Wandern in der Schule zwischen Zweck und Selbstzweck
Mit Schülern und Schülerinnen Wandern zu gehen, ist nicht erst in jüngerer Zeit zu einer mutigen Veranstaltung geworden.
Bereits 1986 gründete sich der „Pädagogische Arbeitskreis ‚Schulwandern‘“ am staatlichen Schulamt der Stadt Dortmund. Dieser Arbeitskreis hat[te?]…
…„sich die Aufgabe gestellt, die Bereitschaft zum Wandern in der Dortmunder Lehrerschaft neu zu beleben. Er will eine kind‑ und jugendgerechte Form des Wanderns entwickeln, die attraktiv ist und das Interesse der Schüler weckt.“Dabei wird betont, dass das Wandern Mittel zum Zweck sei und nicht an sich einen Wert habe. Anschließend werden die wertvollen Kompetenzen aufgezählt, die man beim Wandern vermitteln könne, die zudem auch von hochwertigen sozialen Komponenten begleitet werden. Wer mag, lese sich ein Dokument aus dem Jahre 1998 einmal vollständig durch – und vergleiche es mit eigenen Erfahrungen, die mit dem Mut verbunden sind, mit Schülern und Schülerinnen auf wirkliche Wanderungen zu gehen… Darüber hinaus gibt es noch eine Jugendstudie Wandern aus dem Jahre 1992, die von Rainer Brämer an der Uni Marburg angefertigt wurde. Diese Studie scheint zumindest zu belegen, dass die negative Haltung gegenüber dem Thema Wandern damals gar nicht so eindeutig war, wie man angenommen hatte. Und kürzlich behauptete Gaby Diethers (Referentin beim Deutschen Wanderverband) im Vorfeld des 111. Deutschen Wandertages (8. bis 15. August 2011), dass Schulwanderungen wieder im Trend lägen. In diesem Zusammenhang fiel auch der Begriff Geocaching. Nun, mit den meisten Jahrgängen ist Geocaching in der Schule nicht möglich, weil dabei der Aufsichtspflicht für die meisten Schulstufen nicht nachgekommen werden kann, aber es werden auch andere Unterhaltungsprogramme genannt, die zum Wandern motivieren können. Diethers sagt:
„Es gibt aber auch andere Wege. Schüler finden es zum Beispiel faszinierend, mit Karte und Kompass nach draußen zu gehen und sich in der Natur zurechtzufinden. Mit Kindern können es auch ganz einfache Sachen sein, etwa barfuß über ein matschiges Feld laufen oder sich Tiere anschauen.“
Erstaunlich: Um Wandern gehen zu können, muss man Events schaffen, bei denen man Dinge tut, die zumindest teilweise nicht wirklich zu weit verbreiteten Alltagstätigkeiten gehören (barfuß im Matsch laufen), die aber gleichzeitig dazu beitragen, dass man dieses Wort „Wandern“ nicht in den Mund nehmen muss.
Beim „Wandern“ passiert etwas, das meiner Wahrnehmung nach (nicht nur) Kindern und Jugendlichen schon seit einiger Zeit kaum noch als sinnvoll vermittelbar ist: Man tut etwas um seiner selbst Willen. Mit diesem Etwas sind Nebeneffekte verbunden, die vom Kennenlernen der Umgebung über die „sportliche“ Herausforderung, die Wandern für manche Schüler und Schülerinnen tatsächlich darstellt, bis hin zur Förderung sozialen Miteinanders führen kann. Außerdem bieten Wanderungen für Lehrende wunderbare Möglichkeiten, Schüler und Schülerinnen in einer „Stress-Situation“ zu beobachten und kennen zu lernen.
Der „Stress“ besteht meiner Beobachtung nach darin, dass beim Wandern etwas in den Vordergrund gestellt wird, das im sonstigen Alltag weitgehend vermieden wird, nämlich das langsame Überbrücken einer Distanz.
In der Regel sind wir an Zielen interessiert, die möglichst schnell erreicht werden sollen.
