dann ist bei aller Erfüllung angesichts eines kreativen Aktes immer auch eine Art der Erschöpfung spürbar, die nicht nur angenehm ist. Schreibe ich per Hand, ist da zwar auch eine Form der Erschöpfung, aber die ist irgendwie, ich weiß noch nicht, wie ich das ausdrücken will, aber, die ist bei mir… ja, wohliger, angenehmer, eine gefülltere Erschöpfung.

  • Warum aber Füller?

Mit Federn schreiben Menschen seit Jahrhunderten. Aber erst vor circa hundertdreißig Jahren gelang es, eine gewisse Unabhängigkeit vom Tintenfass zu erlangen. Und die Patronenfüller gibt es ja erst seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach hundert Jahren Entwicklung ist der Füller im Gegensatz zu so manchem Textverarbeitungsprogramm ausgereift, auch wenn es da irgendwann Kombinationen gibt. So las ich die Tage von einem Prototypen, bei dem der Tintenfluss von einem Computer und Minipumpen geregelt wird. Aber das ist noch nicht alles. Ich schreibe heute per Hand, fast ausschließlich mit Füller. Es ist das einzige Schreibgerät das ich kenne, bei dem die Feder über Jahre hinweg die Möglichkeit hat, sich an mein Schreiben anzupassen. Aber auch umgekehrt. Ich habe unterschiedlichste Federn, die auch von mir eine gewisse Form der Anpassung verlangen und je nach Stimmung, Ruhe der Hand oder auch Papier nutze ich andere Füller. Bei Kugelschreibern tausche ich mit jedem Minentauch auch die Schreibspitze aus. Da gibt es keine Anpassung an mein Schreiben. Und das interessante ist: Wenn ich heute mit Kugelschreiber schreibe, dann verliert meine Handschrift für mich jeden Reiz. Ich kann kaum noch mit Kugelschreiber schreiben – und schon gar nicht mit den überall verbreiteten Einweg- und Werbekugelschreibern.

  • Du sagtest, die Handschrift sei eine »Spur des Körpers«. Kannst du darauf noch ein wenig mehr eingehen?

Klar, gerne. Am einfachsten kann ich das vielleicht über Graphologie verdeutlichen. Damit bezeichnet man der Versuch, aus der Schrift etwas über die Persönlichkeit eines Menschen zu erfahren. Der Körper, der Charakter, das Selbstbild eines Menschen, aber auch Unter- bzw. gar Unbewusstes, findet sich nach Sicht der Graphologie, übrigens ein sehr umstrittene »Wissenschaft«, in der Handschrift. Und ich glaube, daß da etwas dran ist. Nehme ich mal ein unverfängliches Beispiel, die Lyrikerin und Nobelpreisträgerin für Literatur von 1966, Nelly Sachs. Nelly Sachs hatte in ihren letzten Lebensjahren zunehmende psychische Probleme, fühlte sich von Nazi-Häschern verfolgt, denen sie als Jüdin in Deutschland gerade noch entkommen war. Wenn man nun ihre Handschrift sieht, dann gibt es ganz gravierende Unterschiede zwischen der Schrift, wenn sie psychisch »gut« drauf war und wenn sie wieder unter ihren Verfolgungsvorstellungen litt. Und wenn ich meine eigene Handschrift anschaue: da gibt es auch relativ viele Varianten. Also, vielleicht ist die Formulierung »Spur des Körpers« da missverständlich. Was ich meine ist, daß sich in der Handschrift weit mehr auszudrücken vermag als nur das Geschriebene. Allerdings sollte man da mit voreiligen Deutungen sehr zurückhaltend sein. Mir gelingt es eigentlich nur, wenn ich einen Menschen sehr gut kenne. Dann kann ich durchaus an der Handschrift, so ich auch diese sehr gut kenne, sehen, ob zum Beispiel die Aussage »Es geht mir gut« stimmt oder ob ich ihr gegenüber mißtrauisch werde. Aber leider läuft heute ja das meiste über Telefon und Email.

  • Hast du eine Vorstellung, warum das so ist?

Hmmm, was ich jetzt sage, ist glaube ich sehr gewagt. Aber ich trau mich dennoch einmal, diesen Gedanken nachzuhängen. Zum einen ist die auf elekrischem Strom basierende Form der Kommunikation natürlich schneller. Und da wir heute ja von einem Geschwindigkeitswahn gepackt sind und alle meinen, wir hätten keine Zeit mehr, scheint das Telefon und die Email einfach einladend zu sein. Wobei ich das Telefon sehr mag, denn auch da ist ja durch die Stimme vieles an Körperlichkeit vorhanden. E-Mail ist manchmal ganz nett, aber ich glaube, in den meisten Fällen wird sie völlig falsch eingesetzt. Persönliche Briefe per E-Mail zum Beispiel finde ich nur in Ausnahmefällen angenehm. (Aber natürlich freue ich mich jedes Mal auch über E-Mail, wenn ich sehe: Da hat jemand an mich gedacht und gibt dem auch noch Ausdruck.)
Ich glaube aber, es steht noch etwas ganz anderes hinter dem Einsatz von Schreibwerkzeugen, die eine normierte Schrift über Schriftarten (Typen) erzeugen. Die meisten haben zumindest eine Ahnung davon, dass Handschrift mehr zu sagen hat als nur die Inhalte. Und davor haben viele Angst. Es gibt kaum etwas, bei dem sich Menschen so oft entschuldigen,wie für eine »schlechte« Handschrift. Heute hört man noch, dass man ja nicht geübt sei, seit Jahren eigentlich alles tippe und deshalb die Handschrift nicht mehr gut aussehe. Dahinter steht vielleicht auch ein Wunsch, zu gefallen. Oder positiv gewendet: Man will, dass auch alles lesbar ist, was man schreibt. Und da viele im Lesen von Handschriften nicht mehr geübt sind, mag da sogar etwas dran sein. Interessanterweise erlebe ich es oft, daß vor allem bei Männern diejenigen kaum Handschrift verwenden, die größten Wert auf ihre Selbstinszenierung legen, die stark, erfolgreich etc. wirken wollen. In bestimmten Kreisen hat man da zwar Füller, aber die dienen eher der Selbtsinszenierung und dem Image als dem Schreiben – ein 350-Euro-Füller, der nur für Unterschriften eingesetzt wird, ist da keine Seltenheit. Die Handschrift könnte ja vielleicht zeigen, daß da noch ein ganz anderer Mensch dahinter steht. Ich halte das zwar für eine unbegründete Angst. Wenn die meisten schon im Lesen von Handschriften ungebübt sind, werden sie kaum in der Lage sein, etwas zur Persönlichkeit des Schreibenden herauslesen zu können.

