Zwischen Kompetenzen und Literacy oder: Ohne Inhalt keine Kompetenz
„Der reine Kompetenzmensch ist in meinen Augen der abhängige Mensch von Morgen“, fasst Maik Riecken die Grenzen und Gefahren eines vor allem auf Kompetenzen ausgerichteten Bildungsbegriffs zusammen. Und weiter schreibt Riecken:
„Kompetenzen fangen für mich immer mit dem Inhalt an – nie mit der Methode, nie mit dem Medium. Wir können nicht alles wissen. Das heißt aber nicht, dass wir kein Wissen mehr vermitteln sollten oder dass wir keines mehr brauchen.“ (Quelle)
Kompetenzen! – So lautet das neue Zauberwort, seit PISA 1 öffentlichkeitswirksam darstellte, dass es mehr und mehr Jugendliche (u. a. [sic!] in Deutschland) gibt, die z. B. nicht mehr in der Lage sind, in Texten vorhandenes Wissen oder in Texten dargestellte Arbeitsanweisungen, beispielsweise bei Textaufgaben im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, herauszuarbeiten oder anzuwenden.
Die logische Folge aus dieser Erkenntnis ist, dass die Fähigkeit zur Anwendung von Wissen stärker in den Vordergrund gestellt werden muss. Es muss gelernt werden, wie gelernt wird, was heute unter dem Schlagwort „Lernen lernen“ zusammengefasst wird. Es muss aber ebenso gelernt werden, wie Inhalte so erfasst werden können, dass diese für den Bildungsprozess fruchtbar und wirksam werden können. – Es geht also nicht nur darum, Buchstaben zu lernen, um in der Lage zu sein, diese in Texten wiederzuerkennen, sondern darum, das System, in dem die Buchstaben zu größeren Buchstabengruppen (Wörter, Sätze, Texte) werden, zu verstehen, da nur so die in Zeichenstrukturen festgehaltenen Inhalte erfasst werden können.
Eine Kompetenz umfasst immer mehr als eine Anwendungsfähigkeit. Und wenn der deutsche Begriff „Fähigkeit“ auch schon eine ganze Menge von dem beinhaltet, was in der Diskussion um Kompetenzenorientierung als wichtig angesehen wird, so schlage ich an dieser Stelle dennoch vor, den englischen Begriff der „literacy“ zu benutzen, da dieser einige Seiten in Bildungsprozessen berücksichtigt, die weder im Begriff der „Fähigkeiten“ noch der „Kompetenzen“ automatisch mitgedacht werden. Ich schlage dies vor, da „Fähigkeiten“ eher mit dem englischen „abilities“ korrespondiert und der Kompetenzenbegriff eher mit dem englischen „skills“ erläutert werden kann.
Also „literacy“. Um diesen Begriff richtig zu verstehen, darf man nicht den Fehler machen, ihn einfach mit Lesekompetenz oder gar Literalität zu übersetzen, wie z. B. Wikipedia das macht. „Literacy“ wird in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet und meint in diesen eben mehr als nur Lesefähigkeit: Wenn zum Beispiel von „reading literacy“ die Rede ist, dann bezieht sich diese auf eine „schriftsprachliche Rezeptionsfähigkeit im weitesten Sinn, etwa auf Verstehensleistungen bei der Lektüre verschiedener linearer Textsorten, aber auch bei Tabellen, Graphiken, Lexikon oder Hypertexten“ ((CORNELIA ROSEBROCK (2006). Lesesozialisation und Leseförderung – literarisches Leben in der Schule. In: MICHAEL KÄMPER-VAN DEN BOOGAART (Hg.), Deutsch-Didaktik: Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin, Cornelsen Verlag Scriptor: 153–174, 154.))
Als zweites Beispiel, in welchen Zusammenhängen von „literacy“ über „Lesefähigkeit“ oder „Lesekompetenz“ hinaus gesprochen werden kann, sei hier im Sinne Sonja Livingstons, die am Department for Media and Communication der London School of Economics and Political Sciences arbeitet, der Begriff der „media literacy“ genannt, zu dem Livingstone gearbeitet hat. – Livingstone definiert „media literacy“ als “the ability to access, analyse, evaluate and create messages across a variety of contexts” (die Fähigkeit / Kompetenz des Zugangs, der Analyse, der Evaluation und der Erstellung zu / von Nachrichten in unterschiedlichen Kontexten).
Dies klingt zunächst einmal nach einer reinen Ansammlung von Fähigkeiten, die zwar die Anwendbarkeit der Medien zulassen, aber keine Kenntnisse über diese Medien voraussetzen. Und damit wird aus einem kompetenten Menschen in diesem Sinne ein abhängiger Mensch, wie Riecken so treffend darstellt:
„Der reine Kompetenzmensch ist in meinen Augen der abhängige Mensch von Morgen. Wie viele Menschen sind z.B. von einer bestimmten Benutzeroberfläche eines Rechners abhängig, weil sie nicht verstehen wollen, was der Rechner für sie macht? Relevantes Wissen im IT-Bereich bedeutet das Erlernen von Konzepten – etwa der Objektorientierung – die es erlauben, jedes Schreibprogramm, welche objektorientiert arbeitet (das tun fast alle) zu bedienen. Das ermöglicht mir Freiheit bei der Wahl meines Softwareanbieters. Dazu benötige ich zunächst aber Wissen um die Objektorientierung und ich brauche jemanden, der erkennt, dass die Objektorientierung relevantes Wissen darstellt. Habe ich dieses Wissen nicht, muss ich andere Leute fragen oder für eine Dienstleistung zahlen.“
Doch Livingstone erkennt dieses Problem und stellt in ihren Überlegungen zur Evaluation von Nachrichten in unterschiedlichen medialen Kontexten folgendes fest:
“There is little point in access or analysis without judgement, but a stress on evaluation raises, rightly, some difficult policy questions when specifying and legitimating appropriate bases of critical literacy – aesthetic, political, ideological and/or economic. The scope and purpose of evaluation is also disputed: is media literacy intended to promote a democratised, diverse, anti-elitist approach to online representations or should it underpin a more traditional, hierarchical discrimination of good from bad, authoritative from unauthorised, information and communication?” ((Sonja Livingstone (2004) What is media literacy? Intermedia, 32(3), 18-20. September – Hervorhebungen von mir.))
