Alle Tage (Ingeborg Bachmann)

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Alle Tage (Ingeborg Bachmann) von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

Ingeborg Bachmanns Gedicht »Alle Tage« hat das Zeug zum Klassiker. Sprachlich und formal einfach gebaut, inhaltlich dafür um so gehaltvoller, lesbar und immer wieder neu verstehbar in den unterschiedlichsten Zeiten. Machen wir das Übliche also kurz:

1953 erschien das Gedicht in Bachmanns Gedichtband »Gestundete« Zeit, der sie als Autorin bekannt machte. Der zweite Weltkrieg war gerade vorbei, der Kalte Krieg in vollem Gange. Es lag also nahe, über die Alltäglichkeit des Krieges auch in der Poesie nachzudenken.

Wenn nun also jemand kommt und sagt, man müsse ein solches Gedicht vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund verstehen, hat er zwar Recht, doch gleichzeitig erklärt er das Gedicht, wahrscheinlich ohne es zu wollen, für tot: Ja, ich kann ein Gedicht vor dem zeithistorischen Hintergrund verstehen (oder vor dem Hintergrund der Biographie einer Autorin), aber wenn ich ein Gedicht verstehe – für mich ist es dann kein Gedicht mehr.

Klar: Ich habe Formanalysen gelernt, kann mit einigen rhetorischen Begriffen was anfangen und bin auch nach wie vor davon überzeugt, dass ein historischer oder ein auf die Biographie von Autoren und Autorinnen hin ausgerichteter Zugang zu einem Gedicht sehr hilfreich sind, wenn ich mit einem Gedicht ins Gespräch kommen will, aber bestünde der Reiz von Gedichten nur daraus, wären sie nicht mehr als nette kulturhistorische Dokumente. Diese Zugangsweisen helfen, ein Gedicht im Kontext seiner Entstehung zu verstehen. Aber ein Gedicht beginnt für mich erst da zu leben, wo ich selbst mit ihm in ein Gespräch eintrete und es nicht für das literaturhistorische Seminar oder den Unterricht analysiere. Dort, wo ein Gedicht meine Gedanken zum rotieren bringt, mich ein Sog erfasst, der mir immer neue Gedanken und Ideen bringt und mich auch mit meinen Gefühlen in ein Gedicht hinein zieht – dort lebt für mich ein Gedicht.

Ingeborg Bachmanns »Alle Tage« ist für mich ein solches Gedicht. Es begegnet mir gerade jetzt, weil ich mich neu mit Terézia Moras Roman gleichen Titels befasse und mich an die Namensgleichheit der Titel erinnerte. Ob es eine Verbindung gibt, ist mir noch nicht klar. Dass aber Bachmanns Gedicht für mich eine erschreckende Aktualität hat, das habe ich diese Tage neu entdecken dürfen.

Das Formale: Drei reimlose Strophen, einmal acht und zweimal sechs Verse – zwanzig Verse insgesamt. »Alle Tage« ist ein kurzes Gedicht. Auffallend sind die Übergänge der Verse, die in vielen Fällen als Enjambement gestaltet sind. – Lese ich nun das Gedicht ((Aus urheberrechtlichen Gründe kann der Text des Gedichtes hier nicht veröffentlicht werden.)), so werde ich die Frage aufnehmen müssen, was dieses Phänomen für mein Verständnis des Textes bedeutet.

Es geht von Anfang an um den Krieg; um keinen bestimmten Krieg, sondern um den Krieg an sich, der mit einem bestimmten Artikel eingeführt wird: »Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. Das Unerhörte / ist alltäglich geworden.« (V 1–3a) – Und da ist es schon, das erste Enjambement: Dass »Der Krieg« fortgesetzt wird, ohne erklärt zu werden, ist unerhört. Doch außerdem ist er »alltäglich« geworden.