  • Moment. Jetzt hab ich doch eine Nachfrage: Wenn Handschrift etwas über Schreibende auszusagen vermag, vermag dann auch die Handschrift die Persönlichkeit zu beeinflussen? Kann man eine andere Persönlichkeit werden, wenn man sich bewusst mit der eigenen Handschrift auseinander setzt?

Also, das geht jetzt ja in die heute so modern gewordene therapeutische Richtung. Ja, es gibt Schreibtherapie. Aber da geht es eher um eine Form des Schreibens, die es einem ermöglicht, zum Beispiel an unbewusste Teile der Persönlichkeit heranzukommen oder aber eben eine Sprache für sich und seine Erfahrungen zu finden. Ich glaube, das funktioniert auch. Über die Bedeutung einer Sprache für die Persönlichkeit, für das Selbst-Bewusstsein, habe ich ja schon etwas gesagt. Bei der Arbeit an der Handschrift bin ich da bezüglich möglicher psychischer Folgen ein wenig zurückhaltender. Aber ich gehe immerhin so weit zu sagen, dass es sicherlich eine Bereicherung ist, die Handschrift lebendig zu halten, sie zu nutzen und durchaus auch zu üben. Über die Auswirkungen einer solchen Praxis weiß ich nichts. Da will ich jetzt auch nicht ins spekulieren kommen. Nur in die therapeutische Richtung sollte das nicht gehen. All diese Psychologisierungen sind mir nicht so ganz behaglich. Es geht um eine der wunderbarsten Formen des Ausdrucks, die uns außerhalb der direkten körperlichen Begegnung zur Verfügung steht. Ich staune immer wieder darüber, daß der Mensch so etwas zu Stande gebracht hat. Es geht nicht um Psychologie. Ich will ja auch nicht gleich unter dem Gesichtspunkt der Psychologie betrachtet werden, wenn ich einen Brief schreibe. Wenn aber ein Freund merkt: Ups, bei diesem Brief scheint es ihm aber gar nicht gut gegangen zu sein und Mut zuspricht oder tröstet, dann ist das genau das, was ich an der Spur des Körpers in der Handschrift so mag.

  • Du hast nun eine ganze Menge an Füllern. Warum? Wenn es doch ein so persönliches Schreibgerät ist, wäre es da nicht angebracht, nur einen zu nutzen?

Du unterscheidest in der Frage sehr schön zwischen Füller haben und Füller nutzen. Das gefällt mir. Zunächst einmal: Ich bin kein Füllersammler. Ich habe nur solche, die ich auch zu nutzen vermag. Obwohl ich mich natürlich auch am ästhetischen Äußeren dieser Schreibgeräte sehr zu erfreuen vermag. Aber ich hab es ja schon gesagt: Welchen Füller ich nutze ist abhängig von Stimmung oder auch von der Schreibgeschwindigkeit. Die Federn sind unterschiedlich schnell. Die meisten sind ja handgeschliffen. Natürlich gibt es immer wieder Füller, die so eine Art Alltagsfüller sind und dann sehr intensiv genutzt werden. Aber auch da kann es zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Füller treffen. Und ganz abgesehen davon: Ich habe auch unterschiedliche Tintenfarben laufen.

  • Bist du eigentlich bezüglich Füllern ein Romantiker?

Ja, völlig. Wenn ich einen Füller in die Hand nehme, die Feder sehe und mich zum Beispiel daran erinnere, dass ich mit dieser Feder, mit diesem Füller das Abitur, mein Examen oder vielleicht einen ganz wichtigen Brief geschrieben habe, dann werde ich schon romantisch. Wenn ich dann bei Klausuraufsichten ((Zur der Zeit, in der dieser Text entstand, arbeitete ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Frankfurter Universität und hatte in diesem Rahmen auch Aufsichten bei schriftlichen Examens- und Magisterprüfungen zu halten.)) sehe, wie viele Leute eine Klausur mit einem Einweg- oder Werbekugelschreiber schreiben – und das sind vielleicht achtzig bis neunzig Prozent der Leute –, dann denke ich mir immer: Verdammt, ihr raubt euch gerade eine Möglichkeit, später einmal euren Examensfüller in die Hand zu nehmen, ja, und romantisch zu werden.

©torstenlarbig 25. September 2003 (zuletzt überarbeitet: 02.09.2008)