LdL und TZI

In einem vorhergehenden Beitrag schrieb ich in einem Kommentar, dass ich bei meinen Überlegungen von mir als Lehrer ausgehe und mich auf diesem Wege dem Konzept »Lernen durch Lehren« nähere. Ich begründete dieses Vorgehen mit meiner Beschäftigung mit den Ansätzen der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth Cohn. Hier soll nun diese als Hypothese angenommene Verbindung beider Konzepte näher untersucht werden. Dabei gehe ich von grundlegenden Elementen der TZI aus und untersuche, inwiefern sie mit dem Konzept des LdL vereinbar sind. Meine Vermutung ist, dass es zahlreiche Anknüpfungspunkte gibt, die beide praxisorientierte Theorien miteinander verbinden können.

Dieser Beitrag versteht sich in diesem Zusammenhang als ein Versuch und nicht als letztes Wort. Dieser Beitrag will zu weiteren Beiträgen anregen, zu Diskussionen und Komentaren, gehört also zu einem Denkprozess, der an unterschiedlichen Orten der Welt stattfindet – und das Netz zur Verknüpfung der Aktivitäten nutzt.

Die Grundlagen der TZI und der Ansatz LdL

Die Autonomie des Menschen

»Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz (Allverbundenheit).« ((Cohn, Ruth, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion 1975, 120.))

Hier geht es um das Menschenbild der TZI. Der Mensch ist eigenständig und abhängig bzw. mit anderen Menschen verbunden. Um hier einen Vergleich mit LdL zu leisten, muss das Menschenbild zu Rate gezogen werden, das mit dem Konzept »Lernen durch Lehren« verbunden ist.

Jean-Pol Martin beschreibt den Menschen als »Ressource«, wobei ich den Begriff hier anders verstehen als in ökonomischen Kontexten. Ich verstehe den Begriff hier als parallel zu dem Begriff der »Autonomie« in der TZI. Jeder einzelne Mensch bringt bestimmte Fähigkeiten mit, die ihn von anderen Menschen unterscheiden und die seine Autonomie begründen. Gleichzeitig kommt diese Autonomie nur dann zu sich selbst, wenn sie mit anderen Menschen in Verbindung tritt, diese als Autonomien (»Ressourcen«) wahrzunehmen versteht und entsprechend zu handeln vermag. Mit der Begrifflichkeit der TZI ausgedrückt heißt das: Der autonome Mensch ist zugleich interdependent – im Vokabular von LdL  bedeutet dies, dass der Einzelne in der Lage sein muss, »Potenziale von anderen Gruppenmitgliedern zu erkennen, zu erschließen und für die Gruppe fruchtbar zu machen« ((http://www.adz-netzwerk.de/wiki/index.php/Benutzer:Jeanpol/Folie_4, Punkt 6.)). Die Autonomie des Einzelnen, die ihn zur »Ressource« macht ist »interdependent«, im Wechselspiel mit anderen »Ressourcen« und nur dann angemessen verstanden, wenn die anderen als Autonomien bzw. als »Ressourcen« verstanden werden. Das Ich im Lernprozess ist nie nur Ich, sondern immer Teil des Wir einer Lerngruppe.

In der Bedürfnispyramide nach Maslow ((Maslow, Abraham: Motivation and Personality. New York, 1954.)) ist dieser Zusammenhang in den Bereichen »Selbstverwirklichung«, »soziale Beziehungen« und »soziale Anerkennung« angesiedelt. ((Vgl. http://wiki.zum.de/Netzsensibilit%C3%A4t?title=Lernen_durch_Lehren/Fortbildungen/Materialien))

Wertschätzung

»Ehrfurcht gebührt allem Lebendigem und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll, Inhumanes ist wertbedrohend.« ((Cohn, Ruth, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion 1975, 120.))