Ich sehe hier das Enjambement als die formale Umsetzung des Ausbruchs des Krieges aus den bislang gewohnte Grenzen: Er ist in den Alltag eingekehrt. Und auch an anderen Stellen kennzeichnet dieses Stilmittel die Überschreitung von Grenzen des Gewohnten, des Unerhörten, dessen, was eigentlich sein darf ((Vgl. z. B. V 3/4; 4/5)), das durch das »Unerhörte« dessen, was nicht »normal« sein darf überlagert wird.

Komme ich selbst, einigermaßen unabhängig von den Zeitumständen der Entstehung des Gedichtes, mit dem Gedicht ins Gespräch, so habe ich mehrere Assoziationen, was dieses »Unerhörte« in der Gegenwart sein könnte:

  • Ich denke an Umgangsformen, die in immer mehr Bereichen von Konkurrenzgedanken geprägt sind. Doch bei diesem Gedanken sträubt sich etwas in mir: Ist es nicht eine Verharmlosung dessen, was Krieg bedeutet, wenn ich dieses Begriff für Umgangsformen verwende, die trotz allem, zumindest in meinem bisherigen Erfahrungskontext, relativ friedlich ablaufen?
  • Ich denke daran, wie das Ende des Kalten Krieges 1989 fast unmittelbar in neue Kriege führte (Jugoslawien, Kuwait-Krieg…) und das »Unerhörte« Schritt für Schritt auf für die deutsche Außenpolitik zu etwas Möglichem wurde, wenn auch aus der Perspektive der humanitären Hilfe in Krisenregionen.
  • Ich denke an den 11. September und daran, dass das bis dahin »Unerhörte« in den letzten Jahren mehr und mehr »alltäglich geworden« ist: Bundeswehrsoldaten im dauerhaften Auslandseinsatz; die zunehmende Selbstverständlichkeit von Videoüberwachung; die Vorratsdatenspeicherung und alle weiteren Maßnahmen, die Sorgen begründen, dass sich ein Überwachungsstaat am Horizont abzeichnen könnte. – Es scheint »alltäglich geworden«, dass Freiheit nicht mehr als etwas verstanden wird, dass einem erlaubt, nichts zu verbergen zu haben und doch gegen Überwachung und Vorratsdatenspeicherung zu sein.
  • Ich denke an die Schlacht um die persönlichen Daten möglichst vieler Menschen, in der noch viel mehr Daten gespeichert werden, als es Staaten heute durchsetzen wollen – Daten, die viele Menschen einfach Preis geben, ohne sich der möglichen Folgen bewusst zu sein.
  • Und gerade in diesen Tagen denke ich daran, wie unerhört es eigentlich ist, dass private Banken so wirtschaften können und dürfen, dass plötzlich Milliarden an Steuergeldern eingesetzt werden, um sie vor dem Konkurs zu retten.

»Das Unerhörte / ist alltäglich geworden.« – So alltäglich, dass es oft gar nicht mehr als »Unerhörtes« wahrgenommen wird.

Bis an diese Stelle lese ich Bachmanns »Alle Tage« als ein politisch deutbares Gedicht. Doch in den folgenden Versen wird es persönlicher, da es indirekt die Frage aufwirft, wo Lesende selbst in diesen alltäglichen Ungehörigkeiten angesiedelt sind.

Statt sich, wie bislang üblich, ins Getümmel zu stürzen, sind Helden, folge ich dem Gedankengang in Bachmanns Gedicht, heute eher jene, die sich diesem Getümmel entziehen und sich kritisch mit den »Ungehörigkeiten« der je eigenen Gegenwart zu befassen. (V 9–14)

Nun aber taucht das erste Rätsel für mich auf: »Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt.« (V 4f) Denke ich hier an Arme etc., die z. B. besonders häufig beim Militär landen? Oder denke ich an die zivilen Opfer, die die aktuellen Kriege fordern? Oder sind es Schwache bezüglich der Reflexionsfähigkeit auf die eigene Gegenwart? Das Gedicht zieht mich hier in einen Raum der Unbestimmtheit. Ich kann mich nicht entscheiden, wer eigentlich mit den »Schwachen« gemeint ist – zu viele Assoziationen werden da in mir wach.