An diesem Punkt wird deutlich, dass „literacy“ als Begriff mehr als nur Fähigkeiten und Kompetenzen (abilities / skills) umfasst: Es geht auch um die Fähigkeit zum kritischen Umgang mit den Kompetenzen bzw. vor allem den Inhalten oder Gegenständen, die über Kompetenzen erschlossen werden. Es geht um die Fähigkeit des reflexiven, auf Wissen (Inhalten!) basierenden Umgangs mit Kompetenzen, der auch dann noch weiter hilft, wenn z.B. die Benutzeroberflächen von Computerprogrammen völlig anders aussehen, als wir das heute gewohnt sind.
Doch der „literacy“-Begriff ist meines Erachtens noch umfassender. Er beinhaltet nämlich auch all jene Faktoren, die den Prozess der Erfassung und Integration von Inhalten in den eigenen Kompetenzen-Pool vor dem je eigenen biographischen, sozialen und kulturellen Hintergrund begleiten und führt im Idealfall auch zu der Kompetenz, diese Hintergründe reflexiv und kritisch in den eigene (handlungsorientierten) Lernprozess zu integrieren. Dieser Idealfall ist es, den ich (neben noch weiteren, hier nicht näher ausgeführten Differenzierungen) mit dem Bildungsbegriff verbinde.
Zugegeben: Ich kenne keinen einzigen an Bildungsprozessen Beteiligten, der der Annahme, dass Kompetenzenorientierung nicht ohne Inhalte gehe, widersprechen würde. Grundsätzlich scheint allgemein akzeptiert zu sein, dass der Prozess der Wissensgenerierung mit praktischen Bezügen und bildenden Wirkungen ein dialektischer ist, der sich zwischen Inhalten und praktischen Anwendungen hin und her bewegt. Und doch scheint es mir in diesem dialektischen Prozess gegenwärtig eine Übergewichtung der Kompetenzen zu geben, was sicher mit der vorhergegangenen Übergewichtung der Inhalte zu tun hat, aber deshalb dennoch einseitig ist.
Was also ist meines Erachtens in der gegenwärtigen Bildungs- / Kompetenzen-Diskussion unbedingt zu berücksichtigen? Was findet statt? Wo sind Tendenzen erkennbar, die in paradoxe Situationen führen?
1. Bildungsprozesse sollen individualisiert ablaufen. Schüler und Schülerinnen sollen von ihren individuellen Fähigkeiten und Voraussetzungen her gefördert werden, sodass idealerweise eine intrinsische Motivation des Lernens erreicht wird. Und dabei werden idealerweise biographische, soziale und kulturelle Hintergründe berücksichtigt und in den Bildungsprozess integriert – zumindest der Idee nach. Paradoxien zu dieser Forderung des individualisiert von Lehrenden begleiteten Lernprozesses tauchen meines Erachtens an zwei Stellen auf: Zum einen ist es selbst den begabtesten Lehrenden unmöglich in Lerngruppen von z. T. über dreißig Kindern über punktuelle Individualisierung hinaus die Möglichkeiten dieser Form des Lernens und Lehrens voll zu nutzen, da die Gruppen und die sich daraus ergebende Summe der individualisiert zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler zu groß ist, um allen Schülern und Schülerinnen angemessen individualisierte Lernoptionen in der notwendigen Kontinuität anzubieten. Das macht zwar die individuelle Förderung nicht unmöglich, erschwert sie aber in einem Maße, dass entsprechenden Forderungen bspw. der Bildungspolitik nur in Ansätzen entsprochen werden kann. Andererseits steht der Kompetenzenorientierung und Individualisierung von Bildungsprozessen der starke Drang zu stark inhaltlich orientierten Standardisierungen gegenüber, die überall dort, wo zentrale Prüfungen abgelegt werden müssen, die Lehrerinnen und Lehrer vor eine nahezu unlösbare Aufgabe stellen: Wie individualisiere ich Unterricht, wenn am Ende doch alle das Gleiche können sollen und müssen? – So ist es beispielsweise im Deutschunterricht nicht nachvollziehbar, warum Kompetenzen für alle Schüler und Schülerinnen in einem Land an den gleichen Lektüren erarbeitet werden müssen… Von individuellem Lernen kann da nur noch sehr begrenzt die Rede sein.
2. Einerseits wird von Kompetenzen gesprochen, diese werden aber nicht weiter differenziert. Es scheint mir bislang, sollte ich da was übersehen haben, freue ich mich auf Ergänzungen in den Kommentaren, als fände noch keine Diskussion darüber statt, wie sich Kompetenzen aufbauen und wie, an der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen orientiert, ein Kompetenzenzuwachs darstellbar ist. Wie weit müssen Kompetenzen denn nun in Klasse 6, 8, 10 oder gar 13 vorhanden sein? Welche zusätzlichen Kompetenzen soll ein Schüler oder eine Schülerin nach 10 oder nach 13 Jahren haben? Wo liegen da die Unterschiede. Stünden in einem Lehrplan, dass Schülerinnen und Schüler nach 10 Jahren einen angemessen Umgang mit Textverarbeitung, Präsentationsmöglichkeiten etc. haben sollen, stellt sich die Frage wodurch sich diese Kompetenzen dann von denen in Klasse 13 oder 12 (beim achtjährigen Gymnasium) unterscheiden, wenn dort die exakt gleichen Formulierungen in den Lehrplänen stehen? Insgesamt scheint mir der Kompetenzenbegriff entwicklungspsychologisch noch nicht (differenziert genug) gedacht zu sein. Ich vermute sogar, dass hier eigentlich von einem größeren Umfang an Wissen ausgegangen wird, der mit anwendbar und darstellbar sein soll.
