Medienkompetenzen und Schülerorientierung

Resüme: Die Begriffe „Schülerorientierung“ und „Medienkompetenz“ wirken heute oft wie wenig reflektierte Modebegriffe in Bildungskontexten. Ausgehend von Materialien, die im Rahmen der britischen Bildungsdiskussion entstanden sind, greift dieser Beitrag beide Begriffe auf und versucht einen Diskussionsbeitrag zur weiteren Klärung der Begriffe zu leisten, ohne dabei auf unterrichtspraktische Implikationen zu verzichten.

Eine der Schlussfolgerungen lautet: Die aktuelle Mediendebatte in Bildungskontexten ist eine Debatte, in der es um die Übertragung der Ideen der Aufklärung in den Kontext neuer Medientechnologien und deren Anwendungsmöglichkeiten geht!

Auf das in Bristol ansässige Futurelab bin ich über ein Handbuch gestoßen, in dem es um Veränderungen von Curricula (Lehrplänen) und Unterricht („classroom practice“) geht.

Zuerst etwas zu dem Institut und dann zu ein paar ersten Entdeckungen, die ich dort gemacht habe:

“Futurelab is passionate about transforming the way people learn. Tapping into the huge potential offered by digital and other technologies, we develop innovative resources and practices that support new approaches to learning for the 21st century.” ((Vgl. Futurelab Website – About us))

Es geht dem Futurelab um eine Veränderung der Lernwege von Menschen in der Gegenwart. Es geht davon aus, dass digitale und andere Technologien ein großes Potential für diese Lernwege bieten und entwickelt deshalb Material und Praxisansätze, die sich den angenommenen Möglichkeiten für neue Lernwege widmen. Kurz: Das Futurelab ist davon überzeugt, dass  „neue“ Technologie, auch das Web 2.0, Potentiale für Bildungsprozesse bieten und gehört in den Kreis derjenigen, die sich hier theoretisch und praktisch engagieren.

Die jüngste Produktion des Futurelabs ist das oben schon erwähnte Handbuch, dass ich vor allem deshalb interessant finde, weil es das personalisierte Lernen als stark schülerorientiertes Lernen ins Zentrum stellt. Dabei handelt es sich um eine Form des Lernens, die in Deutschland schon länger propagiert wird, bei deren Umsetzung es aber nach wie vor durchaus Potential gibt, auch weil nicht in jedem Falle geklärt zu sein scheint, was schülerorientierter Unterricht eigentlich sein soll bzw. kann.

Zu dieser Frage findet sich im Glossar des Futurlabs folgende Definition:

“personalisation:

Personalised learning is an approach which advocates reversing the logic of education systems so that the system conforms to the learner, rather than the learner to the system, offering bespoke support for each individual in order to foster engaged and independent learners able to reach their full potential.”

Es geht hier also, um zumindest den Sinn einmal zu „übersetzen“ darum, dass die Logik des Bildungssystems in den Blick genommen wird und das System sich den Ansprüchen der Lernenden zu widmen habe und eben nicht mehr, wie es im alten Paradigma war und ist, den Lernenden an das System anzupassen. Es geht dem neuen Paradigma um Unterstützung für den individuellen Lerner, um so engagierte und unabhängige Lernende zu gewinnen, die in der Lage sind, die eigenen Potentiale voll zu nutzen.

Um einen Begriff aufzugreifen, den Thorsten Schönbohm kürzlich in einer Reflexion über die Leistungen der Pädagogik in den letzten 100 Jahren in Erinnerung gerufen hat: Es geht um Mündigkeit, darum, den Lernenden den Mut zu geben, sich des Verstandes früher oder später ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Es klingt überraschend, erstaunlich und gleichzeitig eigentlich selbstverständlich: Die medienpädagogische Debatte, die momentan hier, über Twitter, in den unterschiedlichsten Lehrerblogs, in Fachliteratur und auch in den Massenmedien geführt wird, ist eine Debatte, in der es um die Übertragung der Ideen der Aufklärung in den Kontext neuer Medientechnologien und deren Anwendungsmöglichkeiten geht!