In der Regel sind wir an Zielen interessiert, die möglichst schnell erreicht werden sollen.
Zumindest ist unser Alltag weitgehend auf dieses Denken ausgerichtet: Man muss schnell den Schulabschluss erreichen, schnell studieren, früh den Berufseinstieg schaffen, wenn man in bestimmten Berufen etwas werden will. Man will schnell ein Urlaubsziel erreichen, wobei der Weg zu diesem Ziel nicht als Teil der Reise angesehen wird, sondern purer Stress ist, den es zu vermeiden reduzieren gilt. Natürlich fliegt man auch zu Reisezielen, die innerhalb Europas liegen. Interessant ist nur das Ziel, nicht aber der Weg dorthin.
Dabei rückt alles so nah zusammen. Es kommt zu keiner Distanzierung vom Alltag mehr, wenn man verreist, weil man ja nur eine Flugstunde weg ist.
Wie anders klingt es, wenn man sagt, ich bin 10 Stunden mit dem Zug oder dem Auto von zuhause weg? Ich bin zehn Stunden weit in eine andere Kultur gereist. Oder: Ich bin 24 Stunden lang bis nach Spanien gefahren. Bis nach Portugal braucht man mit dem Bus sogar 36 Stunden, wobei man dabei eine unglaubliche Vielfalt europäischer Landschaften erleben kann.
Diese Beispiele betreffen Schulwanderungen eher selten, greifen höchstens bei Studienfahrten kurz vor dem Abitur, die häufig auch ins entferntere europäische Ausland gehen. Diese Beispiele beschreiben aber ein Phänomen, mit dem wir es schon sei längerem zu tun haben.
Nicht nur Schüler und Schülerinnen werden unruhig, wenn das Überwinden von Distanz in durchaus sportlichem Gehstil (Wandern) und die damit verbundenen Erfahrungen der zentrale Zweck eines Wandertages sind.
Es wird dann nach einem Ziel der Wanderung gefragt.
Wurde bewusst ein Rundweg ausgewählt, erzeugt das Stress, wird Sinnlosigkeitsverdacht geäußert.
Parallel dazu werden Handys herausgeholt, zwei Kinder teilen sich einen Kopfhörer, sodass jedes nur einen Stereokanal hört, es werden SMS an Leute der gleichen Wandergruppe geschickt oder andere Alternativtätigkeiten gestartet, die zum Beispiel Rollenspielen gleich kommen, weil einige Schüler und Schülerinnen untereinander große Zukunftspläne formulieren phantasieren (?), gleichzeitig Rangordnungen in Cliquen überprüfen, erneuern oder in Frage stellen etc.
Es passiert auf so einer Wanderung sehr viel. Das meiste ist auf den ersten Blick nicht oder nur dem geübten Beobachter erkennbar.
Wenn dann Schüler und Schülerinnen gefragt werden, wie groß ihre eigenen Erfahrungen mit dem Wandern außerhalb der Schule sind, dann gewinne ich den Eindruck, dass es in großer Mehrheit mit dieser Form der Selbst- und Weltwahrnehmung wenig Erfahrungen gibt.
Jede Wanderung ist ein Jakobsweg im Kleinen.
Wanderungen sind für viele Schüler und Schülerinnen eine Sonderwelt. Für viele Erwachsene aber auch, trotz der Mode, dass der eine oder andere auf dem Jakobsweg wandert pilgert.
Jede Wanderung, wenn man sie ernst nimmt und z. B. wirklich auf den Einsatz von Medien verzichtet, setzt den Wandernden der Erfahrung aus, mit sich selbst zu sein, auf dem Weg zu sein und neben der körperlichen Anstrengungen, die manche Wanderung darstellt, zu erleben, welche Wege der Kopf einschlägt, wenn wenig Möglichkeiten zur Ablenkung vorhanden sind.
Kein MP3-Abspielgerät, das Handy abgeschaltet, höchstens ein Notizbuch dabei, um zwischendurch zu notieren, was die Gedanken einem so abverlangen: Für viele ist das zu einer Horrorvorstellung geworden. Geschickt weichen wir der Begegnung mit der uns am Nächsten stehenden Person aus, indem wir sie gar nicht erst zu Wort kommen lassen: Der Begegnung mit uns selbst.