LdL geht davon aus, dass Lernende das Potential mitbringen, zum Wachstum anderer Lernender beizutragen, insofern sie dabei von einem in der Sache und in den Methoden kompetenten Lehrenden begleitet werden. Die »Ressource«, die jedes Individuum im Konzept von LdL ist, setzt sich von einem lehrerzentriertem Unterricht insofern ab, als dieser Form von Unterricht »eine rezeptive Aufnahme von bereits linear geordneten Lerninhalten« praktiziert, während bei Ldl eine Kontruktion von Wissen durch die Lerner angestrebt wird. ((Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Lernen_durch_Lehren#Die_p.C3.A4dagogisch-anthropologische_Komponente)). LdL setzt also den Wert des individuellen Lerners voraus, bringt ihm »Ehrfurcht« entgegen. Diese schließt bewertende Entscheidungen mit ein, die sowohl durch die Lernenden als auch die Lehrenden zu treffen sind.  Doch die hier angesprochene Bewertung ist vor allem eine kognitive und keine das Individuum bewertende. Es geht um die Sache und die soziale Interaktion der Lernenden und nicht um Noten. ((LdL steht in der Spannung zwischen der Ermutigung zu Fehlern und der Frage der Bewertung von Leistungen, die von Lehrenden im schulischen Zusammenhang gefordert wird. Bislang bin ich im Kontext von LdL immer wieder auf die Bemerkung gestoßen, dass Leistungen, die in diesem Rahmen erbracht werden, nicht benotet werden. Das Problem liegt hierbei, wie bei allen humanistischen Ansätzen der Pädagogik, also auch im Ansatz der TZI, dass Unterricht in einem Kontext stattfindet, in dem von Lehrenden eine solche Bewertung gefordert wird. Die von Lehrenden verlangte Benotung von Schülerleistungen steht also in einem Spannungsverhältnis zu pädagogischen Ansätzen, die an humanistischen Pädagogiken orientiert sind. Dieses Problem würde ich gerne als ein mögliches Thema in den Kommentaren zu diesem Beitrag sehen.))

Grenzen erweitern

»Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.« ((Cohn, Ruth, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion 1975, 120.))

Seneca stellte in seinen Briefen über die Moral an Lucilius fest: homines, dum docent, discunt (Menschen lernen, während sie lehren) ((Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 7.)). Damit verbunden ist, dass lehrende Menschen ihre eigenen intellektuellen Grenzen ständig erweitern, während sie sich zugleich im Kontext »bedingender innerer und äusserer Grenzen« ((Cohn, Ruth, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion 1975, 120.)) bewegen. Bezogen auf die Bedürfnispyramide nach Maslow bedeutet dies, dass ein Lehrender sich selbst verwirklicht, soziale Beziehungen pflegt, soziale Anerkennung erlangt und somit einerseits Sicherheit erlangt, aber auch in einen transzendenten Bereich vordringt, insofern er im Prozess des Lernens und Lehrens über sich selbst hinaus steigt und etwas zu lernen vermag, was ohne die Einbettung des Lernens in den sozialen Kontext der Lerngruppe nicht möglich wäre. ((Vgl. Maslow, Abraham: Motivation and Personality. New York, 1954 und http://wiki.zum.de/Netzsensibilit%C3%A4t?title=Lernen_durch_Lehren/Fortbildungen/Materialien)) Lernende müssen aus der Sicht von LdL freie Entscheidungen treffen, die sich im Rahmen der Grenzen bewegen, die von ihrem Lernstand und ihren Fähigkeiten im Umgang mit Materialien zu einem Thema (innere Grenzen), aber auch von den Vorgaben von Schule und Unterricht (äußere Grenzen) gesetzt werden. Diese Entscheidungen und die ihnen gesetzten Grenzen führen jedoch gleichzeitig zu einer Erweiterung dieser Grenzen, da im Umgang mit dem einem Thema und den zur Verfügung oder recherchierten Materialien im Kontext der Vorbereitung auf das Lehren eine Erweiterung sowohl des Wissen als auch der Kompetenzen der Lernenden zu erwarten ist.

Die Postulate der TZI und der Ansatz LdL

Sei deine eigene Chairperson, die Chairperson deiner selbst!

Diese Postulat der TZI bedeutet, dass jedes Individuum dazu aufgefordert ist, sich selbst, andere Individuen und die Umwelt in ihren jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen wahrzunehme »und jede Situation als ein Angebot für die eigene Entscheidung anzunehmen.« ((http://de.wikipedia.org/wiki/Themenzentrierte_Interaktion))

LdL kann nur funktionieren, wenn Lernende diesen Grundsatz befolgen und im Kontext der gestellten Herausforderungen durch einen Unterrichtsgegenstand diesen mit dem eigenen Selbst in Verbindung zu bringen vermögen. Dabei ist diese Verbindung mit dem eigenen Selbst in einem sehr weiten Sinne zu verstehen.