Im Kontext neuer Medien wird oft, obwohl der Begriff für den Umgang mit allen Medien gilt, von Medienkompetenz gesprochen. Im Englischen hat sich der Begriff der „media literacy“ für diesen Komplex aus unterschiedlichen Fähigkeiten im Umgang mit Medien eingebürgert. Was alles zur Medienkompetenz dazugehört, ist Teil eines Papieres, das Professorin Sonia Livingstone von der Medienabteilung der London School of Economics and Politcal Siences zur Verfügung gestellt hat und das hier als Word-Dokument heruntergeladen werden kann.

Livingston sieht vier Kompetenzbereiche, die zusammen die Media-Literacy ausmachen, nämlich die Fähigkeiten des Zugriffs, der Analyse, der Bewertung und der Erstellung von Inhalten in unterschiedlichen Kontexten (“the ability to access, analyse, evaluate and create messages across a variety of contexts”). ((Sonia Livingston, What is media literacy, London))

Wenn man dieser Definition erst einmal zustimmt, ergeben sich daraus für Lehrende, die Lernprozesse begleiten, in Hinsicht auf Medienkompetenz vier Bereiche, die in den Blick genommen werden müssen, damit Bildungsprozesse auf Medienkompetenz hin gelingen können.

1. Welche Zugriffsmöglichkeiten auf Information stehen zur Verfügung und was ist nötig, damit ein Zugriff auf die Informationen möglich wird?

2. Wie können Informationen, die auf unterschiedlichen Kanälen zur Verfügung stehen, ausgewertet werden?

3. Was ist nötig, damit zur Verfügung stehende Informationen bewertet werden können, damit in der Fülle der Informationen, mit denen wir es heute zu tun haben, überhaupt noch eine Auswahl nach Qualitätskriterien stattfinden kann.

4. Was ist nötig, damit Menschen nicht nur konsumierend mit den Medien umgehen, sondern selbst in die Lage versetzt werden, im Kontext dieser Medien (und hier geht es neben so etwas wie dem Leserbrief natürlich explizit auch um eigene Aktivitäten im Web 2.0) Inhalte zu produzieren.

Jeder dieser vier Bereich ist geeignet, selbst Thema in einem Beitrag zu werden. Um hier nicht zu umfangreich zu werden, an dieser Stelle nur ein paar Andeutungen:

@1: Bücher, Bibliotheken, Radio, Fernsehen, Datenbanken, Internet, Lehrveranstaltunge, Vorträge… Die Voraussetzungen für einen Zugriff sind hierbei unterschiedliche, ich möchte aber einen nennen, der in der Diskussion oft vorausgesetzt wird: Die Grundvoraussetzungen für den Zugang zu den meisten dieser Informationsquellen sind das Lesen und Schreiben, wobei es sich vor allem beim Lesen um eine Kompetenz handelt, die das den Sinn erfassende Lesen meint. – Zu den Zugriffsmöglichkeiten gehören aber natürlich auch gegebenenfalls Computer und Internet und damit auch das Problem der Finanzierung der Zugriffsmöglichkeiten bzw. die eigenen finanziellen Möglichkeiten.

@2 Anders gefragt: Wozu braucht man so Sachen wie Inhaltsangabe, Interpreations- und Analysefähigkeiten gegenüber Texten (oder Daten), Mathematikkenntnisse (Statistik)? Ganz einfach: Man braucht Werkzeuge, um zur Verfügung stehende Informationen auswerten zu können. – Es sollte also möglich sein, diese Kompetenzen so zu vermitteln, dass ihr Wert für die Praxis schnell einsichtig wird (oder?).

@3 Die Fähigkeit zur Bewertung von Material und Informationen ist heute fast noch wichtiger als in Zeiten vor dem Internet, da jeder (die technischen Zugangsmöglichkeiten vorausgesetzt) heute Inhalte zur Verfügung stellen kann, die nicht immer problemlos sind. Ich muss auswählen können und brauche Kriterien für meine Auswahl.

@4 Sollte noch jemand fragen, warum die Arbeit mit Blogs und Wikis im Unterricht Potential hat: Hier ist ein Hinweis auf eine mögliche Antwort. Es geht hier aber auch um andere Formen der Gestaltung von Inhalten: Leserbriefe schreiben, Gestaltung eines Videos, von Fotografien, Dokumentation von Experimenten im naturwissenschaftlichen Unterricht, Erstellung von Materialien z.B. für den Einsatz im Unterricht, für eigenes Lernen etc. In diesen Bereich gehört aber auch die Frage, wie ich beispielsweise in Communities Inhalte erstelle – und vor allem: welche.