3. Wenn Länder mit zentralen Abschlussprüfungen Lehrpläne entwickeln, die vor allem Bildungsstandards und ein fachspezifisches Kerncurriculum vorgeben, läuft dies inhaltlich definierten Abschlussprofilen zuwider. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Schulentwicklung in Richtung selbstverantwortliche Schule hin läuft, in der, auf der Basis von Bildungsstandards und Kerncurricula, schuleigene, dem Profil einer Schule entsprechende Schulcurricula erstellt werden sollen. Hier entsteht ein Paradox, das nur aufzulösen ist, wenn schuleigene Abschlussprüfungen wieder zugelassen werden, die von der Schulaufsicht daraufhin zu überprüfen sind, ob sie den Bildungsstandards entsprechen und die Kerncurricula angemessen berücksichtigen. Dabei muss es dann egal sein, ob in einer Lerngruppe „Effi Briest“ oder „Irrungen, Wirrungen“ gelesen wird, wenn die Bildungsstandards einen reflexiven Umgang mit dem bürgerlichen Realismus zulassen. Vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fächern kann individualisiertes Lernen letztlich nur gelingen, wenn die inhaltlichen Vorgaben für Prüfungen entsprechend angepasst werden. – Und damit spreche ich mich nicht gegen Inhalte aus. Es will mir vielmehr so scheinen, als wollten viele Kultusadministrationen die inhaltliche Gestaltung durchaus den Schulen bzw. den Fachlehrern im Sinne einer Individualisierung zurück geben. Doch dann muss man aufpassen, dass man unter Standardisierung, die der Individualisierung grundsätzlich zuwider läuft, nicht die inhaltliche Monokultur versteht, wie sie beispielsweise in Ländern mit Zentralabitur in der Sekundarstufe II im Augenblick anzutreffen ist.
4. Kompetenzen werden am besten an Inhalten und Gegenständen gelernt, die einzelne Schüler und Schülerinnen oder Lerngruppen als ganze interessieren. Die heute gefragten Kompetenzen erfordern eine entsprechende Schulorganisation: Individuelle Lernprozesse und Kompetenzenbildung können nur sehr begrenzt im bislang üblichen Zeitraster geleistet werden, das letztlich die Lerngruppen und die Individuen synchronisiert und so nicht den individuellen Lernansprüchen gerecht werden kann. Längerfristige Planungen (Wochenplan etc.) und eine größere Flexibilität der vorgegebenen Lernphasen im Rahmen einer festen Stundentafeln wären von Nöten, wenn wirklich individualisierter Unterricht stattfinden soll. Darüber hinaus müssen Lehrende sich viel mehr als bislang als Team verstehen, weil letztlich nur so sicher gestellt werden kann, dass jeder Schüler und jede Schülerin angemessen betreut werden kann. Klassenverbände von 30 und mehr, in denen Lehrende sich vor allem für ihr Fach verantwortlich fühlen, erhöhen die Zahl der individuell zu betreuenden Schüler und Schülerinnen. Diese Betreuungszahlen könnten bereits heute einfach gesenkt werden. Ein Beispiel: An meiner Schule komme auf ca. 1250 Schülerinnen und Schüler ca. 95 Lehrkräfte, teilweise in Teilzeit. Würden die Lehrenden sich die zu betreuenden Schüler aufteilen, kämen im Schnitt auf jeden Lehrenden 13 bis 14 Schüler und Schülerinnen, die in ihrem Lernprozess individuell betreut werden müssten. Der Unterschied zu den jetzigen Zuständen? Im Augenblick unterrichte ich ca. 150 Schülerinnen und Schüler, was eine relativ niedrige Zahl ist, da die Religionsgruppen in der Mittelstufe relativ klein sind. Dennoch halte ich es für unrealistisch, dass ich 150 Personen individuell betreuen und fördern kann. Wenn ich aber nun 14 Schüler und Schülerinnen als fester Betreuer zugewiesen bekäme, könnte ich diese durchaus im Blick behalten und (anders als es mir als Fachlehrer möglich ist) den gesamten Lernprozess und die damit verbundenen Fördernotwendigkeiten organisieren, weil ich gleichzeitig wüsste, dass andere Kollegen z. B. Schülerinnen und Schüler, die in meinen Fächern Förderbedarf haben, begleiten. Das würde nicht bedeuten, dass sich der Fachlehrer aus der Förderung seiner Lerngruppen heraus nehmen soll. Das würde aber bedeuten, dass jeder Schüler und jede Schülerin zumindest einen fixen Ansprechpartner in der Schule hätte, der natürlich mit Kollegen und Kolleginnen im Gespräch sein müsste, die diese Lernenden unterrichten. Schulen, die sich dem Teamteaching verschrieben haben, scheinen mir hier auf einem sehr guten Weg.
Zu den zu verändernden Schulstrukturen gehört aber auch die Verfügbarkeit von Ressourcen und Materialien, die für individualisierte Lernprozesse notwendig sind. Dazu gehören sowohl möglichst frei zugängliche Rechner mit Netzanschluss (idealerweise in jeder Klasse mindesten einer) als auch Nachschlagewerke (wie z. B. Wörterbücher) in den einzelnen Klassenräumen – über die Verfügbarkeit von Wissen hinaus, das beispielsweise in schuleigenen oder in der Umgebung angesiedelten Bibliotheken verfügbar ist. Außerdem verhindert die bisherige Aufsichtsregelung, vor allem in der Sekundarstufe I, dass beispielsweise ein Teil der Lerngruppe in der Bibliothek und ein zweiter im Klassenraum arbeitet.
