Fotografie und die Kunst des Sehens in Schule und Unterricht
Resume: Auf herrlarbig.de gab es in der Vergangenheit immer wieder Fotos zu sehen – und dies wird in Zukunft auch wieder so sein. Grund genug also, sich hier einmal Gedanken darüber zu machen, was Bilder mit Bildungsprozessen zu tun haben und welche Fragen dabei eine Rolle spielen.
Hier wird die These vertreten, dass Fotografie nach wie vor ein Leitmedium unserer Gesellschaft ist und gleichberechtigt neben audiovisuellen Medien und dem Internet steht, mit dem die Veröffentlichung von Fotografien heute sehr eng verbunden ist.
Dennoch erscheint mir die Berücksichtung und Reflexion von Fotografien im schulischen Unterricht eher ein Randphänomen zu sein. Warum es interessant sein kann, Fotografie an geeigneten Stellen im Unterricht (auch außerhalb des Kunstunterrichtes) in didaktische Überlegungen mit einzubauen, wird hier zur Diskussion gestellt. Darüber hinaus werden konkrete Vorschläge in Form eines Brainstormings für den Einsatz von Fotografie in unterschiedlichen Fächern vorgelegt.
Fotografie als Thema der Mediendidaktik
In der Mediendiaktik der Gegenwart scheint mir eine der meist genutzten visuellen Medienformen ein wenig „unterbelichtet“ zu sein. Film, Internet und auch Produkte der darstellenden und bildenden Kunst spielen z.B. im Deutschunterricht eine Rolle, so in Unterrichtsteilen, in denen es um Theater, Schreiben im Museum oder nach Bildvorlagen, Filmanalyse, Nutzung von Foren und Weblogs etc. geht. Fotografie hingegen begegnete mir explizit bislang nur im Rahmen des Kunstunterrichts oder im Rahmen von Unterrichtseinheiten, in denen die manipulative Kraft von Bilder zu Propagandazwecken – beispielsweise im Dritten Reich – reflektiert werden. Darüber hinaus werden ans Bild gebundene Gestaltungsformen bislang vor allem dann aufgegriffen, wenn pädagogische Interventionen nötig sind, weil beispielsweise viele Jugendliche, ohne groß darüber nachzudenken, „kompromittierende“ Party-Bilder in Online-Communities einstellen oder problematische Videos auf Videoplattformen veröffentlichen.
Die Fotografie, als das erste visuelle Massenmedium, dem der Film folgte, kommt in meiner Wahrnehmung der Mediendidaktik trotz der Vielfalt ihrer Formen überraschend wenig vor, auch wenn natürlich im Unterricht immer wieder Fotografien genutzt werden und auch im Rahmen der Gestaltung von Lehrmaterial eine nicht kleine Rolle spielen. Und an vielen Schulen gibt es auch Foto-AGs, in denen meist eher kleine Gruppen von Schülerinnen und Schülern sich dem Thema Fotografie stellen.
Fotografie im Kontext der Bilddidaktik
Gehe ich einmal kurz von der Fotografie weg und setze statt dessen den Begriff „Bilddidaktik“. Auf diesem Wege komme ich zu einem weiteren Bereich, in dem mir in der Schule Bilder begegnen, denn eine Suchanfrage bei Google führt direkt mit dem ersten Suchergebnis (Stand: 15. April 2009) zur Bilddidaktik im Religionsunterricht und anschließend auch zur Bilddidaktik im Ethikunterricht. Und nahezu alle Formen des Umgang mit Bildern können natürlich auch auf die Fotografie übertragen werden. – Warum dann ein Nachdenken über die mögliche Bedeutung von Fotografie in Bildungsprozessen?
Gründe für die Auseinandersetzung mit Fotografie im Rahmen von Mediendiaktik
Der erste Grund ist für mich ein persönlicher: Ich fotografiere nach ersten intensiven Beschäftigungen mit dem Thema als Jugendlicher seit zwei Jahren wieder sehr intensiv und befasse mich in meiner Freizeit auch mit technischen und theoretischen Fragen der Fotografie, soweit dies einem in diesem Bereich autodidaktisch arbeitenden Amateur mit eingeschränktem Zeitbudget möglich ist.
