Genie, „Sturm und Drang“ – Goethes Hymnen „Prometheus“ und „Ganymed“

Vorbemerkung

In diesem Beitrag finden sich zahlreiche Links auf Seiten, die hier verwendete Begriffe näher erklären oder erwähnte Schriften zugänglich machen, die gemeinfrei vorliegen. Damit versuche ich hier konsequent die Hyptertextstruktur des Internets zu nutzen: Begriffe, die erklärt werden müssen und bereits an anderer Stelle angemessen erläutert werden, werden hier nicht im Detail dargestellt: Einerseits soll so der Umfang des Artikels im erträglichen Maße gehalten werden und andererseits wird so der ständige Bezug auch des Wissens, an dessen Konstruktion ich mich beteilige, auf bereits vorhandenes Wissen in der Form des Beitrags widergespiegelt.


Der Mensch solle den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, schrieb Imanuel Kant 1784, zwei Jahre vor dem von vielen Forschern als Enddatum der Sturm-und-Drang-Epoche in der Literatur angenommenen Aufbruch Goethes zur Italienreise am 03. September 1786.

Kant, der oft als Begründer der Aufklärung gesehen wird, fasst in seiner Schrift in Wirklichkeit die Phänomene zusammen, im 17. und 18. Jahrhundert die gesamte Gesellschaft veränderten und das Ende des Feudalismus einleiteten.

Die Ratio, also die Vernunft, wird zum obersten Prinzip der Welterkenntnis und des Handelns in der Welt erhoben.

Der mit der Renaissance und dem Humanismus angestoßene Prozess der Entdeckung des Individuums wird hier konsequent weiter gedacht, was auch zur Folge hatte, dass die Empirie und und ein mechanistisches Weltverständnis die Oberhand gewannen.

Descartes hatte die Grundlage dieses Weltbildes, das von ständigem rationalen Zweifel gegenüber angenommenen Selbstverständlichkeiten des überlieferten Weltbildes geprägt war, bereits 1641 in dem berühmten Satz „Cogito, ergo sum“ zusammengefasst.

Es entwickelte sich eine „vernünftelnde“ Geisteshaltung, die sich in der theoretischen Beschäftigung mit Literatur vor allem in GottschedsVersuch einer critischen Dichtkunst“ ausdrückte und aus heutiger Sicht zu seltsam leblos wirkenden Gedichten und Theaterstücken führte.

Als Kant 1784 seinen berühmten Aufklärungstext schreibt, haben einige damals zwanzig bis dreißig Jahre alte Intellektuelle längst begonnen, einer Rationalität den Kampf anzusagen, die den Menschen nicht als ganzes Individuum wahrnimmt, das neben dem Verstand auch Gefühle und Leidenschaften als schaffende Kräfte in sich trägt. – So sehr die Epoche des Sturm-und-Drangs oft als eine Gegenbewegung zur Aufklärung gesehen wird: Im Grunde wird erst hier die gesamte Dimension der Schaffenskraft des Individuums über die Rationalität hinaus aufgeklärt.

An die Stelle des rein rationalen Denkers wird das Genie gesetzt, jenes Individuum, das aus sich selbst heraus mögliche Welten schafft.

Doch zunächst wurde das Genie nur beschrieben, wurden Autoren im Rückblick mit dem Attribut des Genies versehen, wie z.B. Shakespeare.

Der erste Autor, der den Geniegedanken für sein Werk fruchtbar machte, war Johann Wolfgang Goethe. Erich Trunz schreibt in seinem nach wie vor hervorragendem Kommentar der Hamburger Ausgabe der Werke Goethes:

„Für Goethe, den schöpferischen Künstler, verschmolz die Genielehre mit der Ich-Erfahrung. Er, als erster, stellt dar, wie dem Genie zumute ist. Während jene [Theoretiker] das Wesen des Genies beschreibend faßten, faßte er es dichtend.“ ((Gothes Werke, Band 1:  Gedichte und Epen I – Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1998, 465.))

Ihren Niederschlag fand dieser Ausdruck des Genies bei Goethe in den großen Hymnen.

„Sie waren selbst überstömend kraftvoll, waren neu, einmalig, eigenartig, innerlich notwendig. In ihnen gipfelt die Geniebewegung des 18. Jahrhundert.“ ((Ebd.))

Einer dieser Hymnen ist Goethes „Prometheus“.