„Literacy“ im hier gemeinten Sinne setzt eine wesentlich größere Ausdifferenzierung der Unterrichts- und Schulorganisation voraus, als sie bis heute an vielen Schulen in Deutschland üblich ist. Unterstützend könnten in diesem organisatorischen Bereich auch digitale Arbeitsmittel wirken, die die vernetzten Strukturen, auf die Lernen im Prinzip heute hinauslaufen muss, nicht nur symbolisch widerspiegeln sondern praktisch unterstützen.
Ob solche Veränderungen aber gewollt sind? Schüler und Schülerinnen scheinen mir – und jetzt doch noch eine Lanze für die Notwendigkeit der Kompetenzenvermittlung – gerade im Bereich der Vernetzung ihres Lernens nach wie vor reichlich inkompetent. Die so genannten „digital natives“ erscheinen mir oft eher „digital naiv“, was aber nicht den Lernenden anzukreiden ist, führt sie Schule doch in vielen Fällen kaum in diese (auch vielen Lehrenden völlig unbekannten) Arbeitsformen ein. Entsprechend schwierig ist es, Schülerinnen und Schüler zur Arbeit in vernetzten Systemen zu motivieren, was allerdings auch verständlich ist, wenn sie diese Kompetenzen möglicherweise nur von einzelnen Lehrkräften angeboten bekommen und diese Kompetenzen keinen akzeptierten Ort in der Schulkultur finden. In solchen Fällen kann es sogar zu der paradoxen Situation kommen, dass einzelne Lehrkräfte hochgradig vernetzt arbeiten und lernen, diese Kompetenzen aber nur extrem begrenzt vermitteln können, weil sie die Gegebenheiten an den Schulen nicht vorfinden – oder aber sie verlieren die Motivation, diese Kompetenzen zu vermitteln, weil dies immer wieder zu Irritationen im Kontext der Schulgemeinde führt.
Was mit einem Beitrag von Maik Riecken zur Frage des Verhältnisses von Wissen und Kompetenzen begonnen hat, hat sich für mich unter der Hand zu einer Frage entwickelt, die tief in die Strukturen des Lernens und Lehrens an deutschen Schulen hinein reicht. Während Riecken die tendenzielle Absolutsetzung von Kompetenzen kritisch in den Blick nimmt, womit ich übrigens völlig einig gehe, versuche ich hier darzustellen, dass die Förderung des selbständigen Denkens, die eben nicht dazu führt, dass der reine Kompetenzmensch der abhängige Mensch von morgen wird, eine umfassende Herausforderung ist, die (wieder einmal) an die grundlegenden Strukturen unserer Bildungseinrichtungen heran reicht. Es ist die Herausforderung von heute, Schüler und Schülerinnen mit Kompetenzen und Wissen dazu zu befähigen, sich morgen kompetent Wissen aneignen zu können und über Reflexionskompetenzen zu verfügen, um mit Fragen und Herausforderungen umgehen zu können, von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass sie auf uns zu kommen werden.
Es ist wohl so, dass nie zuvor so viel Wissen konstruiert wurde, wie in unserer Gegenwart. Um so wichtiger erscheint es mir, dass ein umfassendes Grundwissen gepaart mit Kompetenzen, die reflektiert und konstruktiv mit neuem Wissen umgehen können, im Zentrum heutiger Bildungsprozesse steht. Das Wissen hat sich einem Maße differenziert, dass ein Universalgelehrter im humboldtschen Sinne kaum noch möglich scheint. Diese Differenzierung des Wissens muss sich zumindest in Ansätzen, ohne notwendiges Grundwissen auszublenden, in der einen oder anderen Form in Bildungsprozessen widerspiegeln. Das heißt nicht, dass es keine verbindlichen Inhalte mehr geben soll. Grundrechenarten können ebenso wenig ins Belieben einer Bildungsinstitution gestellt werden, wie grundlegende Kenntnisse über chemische Reaktionen, physikalische Gesetze, Grundkonzepte der Informatik oder auch ein fundiertes kulturgeschichtliches Wissen, wie es in den geisteswissenschaftlichen Fächern vermittelt wird. Doch die Formen, in denen dieses Wissen vermittelt wird, können durchaus die Arbeitsformen widerspiegeln, die sich bereits heute als die Arbeitsformen der Gegenwart und absehbaren Zukunft darstellen: Lernen muss individualisiert und kooperativ ablaufen, sich vernetzen und öffnen, aber auch Platz für Stille und Rückzug bieten. Einzelarbeit muss ebenso ihren Raum finden, wie die Arbeit in Gruppen. Die Zeit- und Raumstrukturen müssen sich verändern, das Verständnis von Fachlehrer und Lerncoach gilt es näher zu betrachten und – nach so langem Verzicht auf diese Frage, ist sie nun dennoch unvermeidlich – die Schulen müssen endlich eine Ausstattung erhalten, die solche Arbeitsformen möglich macht. Damit meine ich nicht nur digitale Ausstattung! Dazu gehören Moderatorenkoffer in ausreichender Zahl, Karteikarten, Magnete in ausreichender Zahl, Möglichkeiten für Metaplanarbeit, Plakatbögen, die Schülerinnen und Schüler inhaltlich füllen können und dabei die Grundlagen des Präsentierens lernen etc., also all das, was engagierte Lehrkräfte heute nach wie vor aus eigener Tasche bezahlen.
Kompetenzenorientiertes Lernen muss an Inhalten orientiert sein, fordert aber auch eine Schule, in der diese inhaltlich orientieren Kompetenzen gepflegt werden (können). Und in einem Land, dessen Bildungsausgaben im Vergleich mit anderen Ländern eher im unteren Bereich liegen, ist hier noch sehr viel Potential vorhanden, wenn entsprechende Veränderungen politisch und gesellschaftlich wirklich gewollt werden.
Was für ein Eintrag.. so viel lässt sich gar nicht auf einmal kommentieren, aber zwei Sachen möchte ich gerne anmerken, die mir spontan dazu eingefallen sind:
Wenn Kompetenzen so stark an Inhalte gekoppelt sind, müsste man dann nicht weniger allgemein mediendidaktisch als wieder viel stärker von den Fächern/Inhalten her denken, auch was den Einsatz von neuen/digitalen Medien im Unterricht angeht?