Wanderungen mit Schülern und Schülerinnen können diese Erfahrung thematisieren.
Bereits im Vorfeld können diese „Ängste“ aufgegriffen werden. Ja, die an sich zweckfreie Wanderung bekommt so wieder einen Zweck, nämlich jenen, eigene Erfahrungen mit der „Zweckfreiheit“ zu machen. Das ist ein Paradox. Aber vielleicht ein notwendiges Paradox, das erst in der Praxis aufgelöst werden kann.
Wandern erzeugt Stress, vor allem, wenn die Wanderung so gestaltet ist, dass sie kein Ziel hat, sondern einen Rundweg nutzt. Wenn ein „Ziel“, z. B. ein Waldspielplatz, ein Kaffee oder ähnliches, vorgegeben wird, sinkt dieser Stress, da die Orientierung an einem Ziel eine vertraute Orientierung ist, während zweckfreie und dennoch sinnvolle Tätigkeiten gerade von Jugendlichen in Großstädten regelrecht als Erfahrungsoption (wieder)erlernt werden müssen.
Begleiter solcher Wanderungen lernen gleichzeitig sehr viel über die Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Das gilt nicht nur für Schüler und Schülerinnen, auch erwachsene Wanderer zeigen sich bei Wanderungen interessante Verhaltensweisen, sodass sich diese durchaus auch als Assessmentcenter eigenen könnten.
Natürlich wird andererseits auch der Begleiter einer Wanderung transparenter in seinen Verhaltensweisen.
Sobald Wandertage mit Schulklassen auf Konsum hin ausgerichtet sind, besonders beliebt sind da Freizeitparks, fällt die Möglichkeit der relativ zweckfreien Selbsterfahrung weg, rückt das Ziel (der Freizeitpark, die Achterbahn, die nächste Attraktion) in den Vordergrund.
Ich frage mich, ob der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllt werden kann, wenn nicht auch Erfahrungsräume geschaffen werden, die mit einer relativen Reizarmut zur Selbsterfahrung beitragen. So heißt es im Hessischen Schulgesetz §2 Abschnitt 1:
„Sie [die Schulen im Land Hessen] tragen dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Persönlichkeit in der Gemeinschaft entfalten können.“
Persönlichkeit ist für mich das, was sichtbar und erfahrbar wird, wenn den Menschen fremdbestimmende Reize minimiert werden und das Individuum möglichst unabhängig von bestimmten Tätigkeiten für sich selbst erfahrbar wird.
Persönlichkeit ist das, was hinter Marken und imagebildenden Tätigkeiten als Individuum „übrig“ bleibt. Diese Persönlichkeit muss Räume finden, vom Individuum entdeckt zu werden, um überhaupt in die Lage versetzt zu werden, die eigene Persönlichkeit „in der Gemeinschaft entfalten zu können“.
Eine recht verstandene Wanderung, auch wenn sie als Zumutung empfunden wird, Widerstände auslöst, in ihrem Sinngehalt in Frage gestellt wird, kann, so sie gut vorbereitet ist und Schüler und Schülerinnen vor, während und nach dieser Herausforderung von Lehrern und Lehrerinnen ernst genommen werden, nicht nur dazu beitragen, die Schüler und Schülerinnen näher kennen zu lernen ((Wer eine neue Klasse übernimmt sollte bald mit ihr auf einem Rundweg wandern gehen, um die Sozialstruktur der Klasse zu erleben.)), sondern vor allem auch dazu, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst erleben, erfahren und kennen lernen.
Das aber gilt nicht nur für Schüler und Schülerinnen, sondern für jeden und jede, der oder die ein wenig mehr über sich selbst erfahren will. Das gelingt am besten, wenn man alle anderen Ziele ausschaltet, also in der Meditation oder eben in der Wanderung, die nur sich selbst zum Ziel hat.