Dieses Gedicht kann als eines gesehen werden, in dem das Programm des Sturm-und-Drangs zum Ausdruck kommt – ein Gedicht, das nicht nur das Lebensgefühl des Genies zeigt, sondern auch als Gedicht in einer solchen Form und mit einer solchen Aussage nie vorher dagewesen ist.


Johann Wolfgang Goethe

Prometheus

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du’s nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.


Sechsundfünfzig unregelmäßige Verse, ohne Reime: Schon die äußere Form des von Johann Wolfgang Goethe 1773 verfassten Gedichts drückt die Unabhängikeit eines leidenschaftlichen Ichs aus. In der Überschrift bekommt dieses Ich einen Namen: Prometheus. Schon im Titel ist der Hinweis auf die sprechende Person gegeben, wie es in „Rollengedichten“ oft der Fall ist.

Goethe greift in diesem Gedicht, so neu diese Art von Gedichten in seiner Zeit auch war, den Mythos eines griechischen Halbgottes auf. Dieser Mythos, der freilich in unterschiedlichen Formen vorliegt, erzählt, wie Prometheus Menschen aus Ton formt und diesen das Feuer (=Kultur) bringt, obwohl Zeus damit überhaupt nicht einverstanden war.

Zur Strafe wird Prometheus an den Kaukasus geschmiedet. Er wird später befreit und macht Karriere am göttlichen Hofe, als Berater der Götter. Doch von Strafe ist in dem Gedicht noch nichts zu spüren. In dem Gedicht ist Prometheus auf dem Gipfel seines schöpferischen Erfolges und wendet sich direkt an Zeus (V 1), den er verhöhnt und seine Selbstständigkeit hervorhebt (V  1–12). Prometheus sieht sich als Schöpfer, dem die Götter die Erde nicht streitig machen können (V 6f) und der die Glut des Feuers besitzt, die er gegen den Willen der Götter den Menschen als wichtige Voraussetzung der Entwicklung der Kultur zu Verfügung stellen wird. Diese Glut (V 11) bereits kann im Kontext des Geniegedankens als Teil des leidenschaftlichen Glühens des Genies verstanden werden, dass eigenständig, aus sich selbst heraus schaffend ist (V 31f: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“) , neues auf die Welt bringt, im Falle Prometheus’ Menschen (V 50). Jenes „Glühen“ taucht im Gedicht auch an anderer Stelle zwei Mal auf (V 32; V 33) und beschreibt das Genie als Menschen, dessen Herz vor Leidenschaft und Schaffenskraft glüht.

Die langsame und beständig sich von der ihr zur Verfügung stehenden Energiequelle nährende Glut wird hier dem Feuer vorgezogen. Das Genie ist kein brennender, er ist ein glühender Mensch.  Und die Energiequelle ist in diesem Hymnus das Selbst (V 32), das Ich (auch in Formen von „mein“, die einen Besitzanspruch formulieren – V 6; 8; 10; 12; 13; 20; 21; 24; 25; 27; 29; 31; 36; 41; 46; 50; 51; 52; 56), das eigenständig, von göttlichen Vorgaben unabhängige Individuum. Der Vorwurf Prometheus’ an die Götter ist schon ein Vorklang an die Religionskritik, die im 19. Jahrhundert von Ludwig Feurbach und Karl Marx ausformuliert wird, aber in der Aufklärung und im Geniegedanken seine Vorläufer hat.

Prometheus sagt, dass er nichts ärmeres kenne als die Götter (V 13f), die von der Verehrung der Menschen lebten (V 15–17), die als Kinder, Bettler und „hoffnungsvolle Tohren“ (V 18f) bezeichnet werden. Hier klingt auch an, dass Goethe und der Sturm und Drang eben keine Gegenbewegung zur Aufklärung sind, sondern deren Erwachsene. Kinder und Bettler stehen hier für unaufgeklärte Menschen für „Tohren“, die in ihrer Unselbstständigkeit und Armut das eigene Heil auf die Götter projizieren (später von Feuerbach in der Projektionstheorie näher ausgearbeitet) und nicht einsehen, dass die Rettung vom Tod und aus der Sklaverei die Leistung des eigenständig denkenden und aktiven Menschen ist, der sich gegen das Unrecht im Namen der Götter erhebt (V 27–49 später in der Marx’schen Religionskritik mit revolutionären Zielen theoretisch ausgearbeitet). Vom Umfang steht der Angriff an die Götter im Zentrum des Gedichtes, damit zuletzt das schöpferische Ich des Prometheus’ selbst ins Zentrum rücken kann, wie es sich in der letzten Strophe ausdrückt (V 50–56), die ihren Gipfel im letzten, nur aus zwei Worten bestehenden Vers „Wie ich.“ (V 56) erreicht. Das Genie ist ein Mensch, der aus sich selbst Welten und Weltbilder schafft, er prägt das Denken und die Weltsicht von Menschen. – Und so lautet das letzte Wort des Gedichtes dann auch „Ich“.