Die Bildungsstandards für Geschichte sind ja bislang nur Vorschläge und nicht verbindlich, aber wie in anderen Fächern auch normative Setzungen.
Vor kurzem habe ich einen interessanten Aufsatz von Markus Bernhardt (in: Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07, Bern 2009) gelesen, der am Beispiel von Fotos im Geschichtsunterricht aufzeigt, dass die Schüler „den in den Standards formulierten Kompetenzerwartungen nicht entsprechen können, weil sie über die Voraussetzungen für diese Fertigkeiten nicht verfügen.“
Ich denke, es dringend geboten, die Kompetenzen der Schüler fachbezogen empirisch zu untersuchen, um darauf aufbauend wissenschaftlich fundierte und gestufte Kompetenzmodelle zu entwickeln.
@Daniel
„Wenn Kompetenzen so stark an Inhalte gekoppelt sind, müsste man dann nicht weniger allgemein mediendidaktisch als wieder viel stärker von den Fächern/Inhalten her denken, auch was den Einsatz von neuen/digitalen Medien im Unterricht angeht?“
Genau das wird doch getan, wenn man sich flächendeckend(!) einem Fach wie „Neue Medien“ o.ä. verweigert und stattdessen das Ganze – natürlich kostenneutral – in den Fachunterricht zu integrieren gedenkt. Das geschieht. Weil es nichts kostet.
@Herr Larbig
Das Bild mit dem Pendel, welches nach der inhaltlichen Fokussierung jetzt stark in den Kompetenzbereich umschlägt, habe ich auch vor Augen. Dummerweise sind die „Inhaltianer“ gerade bildungspolitisch etwas aus der Mode gekommen, aber das wird schon wieder…
@ all
Danke für die ersten Kommentare, die mich sehr motivieren, am Thema dran zu bleiben.
@ Daniel Eisenmenger
Der Vorschlag, in Deutschland endlich Unterrichtsforschung über Rankings, PISA, OECD-Bildungs-Monitoring etc. hinaus zu etablieren, so verstehe ich die Anregung zur fachorientierten, wissenschaftlich geleiteten Untersuchung der vorhandenen Kompetenzen, rennt bei mir offene Türen ein. Auch wenn PISA und Co für sich (zu Recht) in Anspruch nehmen, dass hier gerade Kompetenzen untersucht werden. Es werden sogar Stufungen in den Kompetenzbereichen als Maßstab angelegt. Von daher gibt es da durchaus wissenschaftlich fundierte, wenn möglicherweise auch in der Zielrichtung befragbare Ansätze in diese Richtung.
Bezüglich Mediendidaktik stimme ich @Maik Rieken zu. Dieser Bereich ist äußerst mühsam. Zudem halte ich eine analytische (!) Trennung zur Klärung von Begriffen und Grundfragen durchaus für hilfreich. Und ganz ehrlich: Was inhaltlich möglich ist, wenn unterschiedliche Medien genutzt werden, erfahre ich in meinen vernetzten Strukturen sehr intensiv. Da wird von Inhalten her gedacht kompetent (hoffentlich 😉 ) mit neuen Medien gearbeitet, wobei in vielen Fällen diese Arbeit durch persönliche Begegnungen ergänzt wird.
Und @Maik hat durchaus Recht: Im Augenblick sind es weitgehend die Fachlehrer, die sich (autodidaktisch in harter Arbeit herantastend) der mediendidaktischen Frage stellen – und dabei fast zwangsläufig natürlich von Inhalten her denken (müssen)
@Maik
Inhaltianer – klingt nach Sekte 😉 – Aber im Ernst: in der Bildungspolitik ist das wohl so, in der Schulwirklichkeit gibt es sie in Massen, wobei Inhaltianer nicht auch gleich die dialektische Herausforderung der digitalen Medien zu integrieren vermögen. Es braucht diesen Pendelschalg vielleicht, um wirklich zur Integration digitaler Medien in schulische Bildungsprozesse zu gelangen.
@Matthias Heil
Die Differenz zwischen Kompetenzen und Inhalte sollte gar nicht so auseinandergezogen wirken, wie es bei dir ankommt. Deshalb danke für den Hinweis, der mich noch einmal verdeutlichen lässt, dass ich ein leidenschaftlicher Verfechter des Ineinanders von Inhalten und Kompetenzen bin! Die Differenz mag so stark geworden sein, weil ich zur Verdeutlichung von Zusammenhängen (!) gerne stark analytisch (!) trenne.
Danke auch für den Link nach Paderborn. Das ist eine beeindruckend gute Darstellung. Und dennoch meine ich auch hier wahrzunehmen, dass zwar die Endpunkte der zu erwerbenden Kompetenzen genannt werden, aber keine Differenzierung gelingt, die eine entwicklungsgemäße Abstufung und somit auch eine nachvollziehbare Form darzustellen vermöchte, worin die Unterschiede der Kompetenzen von 8 und 13Klässlern liegen. – Aber vielleicht habe ich die Folien auch nur zu zügig überflogen.
Zum Selbstverständnis der Lehrkraft und dem Einsatz digitaler Technologien im Unterricht: volle Zustimmung. Aber wie lange hat es eigentlich gedauert, bis Wörterbücher in Klassen als Standardausstattung (was sie ja bei weitem nicht in allen Schulen sind) zugelassen wurden? Und doch: Das Lernen in vernetzten Strukturen hat seinen Reiz. Didaktisch gibt es hier eine ganze Menge zu tun und zu entdecken, gerade weil es um einen inhaltlichen begründeten Einsatz von Wissensressourcen geht, die nicht mehr nur in Büchern zur Verfügung stehen.
