Wenn Prävention Freiheit zerstört: Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“

Rezensenten scheinen sich, glaube ich den Zusammenfassungen auf perlentaucher.de (und ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht tun sollte), bei Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“ ((Juli Zeh, Corpus Delicti. Ein Prozess, Frankfurt am Main (Schöffling) 2009. 264 Seiten – 19,90 €)) nicht einig zu sein. Ich finde das gut, denn „Corpus Delicti“ ist einer der politischsten Texte, die ich in den letzten Jahren gelesen habe und zwingt den Leser geradezu zu Assotiationen mit gegenwärtigen Entwicklungen. Der Roman verlangt eine eigene Positionierung, was möglicherweise auch die unterschiedlichen Besprechungen des Buches erklärt.  Zunächst als Theaterstück erschienen, liegt „Corpus Delicti” nun als Roman vor, dem das szenenhafte eines Theaterstücks aber nach wie vor geblieben ist.

„Es geht […] um die Tatsache, dass die Datenspur eines Menschen Millionen von Einzelinformationen enthält, aus denen sich jedes beliebiges Mosaik zusammensetzen lässt.” (S. 226)

Mia Holl lebt im fiktiven Deutschland des Jahres 2057, das zu einem in Fragen der Gesundheit konsequenten Präventivstaat geworden ist.

Im Oberarm implantierte Chips liefern ständig Daten an Scanner, in Wohnungen wird alles an Daten erhoben, was nur möglich, bis hin zum Gehalt an Magensäure im Abwasser, woraus man Rückschlüsse ziehen kann, ob sich ein Bürger übergeben hat. Es wird aber beispielsweise auch erhoben, ob man die verpflichtende Kilometerzahl auf dem Heimfahrrad zurückgelegt hat.

Krankheit ist ausgerottet, jedes möglicherweise krankmachende Verhalten ist ein Straftatbestand.

Das Staatssystem nennt sich „Methode“ und hält sich für absolut rational.

Wer sich dem doch nur das Beste wollenden Staat und der Vorsorge entzieht, ist selber schuld. Wer ein „Recht auf Krankheit“ fordert, wird vom Staat als Terroist verfolgt und Mia Holl steht vor Gericht, weil sie nicht glauben will, dass ihr Bruder Moritz, trotz eines scheinbar eindeutigen DNA-Beweises, eine Frau vergewaltigt und umgebracht haben soll.

Moritz hat sich in der Haft umgebracht und Mia, einst vollkommen systemhörig, kommt ins Zweifeln, wird zum Star einer aufkeimenden Gegenbewegung – und muss am Ende erfahren: Ein System, dass die Datenspur eines Menschen möglichst umfassend erhebt, kann daraus alles ihm liebe konstruieren. – Wenn zunächst auch Assoziationen zu George Orwells Roman „1984“ aufkeimen, tauchen am Ende in meiner Erinnerung Bilder aus Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ auf.

Aber Assoziationen zu anderen Autoren und deren Werke reichen nicht, um dem Anspruch des Buches gerecht zu werden. „Corpus Delicti“ ist vielmehr ein Buch, in dem die Tendenzen der Gegenwart mit großer intellektueller Schärfe aufgegriffen und weiter gedacht werden. Im Buch führt die Fürsorglichkeit des Staates zur radikalen Entmündigung der Bürger – und entpuppt sich somit als ein antiaufklärerisches Projekt, setzte die Aufklärung doch „auf den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Diesem Anspruch tritt der Staat in „Corpus Delicti“, verkörpert durch Heinrich Kramer, einem fanatischen Gentlemen, der mit dem Buch „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ das ideologische Grundwerk dieser Gesundheitsdikatur geschrieben hat, mit dem Anspruch entgegen, dass doch wohl keiner etwas dagegen haben könne, wenn man Gesundheit ins Zentrum des Staatswesen stelle und sich somit von allen Ideologien entferne, die das 20. Jahrhundert geprägt hätten:

„Gesundheit ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik.“ (S. 7)

Und an anderer Stelle formuliert Kramer das antiaufklärerische der „Methode“ selbst:

„Ich verabscheue das Rückständige der Freigeisterei, dieses altmodische Überbleibsel bürgerlicher Aufklärung.“ (182)

Wer wollt einer solchen Aussage auf dem ersten Blick widersprechen? – Und doch führt dieses Ziel zu einer Diktatur – und eröffnet von Anfang an Assoziationräume. Das ist überhaupt eine der großen Stärken dieses Buches: Es erlaubt den Lesenden, die Gegenwart kritisch in den Blick zu nehmen, ohne dass sie von der Autorin bevormundet würden – dazu sind die Darstellungen der Notwendigkeiten und Risiken eigenen Denkens viel zu differenziert ausgefallen.

Ersetzen wir „Gesundheit“ durch „Sicherheit“, so sind die Leser mitten in der Gegenwart, mit Vorratsdatenspeicherung, Eröffnung rechtlicher Möglichkeiten der Internetzensur mithilfe eines moralisch hochstehenden Wertes, Einführung biometrischer Daten in Ausweisdokumenten etc. – Und somit überrascht es nicht, dass Juli Zeh als erste Autorin überhaupt eine Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen eben diese Integration biometrischer Daten in Ausweisdokumenten eingereicht hat. – Das sei aber nur am Rande erwähnt.

Mia Holl kommt im Laufe ihres Kampfes für die Rehabilitation ihres Bruders zu dem Schluss, dass sie ihrer Gesellschaft das Vertrauen entzieht. Und hier wird der Roman hoch aktuell. In einem von Mia Molls in Heinrich Kammers Feder diktierten Text heißt es unter anderem:

„Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. […] Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikiofreien Lebens stützt.“ (S. 186f.)