Doch dieses „Ich“ ist kein auf sich selbst bezogenes, so wenig es sich noch von den vorgegebenen Gedanken seiner Gesellschaft, von Kreativität und Schöpferkraft  verhindernden, nicht weiter hinterfragten „Selbstverständlichkeiten“, von seiner schaffenden Tätigkeit abhalten lässt. Hier erscheint in der Literatur der Mensch, der sich von seinem überlieferten Gott abwendet, der die Theodizeefrage in eine Ablehung Gottes überführt: „Wer rettete vom Tode mich / Von Sklaveri?“ (V 29) und Hast du die Schmerzen gelindert / Je des Beladenen?/ Hast du die Tränen gestillet / Je des Geängsteten?“ (V 37–40).

Das Werden des Genies wird hier in den thematisch gleichen Kontext gestellt, dem sich Menschen nach der großen Pest in den Jahren 1347 bis 1353 und auch nach dem großen Erdbeben von Lissabon und dem ihm folgenden Tsunami 1755 ausgeliefert waren. Es gibt Kulturhistoriker, die einen direkten Zusammenhang der hier genannten Katastrophen und der der Veränderung des Selbstbildes der Menschen in Europa sehen. Mir scheint eine Annahme solcher Zusammenhänge sehr plausibel.

„Prometheus“ ist also mehr als nur eine Beschreibung des Empfindens und Selbstbildes eines Genies. Das Gedicht kann vielmehr als eine hochgradig verdichtete Darstellung mit der Entdeckung des Ich-Bewusstseins der Menschen in Europa einhergehender geistesgeschichtlicher Veränderungen und deren Folgen gelesen werden. Und am Ende steht das selbstbewusste „Ich“ und formt Menschen nach seinem Bilde (V 50f).

Heute gelesen kommt das Gedicht fast wie ein prophetischer Text vor, in dem der Geniegedanke bis zum Ende durchdacht wurde. Ob Goethe es so gemeint hat, wie ich das Gedicht heute lese, halte ich für unwahrscheinlich, aber als Leser erlaube ich mir die Assoziation, dass die Versuche der „Verbesserung des Menschen“ im 20. und 21. Jahrhunderts durchaus mit dieser letzten Strophe des „Prometheus“ im Sinne eines rezeptionsästhtetischen Ansatzes in Verbindung gebracht werden können.

Und dann tauchen im Kontext der geschichtlichen Entwicklungen seit dem Entstehen des Gedichtes dunkle Schatten auf, die sich auf ein Genieverständnis legen, das alleine die Schaffenskraft des Individuums ins Zentrum stellt, sodass zuletzt darüber diskutiert wird, ob es erlaubt sein könne, Menschen nach dem Bilde der lebenden Menschen zu schaffen, zu designen und entsprechende Bemühungen in der Genforschung zu unternehmen.

Das bis zum Geniegedanken gesteigerte Selbstbewusstsein des Menschen führt zum „Homo Faber“, dem haltlosen, nur noch machenden Menschen, mit wiederum verdrängten Gefühlen und Leidenschaften, die der Sturm und Drang doch als Kräfte erwecken wollte, die den Menschen erst vollständig machen, da er eben nicht nur Vernunft ist.

Und hier kommt die andere, in „Prometheus“ nicht angesprochene Seite des Geniegedankens der Stürmer und Dränger ins Spiel, die von Goethe im Hymnus „Ganymed“ gestaltet wird.


Johann Wolfgang Goethe

Ganymed

Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!

Daß ich dich fassen möcht
In diesen Arm!

Ach, an deinem Busen
Lieg ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.

Ich komm, ich komme!
Wohin? Ach, wohin?

Hinauf! Hinauf strebts.
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
In eurem Schoße
Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen,
Alliebender Vater!