Ich bin gespannt, was LiV und Ausbildende anregendes beitragen werden. Denn für mich ist das Thema eines, bei dem ich heiß auf die Gedanken anderer bin und einen möglichst aktiven Diskurs toll fände, weil hier tatsächlich eine ganze Menge an Reflexionsbedarf besteht – aber genauso an praktischen Lernerfahrungen in vernetzten Strukturen.
Wie gestern schon gezwitschert: Dankeschön für den sehr gut durchdachten, interessanten Beitrag.
Mein Angriffspunkt ist die hier für meinen Geschmack etwas zu weit auseinander gezogene Differenz zwischen Kompetenzen und Inhalten. Meiner Erfahrung nach ist das Maß an Offenheit in der Bestimmung des Kompetenzbegriffs fächerabhängig, z.B. sind Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht häufig weniger komplex und anspruchsvoll formuliert als in der Religionspädagogik, die (sowohl evangelischer- wie auch katholischerseits) seit einigen Jahren in der Entwicklung der Begrifflichkeit wie konkreter Modelle überraschend rege ist; vgl. Kompetenz bzw. in deiner Argumentation besser: Literacy-förderndes Modell auf Folie 14 von http://www.studienseminar-paderborn.de/gy/downloads/lenhard24kompetenzorientierungppt.pdf … – den von dir beanstandeten Primat inhaltsarmer/-leerer Kompetenzorientierung sehe ich jedenfalls nicht als flächendeckendes Problem.
Sehr klar siehst du die Aporien, in die sich die Ansprüche von Individualsierung einerseits und Vergleichbarkeit andererseits treiben. Prinzipiell hoffe ich da – wahrscheinlich zu naiv – auf die neuen Lehrpläne, welche hoffentlich wieder die Qualität der schon guten Zielfelderpläne erreichen, die von ihrer Anlage her schon weiter waren als das, was es in Hessen momentan an Vorgaben gibt (z.B. Wochenstunden-Ansätze als Schritt zur eigenständigen Schule) – dennoch wird es auch hier wieder Geschrei geben, denn was die einen an neuen Freiheiten begrüßen, werden die anderen als schwammig/unzureichend/niveaulos etc. brandmarken. – Kurz: wenn konsequent individualisiert werden soll, gehören nicht nur Landesabitur (diesbezüglich denken wir sehr ähnlich), sondern auch Vergleichsarbeiten und Lernstandserhebungen in ihren jetzigen Formaten auf den Prüfstand – was wohl leider nicht so bald geschehen wird.
Auch dem zentralen Aspekt des Selbstverständnisses der Lehrkraft stimme ich dir zu: Wenn junge Lernende Google in der Tasche stecken haben, muss und darf eine Lehrkraft nicht mehr alleinige Wissensquelle im Klassenraum sein, sondern muss es vielmehr als Herausforderung und Verpflichtung verstehen, junge Lernende mit SpezialistInnen und anderen Wissensressourcen in Kontakt zu bringen, wobei der organische, d.h. stets auch inhaltlich begründeter/begründbarer Technikeinsatz zur Selbstverständlichkeit werden muss statt Ausnahme zu bleiben.
Werde unseren LiV und Ausbildenden die Lektüre Deines Beitrags empfehlen und sie zu eigenen Kommentaren auffordern… vielleicht kommen wir ja gemeinsam noch etwas weiter.
@Matthias Heil
Den Graben, bzw. die Trennung zwischen Inhalt und Kompetenz haben in meinen Augen gerade die Vordenker des Kompetenzmodells selbst mit aufgerissen. Ich gebe einmal ein Extrembeispiel – aus der Praxis fiele mir noch mehr ein: Es gibt in einem bestimmten Bundesland ein Kerncurriculum „Chemie“, welches der Sachkompetenz einen Stellenwert von 25% zuweist. Der Rest ist Methodik (25%), Vortragstechnik (25%) und Bewerten (25%). Das ist mir persönlich zu radikal. Ohne die ersten 25% kann ich den Rest nicht leisten, sie bilden also das Fundament und müssen „sitzen“, gerade in einem Fach, welches so als Kontinuum angelegt und innerfachlich hochgradig inhaltlich vernetzt ist wie Chemie. Ich sehe es ebenso wie Herr Larbig – auch ich vertrete die These des Ineinanders von Inhalt und Kompetenz – aber das geschieht doch z.B., wenn man bei der Ausatzvorbereitung Deutsch nicht mehr das Produkt, sondern den Prozess seiner Entstehung in den Fokus nimmt.
„Meiner Erfahrung nach ist das Maß an Offenheit in der Bestimmung des Kompetenzbegriffs fächerabhängig,“
Das trifft es für mich auch: In den Geisteswissenschaften muss man sich m.E. dem Thema anders nähern als in den Naturwissenschaften – in den Fremdsprachen mag ein gewisser Pragmatismus auch angebracht sein.
Stichwort „Neue Medien“:
Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, wo ich sie einordnen soll. So unvorbereitet wie SuS jetzt damit umgehen, halte ich sie eher für einen Fluch, denn einen Segen. Und das die Lehrkraft die einzige Quelle von Wissen im Klassenraum war/ist, wage ich zu bezeifeln. Das ist keine ausschließliche Frage von neuen Medien – da spielen die persönlichen Netzwerke eine mindestens ebenso große Rolle und haben sie bestimmt auch schon vor dem Internet gespielt (sonst wäre der Bildungserfolg in Deutschland nicht in dem Maße von der sozialen Herkunft abhängig). Daher kann und will ich noch nicht die Diskussion um den Kompetenzbegriff so eng mit den neuen Medien verknüpfen, wie es bisher oft geschieht.
„sondern muss es vielmehr als Herausforderung und Verpflichtung verstehen, junge Lernende mit SpezialistInnen und anderen Wissensressourcen in Kontakt zu bringen,“
Wenn ich das von den SpezialistInnen aus denke – ich halte mich selbst auf einigen Gebieten dafür – bekomme ich ein Problem. Es ist doch jetzt schon in nahezu jeder Community, jedem Forum so, dass SpezialistInnen rar und Fragende im Überfluss vorhanden sind. Wie halte ich derartige „inhaltliche Leistungsträger“ bei der Stange?
