Anonym: Dû bist mîn

Sechs Zeilen, die irgendwann von irgendjemanden geschrieben wurden. Überliefert wurde dieses Gedicht am Schluss eines Briefes, der auf Latein geschrieben ist. Dieser Brief wurde in der sog. Tegernseer Briefsammlung überliefert. – Mehr ist mit Gewissheit nicht über das Gedicht zu sagen, auch wenn es reichlich Fundstellen im Internet gibt, die die Vermutung, er könnte von einer Nonne geschrieben sein, als Tatsache hinstellen. Ebenso umstritten ist, ob es sich um reale Briefe oder um Musterbriefe handelt. Für die Literaturgeschichte sind solche Fragen zwar durchaus wichtig und, um ehrlich zu sein, ich finde diese Fragen auch durchaus spannend, doch für dieses Gedicht, dass als eines der berühmtesten deutschsprachigen Liebesgedichte gehandelt wird, sind diese Fragen und deren Beantwortung nicht wichtig. Viel wichtiger ist: Dieses Gedicht wirkt! Lasse ich es also zunächst einmal wirken, um es mir dann ein wenig genauer anzuschauen:

Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.

(Übersetzung:

Du bist mein, ich bin dein,
dessen sollst du gewiss sein.
Du bist beschlossen
in meinem Herzen,v
verloren ist das Schlüsselein:
du musst auch immer darinnen sein.)

Auf den ersten Blick scheint mir das Gedicht sehr eindeutig: Ein Liebesgedicht, das in perfekter formaler Gestaltung daher kommt. Drei Mal zwei Vers, von diesen sind die beiden mittleren, was in vielen Wiedergaben des Gedichtes unterschlagen wird, eingerückt. Optisch wird der dieser beiden Zeilen formal reproduziert: Eingeschlossen im Herzen des Gedichtes – und die Schlüssel sind ein für alle Mal verloren, sowohl im Gedicht, aber auch wenn es um all die Fragen geht, die sich mit der Herkunft und der Entstehung des Gedichtes befassen. Doch der Einschluss geht noch weiter: Eingerahmt sind die beiden Mittelzeilen von je zwei Versen, die mit der gleichen Reimsilbe »în« enden. Lasse ich die Mittelzeilen weg, so ergibt das Gedicht nach wie vor einen Sinn, wenn auch einen weit weniger romantischen, als die verbreiteten Lesegewohnheiten gegenüber diesem Gedicht vermuten lassen.

Als ich dieser Tage eine spontane Äußerung zu dem Gedicht zu hören bekam, die den Text zunächst einmal als etwas bedrohliches wahrgenommen hat, habe ich diese Wahrnehmung zunächst recht spontan zurück gewiesen: Hier geht es doch eindeutig um einen Menschen, der liebt und diese Liebe zum Ausdruck bringen will. – Mittlerweile bin ich mir aber nicht mehr so sicher, dass diese scheinbar eindeutige Lesart die einzig mögliche Lesart dieses Gedichtes ist. Die Gründe für diese Zweifel liegen im Text selbst:

Je länger ich mich mit dem Gedicht befasse, um so irritierender finde ich die erste Zeile. In dieser Zeile geht es um eine Art Besitzverhältnis des lyrischen Ichs und dem angesprochenen Du. Nachdem ich lange nicht so genau wusste, was mich hier eigentlich stört, merkte ich, dass es die Reihenfolge ist, in der der gegenseitige Besitz beschrieben wird. Wenn es sich eindeutig um ein Gedicht handeln würde, in dem ein Menschen einem anderen Menschen seine Liebe gestehen will, nicht mit einer Zuordnung des lyrischen Ichs zum Du beginnen? Dann aber müsste die erste Ziele »Ich bin dîn, du bist mîn« lauten, gibt sich Liebe doch zunächst einmal selbst dem Anderen hin, ohne diesen in Besitz zu nehmen.

