Das „Sieger-Gen“ – Sprache und Bedeutung

Joachim Löw sagte laut Pressemeldungen als Bundestrainer am Abend des Qualifikationsspieles zur FIFA-Fußball-WM der Herrenauswahlen im Fußball der nationalen Fußballverbände:

„Ich habe aber vor dem Spiel gespürt, dass jeder das Sieger-Gen in sich hat. Selbstverständlich hatten wir in einigen Situationen auch etwas Glück.“

Ist das eine biologistische Selbstmystifizierung, die mit dem Wort „SiegerGen“ hier in Erscheinung tritt? Ist es die Phantasie von Leuten, die wohl mehr „Glück hatten als ein „Sieger-Gen“, auch wenn das „Glück“ (noch so ein abstraktes Wort), glaube ich den online bereits verfügbaren Spielberichten, wohl zumindest in der gestrigen Begegnung in Moskau, eine viel größere Rolle gespielt hat, wenn ein Spieler der Herrenausawahl im Fußball des Deutschen Fußballbundes so foult, dass er vom Platz muss und das „Glück“ einen fälligen Elfmeter für die Auswahl des russischen Fußballverbandes „verhindert“.

„Sieger-Gen“, ich habe das Wort nie zuvor gehört, zuckte gar ein wenig zusammen, wurde unruhig, hatte Assoziationen zu diversen Übermenschenphantasien des vergangenen Jahrhunderts, bis hin zu Nietzsches Zarathustra, der allerdings schon in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts erschien.

Diese Assoziationen aber, so meine weitere Recherche, hebt das Wort und deren Benutzer auf eine viel zu intellektuelle Ebene, scheint es auch ein vor allem von Männern bzw. in von Männern dominierten Domänen genutzt zu werden. Eine Recherche über Suchmaschine ergab, dass das Wort fast ausschließlich im Bereich des (Herren)Fußballs, darüber hinaus aber in Einzelfällen auch im Zusammenhang mit Motorsport und Management auftaucht.

Also doch nur eine metaphorische sprachliche Bildung, um eben nicht „Glück“ und „Zufall“ als  Gründe für Sieg und Niederlage im (Fußball)Sport als Erklärungsinstanz zu Rate zu ziehen? – Zumindest erklärt das Wort „Sieger-Gen“ nichts, nichts, nichts. Es ist eine willkürliche Bildung, die zwar jeder versteht, die aber, bei sprachkritischer Betrachtung, zumindest mir die Haare zu Berge stehen lässt. Warum ist das so?

Es ist zwar in der Kürze nur schwer darstellbar, was ein Gen ist, aber es muss zumindest angedeutet werden, um die Konnotationen zu hören, die mit dem hier betrachteten Wort verbunden werden können:

„Allgemein werden Gene daher als Erbanlage oder Erbfaktor bezeichnet, da sie die Träger von Erbinformation sind, die durch Reproduktion an die Nachkommen weitergegeben werden.” (http://de.wikipedia.org/wiki/Gen)

Gene haben also nur dann etwas mit „Glück“ zu tun, wenn es um den Weg geht, auf dem die eigenen Gene ihre Zusammensetzung finden oder wenn es um die Frage geht, ob sich bestimmte, in den Genen vorhandenen Optionen ausbilden oder nicht, vom Genotyp zum Phänotyp gelangen. Davon abgesehen handelt es sich bei Genetik um die wissenschaftliche Beschreibung eines naturwissenschaftlich nachvollziehbaren Prozesses bei der Weitergabe des Lebens.