Im Rahmen dieser Beschäftigung stieß ich sehr schnell auf Fragen zum Umgang mit Fotografie, zum Beispiel in Gestalt des Essaybandes von Susan Sonntag mit dem Titel „Das Leiden anderer betrachten“, in dem es um Kriegsfotografie geht (( Susan Sonntag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003)). Hier wurde mir die Aktualität der Fragestellung sehr deutlich bewusst, denn im Rahmen des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 spielten auch Fotografien – wie in nahezu allen kriegerischen Auseinandersetzungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts – eine bedeutende Rolle.
Ein dritter Grund, der mein Nachdenken über den Umgang mit Fotografie, für mich selbst und in Bezug auf Bildungsprozesse, in Gang gesetzt hat, hängt unmittelbar mit der technischen Entwicklung der Fotografie hin zur digitalen Fotografie zusammen, mit der die schon immer mögliche Manipulation von Bildern dank Bildbearbeitungsprogrammen deutlich leichter geworden ist. ((Beispiele solcher Manipulationen lassen sich im Internet sehr schnell in großer Zahl finden, sodass ich hier auf Einzelbeispiele verzichte.))
Und schließlich spielt Fotografie danke heute mehr denn je verfügbarer „Immer-dabei-Kameras“ in Form von in Mobiltelefone integrierten Fotoapparaten im Alltag eine sehr große Rolle. Sowohl Flickr als auch die Veröffentlichung von Bildern im Rahmen von Twitter via Twitpics spielen hier eine große Rolle, aber auch Zeitungen haben Leser als „Leserreporter“ entdeckt und nutzen die Verfügbarkeit von Fotoapparaten in großer Zahl für ihre Zwecke.
Konsequenzen für Bildungsprozesse
Auch in Zeiten der bewegten Bilder spielen Fotos nach wie vor eine enorm große Rolle, sodass sie auch in Bildungsprozessen angemessen berücksichtigt werden müssen, um so mehr, als es ja gerade Jugendliche sind, die sich der Möglichkeiten von Handy-Kameras mehr oder weniger unreflektiert bedienen.
Doch dabei sind nicht nur die oben angedeuteten kritischen Reflexionspotentiale im Umgang mit Bildern von Bedeutung. Viel mehr stellt sich auch die Frage, wie die Anfertigung von Fotografien und die damit verbundenen Herausforderungen in den Blick genommen werden können. Hier hat der Kunstunterricht sicherlich eine zentrale Aufgabe, aber im Sinne eines fächerverbindend und fächerübergreifend angelegten Unterrichts, spielt diese Frage auch in anderen Fächern eine Rolle, in denen für die rein technischen Fragen, wie Belichtung, Tiefenschärfe, Grundlagen der Motivgestaltung, Bildbearbeitung (und auch Bildmanipulation) kaum Platz sein dürfte.
Einsatz von Fotografie im bisherigen Unterricht
Das Medium Fotografie wird im Unterricht schon heute genutzt. Vor einer Weile begegnete mir ein Unterrichtsprojekt, in dem Schülerinnen und Schüler einer siebten Klasse im Deutschunterricht eine Kurzgeschichte in Form einer Fotostory bearbeitet haben. Ich selbst lasse Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht immer wieder nach Spuren von Religion auf ihrem Schulweg forschen und per Fotografie dokumentieren. Doch dabei spielte die Frage der Grenzen und Möglichkeiten des genutzten Mediums als einer Form der „Kunst des Sehens“ und der „Kunst der Motivgestaltung“ auch bei mir kaum eine Rolle. Dennoch fiel mir auf, dass die meisten Bilder nur „Abbildungen“ ohne weiter bemerkenswerte fotografische Zugangsweisen zu den Motiven waren. – Dem entsprechend fällt oft auch der Umgang mit anderen Bildern im Unterricht aus, obwohl hier interessanterweise oft das pure Beschreiben des Bildes (was ist mit Hilfe welcher Umsetzungsformen und Gestaltungsmittel zu sehen, wie ist das Bild aufgebaut etc.) ein größeres Problem darstellt als ein deutender Zugang zu den Bildern.