Die Frage ist immer, welchen Kompetenzbegriff man hat. Auch im Englischen gibt es den Begriff competency und ist also auch nicht etwa identisch mit skills oder ability. Das Problem ist: Nehmen wir einen Alltagsbegriff -mit einem entsprechend großen Assoziationsfeld und vielen Synonyma – oder benutzen wir in der bildungsdiskussion einen wissenschaftlichen Begriff? Auch bei letzterem gibt es unterschiedliche Definitionen. Die weitestgehende und in internationalen Zusammenhängen bevorzugte Def. stammt von Franz E. Weinert: Kompentenz ist „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“
Man sieht: Hier wird nicht Kompetenz gegen „Inhalt“ oder „Wissen“ gesetzt, im Gegenteil: Kompetenz ist die am Handeln messbare umfassende Fähigkeit, ein Problem zu lösen, schließt also selbstverständlich kognitives Wissen – „Inhalte“ – mit ein. Einen umfassenderen Begriff dafür, etwas zu Können/zu Wissen haben wir gar nicht.
Nun wird Kompetenz ja nicht nur in den Bildungswissenschaften – mit wissenschaftlichem Begriff – verwendet, sondern v.a. in der Bildungspolitik und in den Lehrplänen. In der Bildungspolitik weit oben international stützt man sich tatsächlich auf Weinerts Begriff. Herausgekommen sind z.B. die wirklich sehr guten „definition and selection of cey competencies“, die unten in der Bildungsadministration der Lehrplanwelt leider kaum jemand kennt. In der „Lehrplangestalterwelt“ gibt es zwei Modi des Sprechens: a) Absichtsgeschwurbel in der Einleitung. Da ist oft viel von Kompetenzen, möglicherweise heute sogar von „Kompetenzen in der Wissensgesellschaft“ die Rede – in unverbindlichem mal mehr, mal weniger kohärentem und logischem Stil, je nach Sprachfähigkeit des formulierenden Personals. Im zweiten Teil geht’s dann zur Pragmatik über. Oft gibt es keinen erkennbaren Zusammenhang zwiwschen Teil 1 (normative Absichtserklärungen) und Teil 2 (der eigentliche Lehrplan). Teil 2 ist häufig ein etwas modernisiertes Bekanntes: nämlich eine Stoffsammlung bzw. Themensammlung mit dazugehörigen daran zu lernenden Fähigkeiten, Wissen, Zielen (heute „Kompetenzen“ genannt). Was der Unterschied zwischen formulierten Fähigkeiten, Lernzielen, Kompetenzen sein soll, wird meist nicht ersichtlich, denn eins wies andere wird synonym verwendet.
Das große ungelöste Problem in der Praxis:
Wie kann man den Weinertschen Begriff „herunterbrechen“ auf einzelne Fächer/Gegenstände usw. – mithin also operationalisieren – ohne dass wesentlicher Inhalt des Begriffs zum Teufel geht?
2
Das bisher überzeugendste Kompetenzmodell für ein Fach/eine Domäne ist das für Geschichte:
Körber, Andreas; Schreiber, Waltraud; Schöner, Alexander (Hgg.; 2007): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried: ars una
Im Netz gibt es eine ppt für die Lehrerfortbildung, da kann man ein bißchen was davon sehen:
Waltraud Schreiber, Geschichte denken statt pauken. http://www.geschichtsunterricht-anders.de/lehrerfortbildung/Theorie.pdf
3
Fundamental wichtig finde ich in Herrn Larbigs Ausführungen die Klärung, dass Kompetenzorientierung (im Weinertschen Sinne) sich nicht mit Standardisierungsvorstellungen verträgt. „One size fits all“ kann in diesem Sinne kaum zur Erreichung von key competencies führen, also zur selbstständigen Wissenskonstruktionen und eigenen Deutungen – allenfalls zur Übernahme von vorgegebenen „Wissensbeständen“ und Deutungen von Welt. Ich denke auch, dass Kompetenzen oder Literacy wie Herr Larbig sie versteht, nur mit individuellen offenen Curricula möglich ist. Klar krempelt das im Grunde das ganze bestehende Bildungssystem um. Davor scheuen Bildungspolitik und Bildungsadminitration der bestehenden Institutionen zurück. Die Bildungsstandards Geschichte bspw. widersprechen schon im Ansatz dem Kompetenzmodell „Historisches Denken“ von Schreiber/Körber/v. Borries“. Letztere werden darum auch nicht von den Bildungsplanmachern aufgenommen. Wie widersprüchlich die Praxis derzeit aussehen kann: Ich arbeite mit Körber zusammen und biete Lehrerfortbildungen auf der Grundlage des Kompetenzmodells an – und neben mir und über den Hof rüber sitzen die Lehrplangestalter und passen die Lehrpläne an die Bildungsstandards Geschichte an.
Danke, Lisa, für Erkenntnis, dass zwischen Kompetenzdefinition und ihrer Umsetzung/Ausgestaltung in den Curricula ein Spannungsfeld besteht. Das war mir als „Lehrplanleser“ so nicht bekannt.
„Kompetenz ist ‚die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.'“
Nach dieser Definition sind Kompetenzen nicht messbar, weil die psychischen Prozesse, die zu einem solchermaßen definierten Ziel führen, dermaßen komplex sein dürften, dass soetwas wie „Leistungsmessung“ mir in diesem Kontext absurd erscheint. Haben wir keine brauchbaren Instrumente zu dieser „Leistungsermittlung“, so besteht in meinen Augen die Gefahr einer stark subjektivierten „Bewertung“, der sich SuS jetzt noch in Teilen (oder bestimmten Fächern) durch Sachwissen entziehen können. Ich hänge nicht an traditioneller Leistungsüberprüfung. Ich persönlich brauche aber ein Instrument zur Reflektion meines eigenen Unterrichts mit dem Ziel einer evolutionären Optimierung desselben durch die Zeit, was in Ansätzen eine objektive Überprüfung gestattet – klassische Klassenarbeiten sind in Teilen ein solches Instrument, weil darin schon meinen Unterricht teilweise wiedererkenne – in Stärken und Schwächen. Das dürfte schwierig in der Realisierung werden mit Worten wie „Bildungsstandards“.