Sicherheit als Argument für die Reduktion bürgerlicher Freiheitsrechte, für die Aushöhlung des Brief- und Telekommunikationsgeheimnisses; abscheuliche Verbrechen einer Minderheit und die sich daraus ergebenden Schutznotwendigkeiten minderjähriger Opfer als Einstieg in rechtliche Möglichkeit zur Sperrung bestimmter Websites und somit zumindest die Schaffung erster rechtlicher Grundlagen zu einer über das moralisch hochstehende Anliegen hinaus gehenden Zensur im Internet – inklusive einer Diskreditierung der sachlich gegen diese Entwicklungen argumentierenden Fachleute als potentielle Unterstützer jener abscheulichen Verbrechen, die man doch nur verhindern wolle… – Mir kommen Mia Molls Aussagen ebenso aktuell vor, wie die Aussage, dass doch nur derjenige gegen Überwachung sein müsse, der etwas zu verbergen habe, da sie doch die allgemeine Sicherheit steigere.

Nein, ein absolutistischer Präventivstaat ist keine wilde Phantasie einer Schriftstellerin. Selbst im Forum der Seiten des Deutschen Bundestages wird auf das Risiko der Freiheitseinschränkung der Bürger durch den Staat mit präventivem Ziel hingewiesen, zu denen übrigens auch Onlinedurchsuchungen von Rechnern gehören. Die Unschuldsvermutung bis zum Vorliegen konkreter Belege, dass diese nicht mehr gelten kann, wird immer mehr ausgehölt und die Freiheit dem scheinbar so rationalen Sicherheitsargument unterworfen. – Juli Zehs „Corpus Delicti“ greift indirekt tatsächlich die zentralen Risiken der Unterminierung der freiheitlich demokratischen Grundordnung auf und steht somit, für junge deutschsprachige Schriftstelle übrigens völlig untypisch, in der Tradition politisch und gesellschaftlich aufklärerisch wirken wollender Literatur eines Erich Frieds oder Heinrich Bölls, dessen „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nicht ohne Grund immer wieder als Vergleich zu Zehs Roman (Theaterstück) heran gezogen wird.

Das besondere an Zehs Roman – und das verbindet sie mit Heinrich Böll – ist, dass der literarische Anspruch nicht von der politischen Interpretationsmöglichkeit des Textes überlagert wird.

Einerseits wird hier ein Schlüsselthema unserer Zeit aufgegriffen, müssen wir uns doch zunemend der Frage stellen, wie weit wir im Kontext von Prävention die schleichende Entmündigung durch die Vorsorgeansprüche des Staates zu akzeptieren bereit sind. Andererseits wird dieses Thema in einer knappen, zahlreiche Leerstellen für eigene Assoziationen der Lesenden lassenden Erzählweise darsgestellt, ohne dass die Erzählfigur des Romanes auf eigene Erzählerkommentare verzichten würde.

„Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sie [Mia Holl] an Moritz denkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, ist sehr hoch.“ (S. 79)

Die Sprache wirkt teilweise, bei aller tiefgehenden Durchdringung der im Roman aufgegriffenen Themen, kühl und distanziert. Die Szenen (Kapitel) sind zahlreich (50 Kapitel) und knapp (auf 264 Seiten), wobei die Figuren teilweise den Eindruck erwecken, sie seien von der Autorin nicht dreidimensional genug dargestellt worden und blieben deshalb seltsam distanziert.

Diese Kritik muss sich der Roman gefallen lassen, wenn man von einem an einen Krimi erinnernden Roman eine Spannung erwartet, die den Leser mitreißt, eine Heldin erhofft, die als Identifikationsfigur gestaltet ist. Doch diesen Anspruch will der Roman gar nicht erfüllen.

Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“ steht in meinen Augen eher in der Tradition des Anspruchs Brechts an ein Theater mit aufklärerischem Anspruch (und „Corpus Deliciti war zunächst ein Theaterstück, sodass diese Assoziation legitim ist), als in der Tradition von Thrillern und Kriminalromane, die zum Mitfiebern einladen, so sehr von der Autorin, vor allem gegen Ende des Romans, einiges an Spannungsaufbau erreicht wird.

Doch nicht nur an Bertolt Brechts episches Theater, auch durch die Umsetzung eines Theaterstücks als Roman, wie bei Brechts „Dreigroschenoper“ und dem „Dreigroschenroman“, erinnert „Corpus Deliciti. Die Grundhandlung ist vielmehr eher die einer griechischen Tragödie: Mia Moll muss im Rahmen ihrer Gesellschaft schuldig werden, egal, wie sie handeln wird:

„‚Ich blicke auf eine Kreuzung zwischen zwei Wegen’, sagt Mia. ‚Der eine Weg heißt Unglück, der andere Verderben. Entweder ich verfluche ein System, zu dessen METHODE es keine vernünftige Alternative gibt. Oder ich verrate die Liebe zu meinem Bruder, an dessen Unschuld ich ebenso fest glaube wie an meine Existenz.’” (S. 39)

Wohin das führen wird, ob es Mia gelingt, am Ende doch als strahlende Siegerin darzustehen? Keine Frage, dieser Roman ist auch dann ein literarischer Genuss, wenn man das Ende kennt. Da ich ihm aber sehr viele Leser und Leserinnen wünsche, verzichte ich darauf, das Ende zu verraten. Nur so viel: Das Ende ist irritierend, wirft Fragen auf und fordert die reflexiven Fähigkeiten der Lesenden noch einmal massiv heraus. Juli Zeh macht es auch formal schwer, den Roman einfach abzuschließen, zur Seite zu legen und zum nächsten Buch zu greifen. Nach der letzten Seite bleiben Fragen offen, denen sich Lesende stellen müssen, wollen sie diesen gelungenen Roman wirklich auf sich wirken lassen.