Für mich ist dies ein Zeichen, dass Jugendlichen schon klar ist, dass Bilder mit künstlerischem Anspruch etwas bedeuten wollen, doch, ähnlich wie beim Umgang mit Texten – insbesondere Gedichten –, fällt die Zusammenschau von Inhalt und Form im Rahmen einer angemessenen Bilddeutung vielen Jugendlichen, trotz ihres ständigen Umgangs mit Bildern sehr schwer.
Fotografie als Medium in unterschiedlichen Fächern
Hier liegt meines Erachtens eine der Chancen des Umgangs mit Fotografie im Rahmen unterschiedlicher Fachdidaktiken: Fotografie ist das Malen mit Licht, aber auch und für mich fast noch viel mehr die Kunst des Sehens. Und das Sehen spielt in unterschiedlichsten Fächern eine Rolle, wobei ich mich hier nur auf ein Brainstorming beschränken will – vielleicht hat ja der eine oder andere konkretere Ideen, die gerne per Kommentar hinzugefügt werden können:
- Mir fällt für das Fach Deutsch die Übertragung von Kurzgeschichten oder Szenen aus Dramen und Romanen in die schon genannte Form der Fotostory ein, die dann freilich mit der Frage nach ausdrucksstarker Gestaltung von Motiven verbunden sein muss.
- Außerdem könnte ich mir vorstellen, wenn vielleicht auch eher in Sekundarstufe II, dass Schülerinnen und Schüler Gedichte in Fotografien umsetzen und von diesen ausgehend z.B. die von ihnen gewählten Gedichte, ganz im Sinne des Konzeptes von Lehren durch Lernen, über das ich hier in den vergangen Wochen schon einiges geschrieben habe, formal und inhaltlich mit der Lerngruppe erarbeiten.
- In Religion, Ethik und auch Sozialkunde / Politik und Wirtschaft könnten zu Einzelthemen Fotoreportagen angefertigt werden, verbunden mit einer Hinführung zu den damit verbundenen rechtlichen Fragen in Bezug auf das „Recht am eigenen Bild“ und den damit verbundenen notwendigen Einverständniserklärungen abgebildeter Menschen. Hier müssten die Jugendlichen dann den Themen auch sehr persönlich begegnen, weil sie z.B. bei einer Reportage über Armut nicht nur respektvolle Bilder anfertigen, sondern wirklich auch mit den Menschen ins Gespräch kommen müssten, um entsprechende Einverständiserklärungen für das Recht auf die Nutzung der Abbildungen von Einzelpersonen bekommen zu können. – Ein zugegebenermaßen äußerst anspruchsvoller Ansatz des didaktischen Umgangs mit Fotografie.
- In Sport könnten Schülerinnen und Schüler die Aufgabe bekommen, Bewegungsabläufe fotografisch so festzuhalten, dass sie diese z.B. in Form eines Referates den Mitschülerinnen und Mitschülern vermitteln könnten. Hier könnte ich mir auch für Präsentationsprüfungen im Sportabitur so manche nette Aufgabe denken.
- In Biologie könnte die Fotografie von Pflanzen oder (wenn das auch sehr anspruchsvoll ist) von Tieren eine Rolle spielen, aber z.B. auch die Fotodokumentation von Landschaftsversiegelung, Umweltverschmutzung etc.
- In Physik und Chemie könnten Versuchsaufbauten fotografisch dokumentiert werden, in Physik könnten darüber hinaus Schülerinnen und Schüler vor die Herausforderung gestellt werden, physikalische Phänomene fotografisch zu gestalten (z.B. Aggregatzustände von Wasser im Übergang von Winter zu Frühling)…
- Ob es möglich ist, aus Aufgaben zur Geometrie in Mathematik fotografische Arbeitsaufträge zu entwickeln? Ich denke da z.B. an eine Darstellung von Rechtecken, Quadraten, Kreise etc. im Rahmen von Landschaftgestaltung, Architektur etc.