Was für anderer Ton, den Johann Wolfgang Goethe im Frühjahr 1784 in dem Gedicht „Ganymed“ anschlägt. Lag es womöglich an der Jahreszeit. Während „Prometheus” im Herbst entstand – und herbstliche Gedanken widerspiegelt, Gedanken von Menschen, die sich den unfreundlichen Kräften der Natur im Winter gegenüber sehen? – klingt hier nun die Faszination über das hereinbrechende Frühjahr an. ((Vgl. hierzu und zum folgenden: Ebd., 485–487.))

Wie auch im Brief vom 10. Mai im ersten Buch des Briefromans „Die Leiden des jungen Werther“, den Goethe ebenfalls im Jahre 1774 veröffentlichte, steht im Ganymed die Gotteserfahrung in der Natur im Zentrum.

Im „Werther“ heißt es:

„Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält…“

Wie in „Ganymed“ (V 1–19) wird hier die Faszination an der Natur mit Göttlichem verbunden. Doch in „Ganymed“ geht Goethe noch weiter. In nur 32 Zeilen, wiederum reimlos und unregelmäßig, kommt der ebenfalls der griechischen Mythologie entstammende Hirtenknabe Ganymed zu Wort. Als Hirte ist er der Natur verbunden, doch wurde er im Mythos von Zeus entführt, der ihn auf dem Olymp als Mundschenk haben wollte.

In Goethes Ganymed sind diese beiden Seiten, die Verbundenheit mit der Natur und das Streben nach oben: „Hinauf, hinauf strebt’s“ (V 22), anzutreffen.  Mag auch mit „Alliebender Vater!“ im letzten Vers (V 32) eine Gottheit stehen, so erreicht dieses Gedicht seinen Höhepunkt schon in V 29, in jenem mit höchstem Sprachgefühl verfassten „Umfangend umfangen“.

In unnachahmlicher Präszision beschreibt Erich Trunz diesen Vers:

„Das Fassen und Kommen der vorhergehenden Verse mündet in das Umfangend, das Anglühen, Drängen, Rufen Gottes kommt zur Ruhe in der zweiten Hälfte des Verses, dem Umfangen, das freilich in seiner passivischen Form nicht mehr die handelnde Bewegung ausdrückt, sondern ihr Ziel, ihren Ertrag; den Zustand des Ich, das von der nahenden Gottheit sich nun umschlossen und getragen fühlt. Der endgültige Zustand, auf den das ganze Gedicht sich hinbewegt, die wahre Nähe zum Göttlichen, ist vom Menschen her ausgesprochen in einer Verknüpfung der aktivischen mit der passivischen Form.“ ((Ebd., 486.))

Ist der Mensch in „Prometheus“ der Gottheit gegenüber in einer anklagenden Position, die von erfahrenem Leid ausgehend der Gottheit seine eigene Schöpferkraft gegenüberstellt und so aus der Passivität des Leidens heraus tritt, zum aktiv gestaltenden Genie wird, so sieht es in „Ganymed“ ganz anders aus. Hier wird der Mensch von der Schönheit der Natur ergriffen, die den Menschen schmachten (V 12) lässt, in ihm ein Drängen und Brennen auslöst (V 14f) und aktiv das Streben zur Gottheit mit sich bringt, bei dem sich Aktivität und Passivität („Umfangend umfangen!“ [V 29]) miteinander vereinen, in dem sich – und hier wird der Geniegedanke wieder unmittelbar greifbar – die Gottheit so sehr mit Menschen vereint, dass der Mensch in seinem Streben mit der Gottheit vereint wird.

Und genau diese Vorstellung wird, wenn auch nicht mehr dem Sturm und Drang zugehörig, später in „Faust” aufgenommen, wo es am im fünften Akt, in dem die Engel den unsterblich gewordenen Leib Faustens in den Himmel tragen, heißt: „Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.“ (V 11936f)

„Prometheus“ und „Ganymed“ spiegeln die zwei Seiten der „Ich-Erfahrung“ des Genies wider und bieten nur in der Zusammenschau einen Einblick in das ganze Genieverständnis Goethes, das die im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem Hymnus aufgetauchten Gedanken an die Gefahren eines solchen prometheischen Genies dann doch deutlich relativiert, solange das Genie beide Seiten in sich hat, also auch die schaffende, strebende, die nicht nur umfängt, sondern sich auch umfangen lässt – und so die großartige Schönheit ebensowenig aus den Augen und aus dem eigenen Gestaltungswillen verliert, wie den Schmerz und das Leid.

Link: Eine eigenständige Interpretation des Ganymeds aus Lehrerhand findet sich bei Norbert Tholen.