Darin steckt die Aufforderung, sich selbst, andere und die Umwelt in den ihnen je eigenen Möglichkeiten und Grenzen wahrzunehmen und jede Situation als ein Angebot für eigene Entscheidungen anzunehmen. Das heißt, Lernende müssen in die Lage versetzt werden, im Umgang mit einer Sache Entscheidungen zu treffen, mit denen sie sich selbst als Individuen in den Lern-Lehr-Zusammenhang einzubringen vermögen, aber auch, die Grenzen der persönlichen Eingebundenheit im Zusammenhang der Vermittlung der Sache an Mitlernende zu erkennen und produktiv umzusetzen.

Störungen haben Vorrang

Diese Übersetzung des Postulates Ruht Cohns übergeht, was hier gemeint ist. Hier wird die Tatsache angesprochen, dass Störungen sich Vorrang nehmen! Das heißt, dass ich als Lernender oder Lehrender immer damit rechnen muss, dass es im Kontext des Lernens und Lehrens zu Ereignissen kommt, die diesen Prozess begleiten, ohne dass sie etwas mit dem Gegenstand zu tun haben. Dabei können Störungen unterschiedlichste Formen annehmen, die sich jeder und jede selbst ausmalen möge. Diese Störungen können alle Mitglieder einer Lerngruppe betreffen oder sehr individuell sein. Ob nun weltpolitische oder persönliche Ereignisse eintreten, sie beeinflussen die Interaktion in einer Lerngruppe auf jeden Fall, sodass eine weitere Arbeit an einer Sache erst dann wieder aufgenommen werden kann, wenn solche Störungen aufgegriffen wurden. In solchen Situationen ist der Lehrende gefragt. Beispielsweise konnte am 12. September 2001 wohl kaum ein Lehrender die Ereignisse von 9/11 ignorieren. Doch Störungen können auch völlig anders geartet sein. Wenn z. B. in einer Schule bei laufendem Betrieb gebaut wird oder bestimmte Vorfälle in der Schule oder in der Biographie von Schülerinnen und Schülern auftreten (Verlust eines Angehörigen eines Schülers oder einer Schülerin oder auch einfach nur die Tatsache, dass die Lernenden in einer vorhergehenden oder folgenden Stunde eine Arbeit schreiben oder es im Verbund der Lernenden zu Störungen im Sozialverhalten gekommen ist etc.), so müssen diese in der Gruppe oder mit dem Individuum aufgegriffen werden. Hier wäre dann im Kontext von LdL der Lehrende als Teil der Gruppe gefragt, um solche Situationen aufzugreifen.

Bislang ist mir im Kontext von LdL kein Ansatz begegnet, der solche Formen von  Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern aufgreifen würde. Doch wie jede andere Unterrichtsform auch, muss ein Konzept wie LdL Platz für die Aufarbeitung solcher Störungen lassen. Ob in solchen Zusammenhängen vor allem der Lehrende mit seinen pädagogischen Kompetenzen gefragt ist oder ob Lernende diese Störungen selbst aufgreifen können (bzw. sollen), erscheint mir im Konzept von LdL bislang zu wenig (gar nicht?) reflektiert zu sein. An dieser Stelle kommt dieser Vergleich von TZI und LdL möglicherweise an eine Grenze, die in das Konzept von LdL explizit integriert werden muss. Impliziet gibt es bereits bei den von Maslow genannten Teilen der »Bedürfnispyramide« Ansätze zu einer solchen Integration von Störungen, insbesondere wenn es um physiologische Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit geht, doch im Konzept von LdL erscheint mir die Frage nach dem Umgang mit Störungen bislang zu wenig berücksichtigt. ((Sollte ich hier etwas übersehen haben, freue ich mich über Ergänzungen im Kommentar zu diesen Beitrag.))

Verantworte dein Tun und Lassen – persönlich und gesellschaftlich!

Dieses Postulat bezieht sich auf einen Vorschlag Günter Hoppes aus dem Jahr 1994. ((Günther Hoppe: »Misch Dich ein! Greif ein!« Ein drittes Postulat für die TZI?, in Cornelia Löhmer, Rüdiger Standhardt (Hg.): Zur Tat befreien. Gesellschaftspolitische Perspektiven der TZI-Gruppenarbeit, Mainz, 1994; Ruth C. Cohn: Verantworte Dein Tun und dein Lassen – persönlich und gesellschaftlich. Offener Brief an Günter Hoppe, in:  Themenzentrierte Interaktion. Theme-centered Interaction, 8. Jahrgang, Heft 2, Herbst 1994.)) Hoppe sagt: »Setze Dich mit Deiner äusseren Welt, Deinem Globe um Dich herum und seinem Abbild in Dir auseinander. Greife ein und verändere, was Du im Sinne der Humanisierung verändern kannst!« ((Ebd.))