- Im Fremdsprachenunterricht könnten ähnliche Aufgaben wie oben für den Deutschunterricht vorgeschlagen eine Rolle spielen, aber auch Aufgaben, die den Einfluss von Fremdsprachen (inbesondere des Englischen, in einer Stadt wie Frankfurt am Main aber auch des Türkischen, des Arabischen etc.) im eigenen Lebensumfeld dokumentieren (und damit ins Bewusstsein rufen).
- Im Kunstunterricht spielt Fotografie ja schon heute eine Rolle. Hier kann wohl am intensivsten den künstlerischen Fragen nachgegangen werden, die von der Motivgestaltung bis zur Bildbearbeitung gehen.
- In Erdkunde liegt die fotografische Dokumentation geographischer Phänomen nahe, aber auch die Aufbereitung bestimmter Aufgabenstellungen zum Zwecke der Gestaltung von Unterricht durch Schülerinnen und Schüler (Lernen durch Lehren).
- In Geschichte könnte Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der Fotografie auf Spurensuche gehen, insbesondere im Rahmen der neueren Geschichte, aber beispielsweise auch im Rahmen der Architekturgeschichte und in Frankfurt am Main auch bei Fragen der Geschichte der Entwicklung der Stadt oder der Spuren, die die in Frankfurt einst verorteten Kaiserwahlen hinterlassen haben – in anderen Städten sind es andere bedeutende Ereignisse, denen so auf die Spur gekommen werden könnte.
- Darüber hinaus könnte eine Foto-AG an einer Schule den Anspruch entwickeln, Ereignisse an einer Schule nicht nur zu dokumentieren, sondern z.B. auch Reportagen über Schulveranstaltungen anfertigen oder sich in der Form der Reportage bestimmten, an einer Schule relevanten Themen widmen.
Habe ich alle Fächer genannt? Ich freue mich über Ergänzungen oder ganz andere Vorschläge in den Kommentaren.
Bildgebende Verfahren als Schlüsselkompetenz
Bei all diesen Unterrichtsideen, um es nochmal zu sagen, müsste es idealerweise nicht nur darum gehen, dass etwas abgebildet wird, sondern auch darum, wie einem Bild eine Bedeutung gegeben werden kann, wie Motive gestaltete werden können etc. Das ist auch deshalb relevant, weil bildgebende Verfahren in der heutigen Wirtschaft, insbesondere der naturwissenschaftlichen Forschung, eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen und Schule bereits Grundlagen auch der Refelexionsfähigkeit von Möglichkeiten und Grenzen solcher Verfahren legen kann. Außerdem würde für den Umgang mit den uns ständig umgebenden Bildern, auch im Fernsehen und im Internet, sensibilisiert.
Probleme und Grenzen
Zum Ende dieses Beitrages möchte ich noch auf ein Umsetzungproblem eingehen. Bis jetzt habe ich einige, bislang nicht genannte Voraussetzungen gemacht, die nicht unbedingt vorausgesetzt werden können. Ich bin bislang von dem Ideal ausgegangen, dass zumindest einigermaßen erträgliche Formen von Fotomöglichkeiten den Lernenden zur Verfügung stehen. In Wirklichkeit werden in der Regel vielen Schülern und Schülerinnen nur Fotoapparate an Handys zur Verfügung stehen; einige wenige Schülerinnen und Schüler haben da womöglich weiter gehende Möglichkeiten. – Diese Grenze muss natürlich bei dem Anspruch mit berücksichtigt werden, der mit solchen Projekten verbunden ist.
Dennoch hindert dieses Problem den Unterricht noch nicht daran, mit guten Fotografien und deren genauer Betrachtung als einer „Schule des Sehens“ umzugehen. Es muss ja nicht immer die eigene fotografische Bildgestaltung sein, die zu der Kompetenz führt, reflektiert mit Bildern umgehen zu können. Es gibt heute genügend Ressourcen, die einen solchen Zugang ermöglichen können, wenn dabei auch immer auf das jeweilige Copyright und die damit verbundenen Verwertungsgrenzen geachtet werden muss.