Du wirst ständig überwacht – Morton Rhues »Boot Camp«

Irgendwann dürfte Todd Strasser, so heißt der Autor Morton Rhue mit bürgerlichem Namen, Decca Aitkenheads Reportage »The last resort« gelesen haben, die am 29. Juni 2003 in der englischen Zeitung »The Observer« erschienen ist und das in Jamaica angesiedelte »Verhaltensänderunszentrum« »Tranquility Bay« ins Zentrum stellt. – Anschließend dürfte er sich dann an die Arbeit an dem Roman »Boot Camp« gemacht haben. Zumindest entsteht dieser Eindruck, nach der Lektüre von »Boot Camp«, wenn ich die Details miteinander vergleiche; sicher ist es nicht, da Rhue in seinem Nachwort zwar einerseits auf den Realitätsgehalt seines Romans verweist, aber keinerlei Hinweise gibt, woher er sein Wissen hat. Die Nähe des Romans zu dieser Reportage ist allerdings sehr auffällig.

Die literarische Leistung des Autors besteht dann vor allem darin, Figuren zu schaffen, die er in das Umfeld eines solchen »Instituts für Verhaltensänderung« steckt: Aus »Tranquility Bay« wird im Roman »Lake Harmony« und im Zentrum des Romans steht der Ich-Erzähler Connor, 16 Jahre alt und von den eigenen Eltern in die Hand der »Umerziehungs-Spezialisten« gegeben, weil sie mit seiner Beziehung zu einer zehn Jahre älteren Frau, dia auch noch einmal Connors Lehrerin gewesen ist, nicht einverstanden sind.

Connor wird als literarische Figur im Roman von Anfang an als seinen Aufsehern gegenüber intellektuell überlegen dargestellt. – In Rhues Konzept des Romans ist eine solche Figur notwendig, um Reflexionen über das System solcher Lager an möglichst vielen Stellen im Roman unterzubringen – Reflexionen, die man durchaus als eine Bevormundung von Lesern und Leserinnen ansehen kann, da Rhue die Beurteilung des Systems im Roman einbaut, statt einfach zu erzählen und darauf zu vertrauen, dass Leserinnen und Leser selbst in der Lage sind, die erzählte Geschichte kritisch zu reflektieren.

In »Lake Harmony« stehen die Jugendlichen unter ständiger Überwachung. Die Aufseher betonen immer wieder, dass sie durchschauen, ob sich ein Jugendlicher wirklich geändert hat oder ob er nur so tut als ob. So heißt es auf dem Vorblatt zum Roman:

»Du kommst hier nicht raus, wenn du ihnen vorspielst, was sie haben wollen. Du kommst hier erst raus, wenn du bist, was sie haben wollen.«

Um diese Persönlichkeitsveränderungen zu erreichen, wird ein brutales Netz der Manipulation und der Folter um die Jugendlichen gesponnen – Gehirnwäsche, die sich psychologischer und körperlicher Gewalt bedient. Aber Connor bleibt der »Der gute Mensch von Lake Harmony«, gewinnt zwei Außenseiter der Einrichtung als Freunde und flieht gemeinsam mit ihnen. Conner verrät seine Ideale auch nicht, als zwei seiner Verfolger in Lebensgefahr geraten: Er rettet ihnen das Leben, um anschließend wieder nach »Lake Harmony« zurück verfrachtet zu werden. Und dann wird es ganz schlimm: Sowohl für Connor als auch für den Leser: Als Connors Eltern von den durch Connor geretteten Menschen erfahren, was in »Lake Harmony« wirklich passiert, scheint es zu spät, scheint das System Connor doch noch gebrochen zu haben.

Abgesehen von der körperlichen Gewalt (und natürlich der Möglichkeit, das Buch einfach nicht zu lesen), macht das Buch mit seinen Lesern das Gleiche, wie die Aufseher mit den ihnen ausgelieferten Jugendlichen: Das Buch weiß, welches Denken es von den Lesern haben will und tut alles, um darauf hin zu wirken, dass der Roman auch »richtig« verstanden wird. Das ist, wie auch in anderen Büchern Rhues, kein pädagogischer Zeigefinger, der hier aus dem Buch »heraus schaut«, sondern ein »pädagogischer Baseball-Schläger«, mit dem Rhue gnadenlos auf den Leser eindrischt.

»Boot Camp« lebt von detailarmen Schwarzweißzeichnungen und nicht davon, dass der Roman Lesende literarisch in eine schreckliche Welt mit hinein nimmt. Der Roman sorgt durch die Reflexionen des Ich-Erzählers immer wieder dafür, dass eine gewisse Distanz zur Handlung hergestellt wird, in der geklärt wird, wie man all das Erzählte gefälligst zu verstehen habe. Dabei gibt es keine einzige literarische Figur, die an literarischer Tiefe gewinnen würde. Das gilt auch für Connor als die Hauptfigur, aus deren Perspektive das Ganze erzählt wird. Die Aufseher und Mitgefangenen bekommen so gut wie keine eigene Lebensgeschichte, das System wird mit simplen Annahmen begründet, ohne nach deren Ursachen und Hintergründe zu fragen. Für den Roman sind diese auch überflüssig, da er nicht als literarisch spannender Text daher kommt, sondern als ein Buch, das klare Antworten und moralische Wertungen ausspricht und in die Gehirne der Leser, die meist Jugendliche sind, hinein bringen will.

Der Aufseher, der hier das Verstehen der Leser kontrollieren will, ist der Autor des Buches, das, zumindest in der von Werner Schmitz besorgten deutschen Übersetzung, sprachlich wenig Herausforderungen bietet.

Das heißt nicht, dass das Buch nicht in der Lage wäre, Lesende zu packen. Ganz im Gegenteil: Wie in schlechten Thrillern gelingt es dem Autor den Leser zum Voyeur zu machen, dem einfache Welterklärungsmechanismen geboten werden, die aber gleichzeitig gar nichts erklären.

Wie andere Bücher von Morton Rhue (z.B. »Die Welle«) greift »Boot Camp« die Frage der Erziehung Jugendlicher auf, die der Roman thematisiert, gleichzeitig aber bezweckt. Rhues Bücher werden oft als »kritisch« angesehen und als solche auch als Schullektüre genutzt. Doch was auf den ersten Blick als kritisch erscheinen mag, ist auf den zweiten Blick eindimensional, oberflächlich und literarisch misslungen.

Morton Rhue, Boot Camp, Ravensburg 2007 (zuerst 2006), 283 Seiten für 6,95 €