Medienkompetenz (media literacy) ist, das ist eigentlich unstrittig, soll aber einfach mal wieder gesagt werden, ein komplexes Ineinander unterschiedlicher Kompetenzbereich, die in Lernprozessen erworben werden müssen, damit das Ziel mündiger Menschen im oben angeführten, kantschen Sinne überhaupt überhaupt erreicht werden kann. Mangelnde Medienkompetenz ist also nicht nur für die Berufsfindung ein Problem, sondern kann auch demokratische Strukturen gefährden, da diese zumindest ein Stück weit vom kompetenten Umgang mit Informationen und Desinformationen leben.

Dabei ist es nicht nötig, dass der gesamte Unterricht auf digitale Medien ausgerichtet ist. Vor dem Hintergrund der Überlegungen bis hierher ist da sogar eine Mischkultur sehr wünschenswert, um die Komplexität des Kompetenzenfeldes überhaupt abdecken zu können! Angesichts der voll im Gang befindlichen und sich abzeichnenden Entwicklung gilt aber natürlich auch, dass digitale Medien angemessen in den Blick genommen werden müssen. Im Handbuch “Curriculum and teaching innovation” des Futurelabs liest sich das wie folgt:

“A focus on media literacy must also account for the emergence of complex new ‘digital divides’. Until recently, the digital divide was conceived as a partition between those children able to access new technology and those who could not. Now, though, it is not so much a question of access as a question of how new technology and media are being used, and the extent to which they are understood. Do patterns of computer use mirror existing patterns of socio- economic inequality, and do schools have a role to play in ameliorating these differences? In addition, there may be a widening division developing between new technology and media use outside school and inside school, with schools unable to keep up with the relentless pace of either hardware development or the appearance of new online communication services such as Bebo, MySpace and Facebook. Although such services may not seem to have a natural place in a school curriculum, the implications of these for children and young people should not be underestimated. For teachers it is becoming increasingly important to engage with the experiences that many young people (but not all, and certainly not equally) are experiencing in the popular cultural worlds accessed via new media forms.” ((Curriculum and teaching innovation. Transforming classroom practice and personalisation , S. 35.))

Und weil ich es so treffend finde, will ich zumindest einen kleinen Teil übersetzen: „Außerdem scheint sich eine zunehmende Trennung zwischen dem Gebrauch von neuer Technologien und Medien innerhalb und außerhalb der Schule zu entwickeln, in der die Schulen unfähig sind, mit der Geschwindigkeit der Hardware-Entwicklung oder dem Auftauchen neuer Kommunikationsdienste im Internet wie Bebo, MySpace und Facebook (in Deutschland wären zu ergänzen MSN und SchülerVZ) mitzuhalten. Auch wenn diese Angebote keinen natürlichen Platz im Lehrplan der Schulen zu haben scheinen, sollten ihre Bedeutung für junge Menschen nicht unterschätzt werden. Für Lehrende wird es zunehmend wichtig, sich mit den Erfahrungen junger Menschen (nicht aller und auch nicht in gleichem Maße) zu beschäftigen, die in populärkulturellen Welten in der Form neuer Medien gemacht werden.“

Ich verstehe diesen Abschnitt so, dass Medienkompetenz nur dann angemessen vermittelt werden kann, wenn die Lehrenden überhaupt erst einmal eine reale Ahnung davon haben, was Jugendliche, die sich in digitalen Kontexten bewegen, an Erfahrungen in diesen Kontexten machen und welche Bedeutung diese Erfahrungen für die Jugendlichen haben.

Bislang scheint diese Debatte in Deutschland meiner Wahrnehmung nach nicht stattzufinden. (Sollte jemand Hinweise haben, dass doch, bitte als Kommentar hinterlassen.) – Welche Bedeutung haben von Jugendlichen genutzte soziale Plattformen für die Jugendlichen? Nein, diese Frage habe ich noch nicht gehört, wohl aber die Frage nach den Risiken, die mit diesen Plattformen für Jugendlichen verbunden sind. Und ja, es ist von großer Bedeutung für die Entwicklung von Medienkompetenz, um solche Risiken zu wissen und hier haben Lehrende und Eltern eine wichtige Aufgabe im Kontext der Entwicklung von Medienkompetenz in Bezug auf digitale Medien, die aber nicht in einer kulturkritischen Manier daher kommen sollte, wie es sie immer beim Aufkommen neuer Medien gibt. Als die Schrift aufkam, wurde sie von Platon (Sokrates) im Phaidros massiv angegriffen, der Roman galt Anfang des 19. Jahrhunderts noch als ein Medium ohne Bildungswert etc. Nein, es geht um eine Aufklärung wirklicher Risiken, die aber gerade die Bedeutung der von Jugendlichen genutzten Kommunikationsformen für die Jugendlichen überhaupt erst einmal kennt und Ernst nimmt!