»Weltverbesserung« ist einer der zentralen Begriffe bei Jean-Pol Martin. Dabei geht es ihm z. B. darum, »relevantes Wissen gemeinsam zu konstruieren« ((Jean-Pol Martin, Kommunikation als Kickspender und Verführung! Auf die Ziele kommt es an!)) Dabei ist sein »Rezept«, mit anderen Menschen zu kommunizieren und, was fast noch wichtiger ist, entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten zu entwickeln und zu nutzen.

»Um Probleme zu lösen, müssen wir ununterbrochen neues Wissen konstruieren. In Einsamkeit geht das nicht. Zur Produktion von neuem Wissen, müssen Menschen kommunizieren. Wie motiviert man Menschen zu kommunizieren, um neues Wissen herzustellen?« ((Jean-Pol Martin, Ich weiß was, was du nicht weißt: wie bringt man Menschen zum Kommunizieren?; vgl auch das Video http://www1.ku-eichstaett.de/SLF/LdL/video/ldl2.mov.))

Das Modell der TZI liefert für dieses Ziel ein Rahmenmodell für gelingende Interaktion, die ja immer auch Kommunikation ist. Der Prozess der Kommunikation wird hier in der Trias von Ich, Wir und Sache betrachtet, aus der sich interagierend das Thema ergibt, das immer auch in alles die Interaktion Umgebende eingebettet ist, was die TZI den Globe nennt:

TZI-Modell

LdL geht davon aus, dass Wissen der Weltverbesserung dienen kann, wenn möglichst viele Köpfe ernsthaft an der Generierung des Wissens (und an der Umsetzung von Einsichten) beteiligt sind. Dabei werden (auch) die Möglichkeiten des Internets, genauer, digitale Vernetzungsstrukturen, genutzt, um Individuen mit ihren individuellen Denkmöglichkeiten als Gruppe (Wir) zusammen zu bringen, die mit einer Sache (Es) befasst ist, woraus sich nicht nur die Inhalte, sondern überhaupt erst die Themen der Interaktion ergeben. Dabei nimmt das eigene Tun und wie das Tun Anderer einen persönlichen und gesellschaftlichen Charakter an, der von den jeweiligen Akteuren Verantwortung verlangt.

Resümee

Es ist möglich, die Ansätze »Lernen durch Lehren« und »Themenzentrierte Interaktion« miteinander zu verknüpfen. Sie ergänzen einander, ohne dass der eine den anderen aufheben würde. Die Reflexion des einen Ansatzes vor dem Hintergrund des anderen erzeugt Schnittmengen und (hier zunächst einmal wenig diskutierte) Differenzen, die z. B. unter anderem darin bestehen könnten, dass TZI einen originär psychotherapeutischen Hintergrund hat, der sich die Frage stellt, wie Kommunikationsstrukturen aussehen müssen, die ganzheitlich ansetzen und somit zur psychischen Gesundheit von Menschen beitragen, während sich LdL originär in einem eher didaktischen Rahmen bewegt, in dem es um die Frage geht, wie Wissen möglichst nachhaltig generiert werden kann, sodass es relevant wird.

In diesem Beitrag habe ich die »Hilfsregeln der TZI« zunächst einmal unberücksichtigt gelassen. Diese können aber auch im Kontext LdL insofern hilfreich sein, als sie zentrale Grundregeln formulieren, die für eine gelingende Kommunikation notwendig sind. Diese Grundregeln sind für die direkte Face-to-Face-Situation formuliert sind, eine Situation in der LdL in den meisten Fällen seine Anwendung findet. Eine Übertragung auf eine Interaktion im Internet scheint mir aber möglich. ((Wenn im Internet von Netiquetten gesprochen wird, sind damit oft Regeln der Kommunikation gemeint, die mir den Hilfsregeln der TZI ähnlich scheinen, wobei in ihnen aber auch die technischen Fragen der Kommunikation im Internet häufig mit berücksichtigt werden.))

Torsten Larbig, Frankfurt am Main, 31.01.–03.02.2009