Hallo Maik, die Sache mit dem Messen von Kompetenzen sehe ich so:
ABFRAGEN lassen sich Kompetenzen nicht – weil man ja nur Kognitives dafür kriegt, und Kompetenzen enthalten zwar Kognitives, sind damit aber noch lange nicht erschöpft. Im Übrigen wissen wir ja, dass beim Abfragen oft nicht „ehrlich“ geantwortet wird, sondern das, wovon der Schüler weiß, dass es der Lehrer hören will. Also Abfragen bringt besonders dann nichts, wenn es um Haltungen und Einstellungen (volitionales) geht. Zum MESSEN braucht man eine Stufung: Also ganz grob z.B. „basic“ „intermediär“ „elaboriert“. Kann man machen (und gibt es z.B. im Körbermodell bezüglich Kompetenzen historischen Denkens sehr überzeugend). Bleibt die Frage des MESSINSTRUMENTS: Klassenarbeit? – Kognitives. Aber z.B. das Produkt einer Projektarbeit? passt eher. Z.B. wenn das „Produkt“ weit genug definiert ist und auch enthalten kann, dass eine Gruppe von Schülern in Zusammenarbeit mit einem Betrieb das Kalibrierungsproblem für ein computerbetriebenes Fernrohr gelöst hat. (Derartiges gibt es tatsächlich als Schülerleistungen.)
Eine wichtige Frage ist immer auch: Wozu soll gemessen werden.
a) um die Schüler zwecks Zertifikaterteilung zu prüfen?
b) um die Qualität des Unterricht zu evaluieren? – So wie Du es Dir wünschst.
c) um den Lernstand eines Schülers zu diagnostizieren, damit man die weiteren Lernhandlungen (Zone der nächsten Entwicklung) bestimmen und ihn am besten fördern kann?
Alle drei Evaluierungsziele sind völlig verschieden. Und sie brauchen völlig verschiedene adäquate Instrumente. Manch eines gibt es schon, ist erprobt und kann bleiben oder modifiziert werden. Manche müssen neu entwickelt werden. Ob zur Evaluation der Qualität von Unterricht ausgerechnet die Klassenarbeit gut passt, wage ich zu bezweifeln. Schülerfeedback, SchülerInterviews, Performen in einer Ernstsituation – wie oben im Projektprodukt -, Analyse von Videoaufzeichnungen vom Unterricht (um z.B.die Qualität des Unterrichtsgesprächs zu beurteilen) … es gibt viele andere Möglichkeiten, zu evaluieren. Die passen natürlich nicht alle in das Strukturmodell Schulalltag, so wie er jetzt ist. Aber soll das heißen, wir müssen bis zum St. Nimmerleinstag auf diesem Strukturmodell der gegenwärtigen Praxis hocken bleiben, auf Innovationen verzichten, weiterhin teaching for testing machen? Sollen wir die Lehr-Lernprozesse den Messinstrumenten anpassen oder vielleicht doch lieber umgekehrt? Da renne ich natürlich offene Türen ein und es sind lauter rhetorische Fragen.
„ABFRAGEN lassen sich Kompetenzen nicht – weil man ja nur Kognitives dafür kriegt, und Kompetenzen enthalten zwar Kognitives, sind damit aber noch lange nicht erschöpft. Im Übrigen wissen wir ja, dass beim Abfragen oft nicht “ehrlich” geantwortet wird, sondern das, wovon der Schüler weiß, dass es der Lehrer hören will.“
Das ist eine in meinen Augen völlig unzulässige Generalisierung und damit für mich als Argumentationsansatz untauglich. Ich glaube, dass Lehr-/Lernsituationen von verschiedenen Menschen geprägt werden, sodass es auch verschiedene Grade der Ehrlichkeit beim Abfragen gibt. Betrugsmöglichkeiten gibt es gerade bei Projekten viel mehr, sodass sich beide Formen in dieser Hinsicht kaum unterscheiden dürften. Man kann auich Prozesse bzw. die Dokumentation von Prozessen in Klassenarbeiten dokumentieren lassen und bewerten – in etwa eine Gliederung.
Das Ganze hat ein erhebliches Henne/Ei-Problem. Unterricht nach diesem Modell setzt Kompetenzen gerade im selbstrelexiven Bereich voraus, über die viele Erwachsene nicht verfügen dürften und die daher schnell eine demotivierende Überforderung darstellen. Leuchttürme und Beispiele wird es immer für das eine oder andere geben.
Interessant ist, dass man bei der Kompetenz-Inhalts-Debatte schnell auf die Fragen der Bewertung & Messung (Abfragen) kommt. Wir können also scheinbar beim Thema „Schule“ nicht gänzlich zwischen den Bildungszielen auf der einen Seite und der geforderten Überprüfung und Messung andererseits trennen – auch nicht in der Theoriebildung.
Würde das System Bildung eigentlich aus sich selber darauf kommen, Messinstrumente zu installieren? Oder ist das eine Anforderung von einem anderem System (Wirtschaft?), die Irriationen schafft?
Überlege mir gerade, was mit den Bildungs-Zertifikaten ist. Wie verteilen wir die – basierend auf Inhalten und Kompetenzen – wenn wir das Messen aufgeben?
… Teufelskreise ….
Besten Dank Herr Larbig, besten Dank Lisa Rosa!
Leider ist es dennoch irgendwie verständlich, dass es Lehrer gibt, die weder von Bildungsstandards noch von Kompetenzmodellen etwas hören wollen. Oder?