Die Wortbildung „Sieger-Gen“ greift diesen Prozess sprachlich auf und verbindet ihn mehr oder weniger bewusst mit der Vorstellung des „survival of the fittest“, denn nach meinen Recherchen findet sich nur dort eine Verbindung des Begriffs „Gen“ mit einer Vorstellung eines „Siegers“. Der Begriff taucht zunächst bei dem Sozialpsychologen Herbert Spencer auf und wird dann von Charles Darwin übernommen. Doch in beiden Zusammenhängen ist mit „survival of the fittest“ nicht der Sieg durch „körperliche Stärke und Durchsetzungsfähigkeit im Sinne einer direkten Konkurrenzverdrängung unter Einsatz von Gewalt“ ((http://de.wikipedia.org/wiki/Survival_of_the_Fittest)), sondern das Phänomen, dass die an ihre Umwelt am besten angepassten Lebewesen auf Dauer (!) die weniger gut angepassten Lebewesen verdrängen.

Wenn dem so ist, dann passt diese Assoziation nicht zu der Rede von dem „Sieger-Gen“, die hier erörtert wird, da es im Sport, in dessen Umfeld das Wort am häufigsten genutzt wird, eben nicht um Anpassung, sondern um die schon genannte „körperliche Stärke und Durchsetzungsfähigkeit im Sinne einer direkten Konkurrenzverdrängung“ geht.

Wenn Joachim Löw nach dem Qualifikationsspiel zur FIFA-Fußball-WM der Herrenauswahlen im Fußball der nationalen Fußballverbände von einem „Sieger-Gen“ spricht, dann ist der Einsatz dieser biologistischen Metapher inhaltlich falsch, es sei denn, man ist der Meinung, dass die spielenden Fußballer des Deutschen Fußballbundes eben besser an den vor dem Spiel so intensiv diskutierten Kunstrasen „biologisch“ besser angepasst gewesen seien, als die Spieler des gastgebenden Fußballverbandes. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass es sich hier um eine „genetisch“ bedingte Anpassung handelt. Aber dass es sich bei dem Begriff „Sieger-Gen“ um eine metaphorische Bildung zu handeln scheint, wurde ja schon gesagt.

Das Wort, so das Ergebnis der näheren Betrachtung des Wortes „Gen“, ist also eine unbrauchbare Metapher, ein leerer Begriff ohne Aussagegehalt, der aber dennoch im Zusammenhang mit dem gestrigen Fußballspiel als Aussage des zuständigen Trainers immer wieder zitiert wird.

Und trotz der Leere des Begriffs, scheinen doch viele zu verstehen, was damit gesagt werden soll: Statt zu sagen, dass man einfach unglaublich viel „Glück“ gehabt habe und somit den Zufall als ein Element des Spiels benennt, wird dem Glück in dem Zitat aus dem Munde Joachim Löws eine sekundäre Funktion zugeordnet, die aber zugleich redundant ist, da das Wort „Sieger-Gen“ für nichts anders als „Glück“ steht, dieses aber metaphorisch nicht angemssen wiederzugeben vermag, da die Frage des Zufalls beim Genotyp eine andere Bedeutung hat, als im Fußball.

Unterstelle ich aber, dass mit dem Begriff tatsächlich eine rationale Aussage getroffen werden sollte, so sähe diese in etwa so aus: „Heute wurde phänotypisch erkennbar, was in deutschen Fußballern im Genotyp angelegt ist. Unsere Fußballer sind genetisch eigentlich auf Sieg programmiert. Auch wenn dies nicht in jedem Spiel zum Vorschein kommt, heute haben sie gezeigt, was in ihnen steckt.“

Damit aber wären wir wieder bei den biologistischen Assoziationen, die mit dem Begriff verbunden sind. Und solche biologistisch geprägten, irrationalen, aber dennoch beliebten Begrifflichkeiten, kommen in der Geschichte meist an Stellen vor, mit denen der Deutsche Fußballbund bzw. dessen Trainer der Herrenauswahl dieses Fußballbundes wahrscheinlich nicht gerne in Verbindung gebracht würden. – Als man noch nicht viel über Gene wusste und „das Blut“ als Quelle des sich in einem Menschen ausprägenden Lebens ansah, wurde „Überlegenheit“ mit der „Überlegenheit des Blutes“, also dem „Sieger-Blut“ in Verbindung gebracht. Und da ich dies im Hinterkopf habe, wenn ich die Rede vom „Sieger-Gen“ höre, mag es nachvollziehbar sein, warum es mir bei diesem Begriff eiskalt den Rücken herunter läuft: Das Wort „Sieger-Gen“ weckt bei mir Assoziationen zu Ausformungen des Darwinismus im Sozialdarwinismus. Sozialdarwinisten verbinden häufig mit ihrer Vorstellung die Phantasie Vorstellungen der Evolutionsbiologie mit der Vorstellung einer Höherentwicklung zu einer wertvolleren Lebensform. Und diese Vorstellung spielte in der Rassenideologie der NS-Zeit eine für viele Menschen tödliche Rolle.