Hier aber ist des genau umgekehrt: »Du bist mîn« lautet die erste Hälfte des ersten Verses. Das ist nicht die Hingabe eines oder einer Liebenden an ein geliebtes Gegenüber, die, wird sie erst einmal öffentlich bekannt, auch verletzlich macht, da die Liebe ja immerhin zurückgewiesen oder nicht erwidert werden könnte. Doch genau diese Verletzlichkeit, die eine solche Liebe prägt, ist in diesem Gedicht nicht zu finden. Ganz im Gegenteil: Ich höre in diesem Gedicht einen Triumph, ein Besitzen, dass ein Einschließen ist, ein Verschließen, ohne dem Gegenüber die Freiheit zu lassen. Dem Gegenüber wird dieser Tatbestand mit Hilfe einer Verkleinerungsform nahe gebracht, wenn von einem »Schlüsselein« gesprochen wird. Spätestens an dieser Stelle in Zeile 5, gefolgt von dem »musst« (von mir aus kann dies auch als »wirst« gelesen werden), verliert diese Liebe eines der zentralen Momente einer authentischen Liebe, nämlich den Respekt vor der Freiheit des anderen, der sich in Freiheit bindet und von daher bereit ist, einen Teil seiner »Freiheit« freiwillig aufzugeben. Freiheit heißt aber, im Herzen des anderen zu sein, ohne dass dieser ein Schloss braucht, um diese Liebe zu halten.

Und plötzlich klingt das »Du bist mîn« der ersten Zeile ein wenig wie eine Inbesitznahme des Gegenübers, auch wenn dann die Aussage folgt, dass das lyrische Ich auch dem Du gehöre. Doch das Du wird hier als passiv dargestellt, als wehrlos, wie Alois Weimer in seiner Interpreation des Gedichtes in »Cicero – Magazin für politische Kultur« bereits dargestellt hat, die mir bei meinem Brüten über der Frage, was mich an diesem Gedicht zunehmend stört, begegnet ist. Nein, das lyrische Ich in diesem Gedicht gibt sich nicht bedingungslos hin, sondern es vereinnahmt das Du.

Und genau deshalb, so meine These, wirkt das Gedicht so anziehend: Hier wird keine romantische Liebe beschworen! Dieses Gedicht beschreibt vielmehr, wie janusköpfig Liebe erfahren werden kann: Neben der engen Verbindung zweier Individuen – und es ist erstaunlich, dass bereits hier so etwas wie Individuen aufzutauchen scheinen, wird die Entdeckung des »Ich« doch allgemein der italienischen Renaissance zugesprochen – wird hier die Inbesitznahme des Du durch das lyrische Ich thematisiert. Liebe wird hier nicht verklärt, sondern mit ihren Gefahren dargestellt.

Diese Aussage, verbunden mit der perfekten Verbindung des Inhalts mit der Form, macht dieses Gedicht zu einem großartigen Gedicht. Ja, der romantische Teil der Liebe, wie wir sie seit der Romantik in unsere Vorstellungswelt als Ideal aufgenommen haben, klingt hier schon mit, doch er wird ergänzt durch die wenig romantische Realität der Abhängigkeit auf Gedeih und Verderb, die im 12. Jahrhundert noch Realität war, aber auch von dem Phänomen des durchaus auch materiell zu verstehenden Besitzanspruch des lyrischen Ichs gegenüber dem Du dieses Gedichtes.

Diese Doppelbödigkeit der Liebe ist bis heute nicht aus dem Erfahrungsschatz der Menschen verschwunden. Hier, in einem der ältesten Zeugnisse eines Liebesgedichtes in deutscher Sprache, die wir haben, wird dieses Phänomen bereits auf den Punkt gebracht, sodass es bis heute kein übermäßiges Problem zu sein scheint, einen Zugang zu diesem Gedicht zu bekommen, auch wenn dieser Zugang meist nur die eine, die romantische Seite der hier beschriebenen Liebe zu sehen bereit ist und dabei die weit nüchternere und deshalb auch erschreckendere Lesart dieses Gedichtes aus dem (bewussten) Blick verliert.