Ebenso rätselhaft blieb mir lange die Formulierung, dass die Uniform der Gegenwart die Geduld sei (V 6). Ist damit vielleicht gemeint, dass der Langmut und die Geduld, die gegenüber den »Ungehörigkeiten« aufgebracht wird, schon so alltäglich geworden sind, dass sie mit der Metapher der »Uniform« gefasst werden können? Oder ist diese Aussage eher positiv gemeint, indem sie den »Kampfanzug« derer meint, die sich gegen diese »Ungehörigkeiten« z. B. auf juristischem Wege zur Wehr setzen? – Ich neige zu dem zweiten Verständnis, denn die von Ingeborg Bachmann in den folgenden Versen (V 7f) genannte Auszeichung der »Helden« der Gegenwart ist nichts anderes als »armselige Stern / der Hoffnung über dem Herzen«. – Die Hoffnung nicht aufgeben, dass der »Krieg«, das »Ungehörige« ein Ende finden wird?

Die Hoffenden, die Widerständigen gegen die »Ungehörigkeiten« werden ihre »Auszeichnung« erst erhalten, wenn das »Ungehörige« nicht mehr geschieht. Ich denke da an Gandhi, Martin Luther King oder auch Nelson Mandela. Sie kämpften gegen die alltäglich gewordenen »Ungehörigkeiten«, wurden verfolgt, inhaftiert, die ersten beiden sogar ermordet – und doch von ihrer Hoffnung nicht verlassen. Als ihre Feinde »unsichtbar« geworden waren, wurde ihnen der »armselige Stern / der Hoffnung über dem Herzen« zur Auszeichung.

In der dritten Strophe nun schreibt Ingeborg Bachmann, was diese Hoffenden ausmacht: Sie fliehen vor den Fahnen, zeigen sich dem Freund gegenüber tapfer, verraten unwürdige Geheimnisse (sind also Aufklärer, wie z. B. investigativ arbeitende Journalisten und Journalistinnen…) und missachten die Befehle, die im Rahmen des »Unerhörten« gegeben werden (V 15–20). Es sind die Mutigen, die den »armseligen Stern / der Hoffnung über dem Herzen« tragen.

Interessanterweise verschwinden die Enjambements in der zweiten und dritten Strophe des Gedichts fast vollständig oder es handelt sich nur noch um sehr schwache Enjambements. Die Form spiegelt hier den Inhalt wider: Es geht hier um diejenigen, die die Grenze nicht überschreiten, welche an die Stelle des Friedens den alltäglich gewordenen »Krieg« mit all seine »Ungehörigkeiten« setzt. Klare Aufzählungen machen hier einen großen Teil der Verse aus (V 10–14; 16–19), ohne die verschlungenen Pfade, die das Enjambement in einem Gedicht für die Bedeutung der Verse eröffnet.

Mir ist bewusst, dass eine solche Herangehensweise an »Alle Tage« selbst wieder eine an den Bedingungen der Gegenwart des Lesers orientierte ist – und somit veralten wird. Doch genau das ist das für mich Spannende an einem Gedicht wie Bachmanns »Alle Tage«: Jede Zeit kann und muss es neu für sich erschließen; jeder Leser und jede Leserin muss es neu für sich schließen. Dies hier ist nur eine mögliche Variante – und ich würde mich sehr freuen, regte diese Beitrag den einen oder die andere Leser oder Leserin an, selbst eine Interpretation des Gedichtes zu verfassen und als Kommentar hier zu hinterlassen.

Ingeborg Bachmann, Alle Tage, in: Ingeborg Bachmann, Sämtliche Gedichte, München 1998 (zuerst 1978), 56.