Damit will ich Joachim Löws Äußerung nicht in die Nähe dieser rassistischen Vorstellungen rücken! Erstens ist er nicht der Erste und auch nicht der Einzige, der sie gebraucht. Ich will vielmehr nur darauf hinweisen, welche Konnotationen bei der Verwendung des Begriffs „Sieger-Gen“ mitschwingen können, unterzieht man den Begriff einer sprachkritischen Analyse.

Außerdem ist der Trainer der Herrenauswahl des Deutschenfußballbundes, wie gerade schon erwähnt, nicht der Einzige, der diese Formulierung nutzt; seine Formulierung gab nur den Anstoß zu dieser Erörterung. Die Recherche aber ergab, dass der Begriff vor allem im Kontext des Sports gebraucht wird. Und dies scheint mir durchaus reflektierenswert.

Am häufigsten taucht der Begriff des „Sieger-Gens“ im Kontext des Fußballs auf, vereinzelt im Zusammenhang mit Motorsport oder mit Wirtschaft. Dies zusammenfassend scheint es also so, dass der Begriff vor allem in Konkurrenz-Situationen genutzt wird, die, so meine Vermutung, von „männlich“ Sprachspielen dominierten werden und deren sprachlicher Kontext oft an den Krieg erinnert.

George Orwell schrieb einmal, dass „Sport Krieg ohne Waffen“ sei. Spätestens, wenn es im Rahmen von Fußballspielen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, wird diese Aussage leider sogar übertroffen. Diese Einsicht hat auch schon Einzug in einen Kommentar eines Sportredakteurs der „Welt“ gehalten. Und im Krieg geht es um die Frage, wer sich mit Mitteln der Gewalt gegenüber anderen durchzusetzen vermag.

Keine Frage: Sportler wollen sich in vielen Fällen im fairen Wettkampf durchsetzen, so sehr dieser faire Wettkampf von Leistungsideologien und körperlichem Leistungsehrgeiz überschattet werden, die zu Doping führen. Wer siegt, der/die hat gewonnen. Wer nicht siegt, ist im günstigen Fall schnell vergessen oder wird im ungünstigsten Fall zum Opfer von Hohn und Spott. Doch besonders prickelnd wird dies, wenn, zum Beispiel im Rahmen der olympischen Spiele, die Nationen als „die Unzugehörigsten von allen ins Bild“ (SZ) drängen und so tatsächlich der Eindruck entsteht, es gehe hier nicht um den Wettkampf von Sportlern und Sportlerinnen, sondern um die Auseinandersetzung um den Wert von Nationen. Und so ist es kein Wunder, dass es immer wieder entsprechende „Feldherren“ gibt, die den Sport als Staatsziel mit in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen wollen, wenn auch vor allem mit an der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger (der Begriff „Volksgesundheit“ liegt hier nahe und somit schon wieder ein Begriff aus NS-Zeiten) oder der „Fitness“ (und somit unterschwellig an der Vorstellung des „survival of the fittest“ orientierten Begriffen) verbunden.

Literarisch haben sich diese Phänome vor allem in dem Werk der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelineks mit dem Titel „Ein Sportstück“ niedergeschlagen, in dem, in Anlehnung an Elias Canettis (noch ein Literaturnobelpreisträger) Untersuchung zu „Masse und Macht“, die Parallelen von Sport und Krieg in größter literarischer Meisterschaft herausgearbeitet werden.