Soweit zur Theorie. Was aber bedeutet das alles für die Gestaltung von Unterricht? Ein kurzes Brainstorming – Brainstorming deshalb, da für unterschiedliche Lerngruppen oder Lernkonstellationen unterschiedliche Lösungen angemessen und hier keine Rezepte angebracht sind. Ich beschränke mich hier natürlich nur auf die Frage, was möglicherweise für die Entwicklung der oben dargestellten komplexen Fähigkeiten hilfreich sein kann, die zusammen so etwas wie Medienkompetenz (media literacy) ergeben:

1. Die Erfahrungen mit Medien von Jugendlichen müssen ernst genommen werden und sollte nicht vor allem Gegenstand der negativen Bewertung von Lehrenden, Elternverbänden, Politikern und anderen sein, da der Medienkonsum immer auch mit einer Bedeutsamkeit der konsumierten Medien für die Jugendlichen verbunden ist. Das fängt bei den Lektüren der Jugendlichen an und nicht erst bei ihren Aktivitäten im Netz. Das heißt z.B., dass auch Platz für Bücher im Deutschunterricht sein sollte, die die Jugendlichen lesen, die von Deutschlehrern und -lehrerinnen aber eher aufgrund mangelnder literarischer oder gar „pädagogisch wertvoller“ Qualitäten argwöhnisch betrachtet werden.

2. Die mit dem Mediengebrauch verbundene Bedeutung der Mediennutzung für die Jugendlichen kann Zugänge für gelingende Arbeit mit Medien bieten: Was für Bedeutungen sind es denn eigentlich, die Jugendliche den Medien für sich zuschreiben? Können die Medien die sich daraus ergebenden Funktionen überhaupt erfüllen? Wo sind Möglichkeiten, Grenzen und auch Risiken? Gibt es Alternativen?

3. Die genutzten Medien zugeschriebenen Bedeutungen (nochmal: das können auch Bücher etc.  sein, sind aber oft eben doch digitaler Art) und die faktisch mit ihnen gemachten Erfahrungen können reflektiert werden und so zu einem Umgang mit Medien führen, der unter Gebrauch des eigenen Verstandes und in Bezug auf Kriterien gestaltet wird.

4. Schülerorientierung kann in methodischen Settings erreicht werden. Hier sei als Schlagwort der problemorientierte Unterricht genannt, in dessen Kontext für mich übrigens auch das hier schon öfters in den Blick genommene Konzept „Lernen durch Lehren“ gehört, weil hier Schülerinnen und Schüler aktiv zur Arbeit an Unschärfen (Problemen) angeleitet werden – also zum Gebrauch des eigenen Verstandes mit dem Ziel, dass dies ohne Anleitung durch andere gelingen soll.

5. Das Lernen auf die Produktion von Inhalten hin ausrichten! Dazu sind natürlich differenzierte Fachkenntnisse nötig. Es ist aber ein Unterschied, ob diese auswendig gelernt oder in der Auseinandersetzung mit Problemen als notwendig erfahren werden können.

Dabei wird allerdings ein Problem, das im zitierten Handbuch des Futurelabs deutlich benannt wird, wahrscheinlich immer ein Problem bleiben, ohne dieses hier als Totschlagargument zu nutzen, sondern eher als einen ersten Hinweis, wie Jugendliche (nur Jugendliche?) Medien in und außerhalb der Schule möglicherweise erleben:

“While children are experiencing a highly
seductive media environment outside school,
in school new technology use is restricted,
perhaps even considered banal by children
as failing to keep up with cutting edge
developments. In short, schools struggle
to compete with the slick and professional
presentations of the new media environment.” ((Curriculum and teaching innovation. Transforming classroom practice and personalisation , S. 33.))