Dieses literarische Werk war dann wohl auch der Grund, warum ich so überrascht war, dass der Begriff „Sieger-Gen“ im Kontext des Sports, insbesondere des Fußballs, verwendet wird, verband ich ihn doch sofort mit diesem Theaterstück und mit Canettis Überlegungen zum Thema. Dies war der eigentliche Anlass, den Begriff einmal auf seine Bedeutung hin zu untersuchen.

So wenig ich davon ausgehe, dass der Begriff „Sieger-Gen“ in den genannten Kontexten auf seine mögliche Bedeutung hin reflektiert eingesetzt wird, ich bin nämlich wirklich davon überzeugt, dass er nicht in den hier dargestellten und möglichen Bedeutungskontexten von den entsprechenden Personen benutzt wird, die übrigens in vielen Fällen auch Sportjournalisten sind, so sehr scheint es mir bedeutsam, auf diese möglichen Bedeutungsfelder hinzuweisen, um zu verdeutlichen, welche möglichen Konnotationen mit entsprechenden Begriffen verbunden werden können, bzw. welche Konnotationen unbewusst mit solchen Begriffen transportiert oder rezipiert werden.

Zum Schluss möchte ich versuchen, aus dem Gesagten einige Kriterien für den reflektierten Umgang mit Sprache abzuleiten, geht es mir hier doch weniger um die Kritik an konkreten Personen als vielmehr um eine sich im kantischen Sinne des eigenen Verstandes bedienenden – und somit der Aufklärung verpflichtet sehenden – sprachkritischen Betrachtung eines sprachlichen Phänomens:

  1. Sprache ist nicht nur Mitteilung von Informationen, sondern immer voller Konnotationen.
  2. Die Konnotationen von sprachlichen Äußerungen führen dazu, dass zunächst einmal „unschuldige“ Worte semantisch aufgeladen werden und somit in einen Bedeutungszusammenhang eintreten, zu Begriffen werden.
  3. Wenn Sprache das Ziel der Informationsübermittlung erreichen soll, ist es notwendig, solche Konnotationen zu reflektieren, um mögliche Störfaktoren im Informationsfluss zu minimieren.

Ja, einer Reflexion wie dieser kann vorgeworfen werden, dass sie an die Stelle der eigentlichen Intention des Sprechers einer Aussage einen unangemessenen, diese Intention verfehlende und somit überinterpretierende, Deutungszusammenhang konstruiert. Diesen möglichen Vorwurf kann ich nur relativeren, wenn ich festhalte, dass ich der Rezeptionsästhetik der so genannten „Konstanzer Schule“ einen großen Erkenntniswert im Umgang mit Sprache und Literatur zuschreibe. Die Rezeptionsästhetik geht davon aus, dass die Wirkung eines Textes (einer Aussage) beim Leser (Rezipient) einen durchaus bedeutsamen Erkenntniswert mit sich bringt. Und so verrückt das klingt: Das gilt auch für Äußerungen im Kontext des Sports, insbesondere dann, wenn es um Formulierungen geht, die den Sport mit Kontexten verbindet, die alles andere als Ausdruck des fairen Wettkampfes und der Akzeptanz der Tatsache sind, dass neben dem regelmäßigen Training unter ähnlich gut trainierten Sportlern bei Wettkämpfen oft das Glück entscheidet, so dieses nicht mit dem Einsatz von Dopingmitteln erzwungen werden soll.

Für mich gehört der Begriff „Sieger-Gen“ zu den Worten, bei deren Nutzung sich meine Nackenhaare in alle Richtung aufstellen. Den Gründen für die zunächst rein rezeptiv von mir selbst wahrgenommenen kritischen Distanz zu diesem Begriff wollte ich nachgehen, als ich diese Erörterung begann. Dass ich am Ende allerdings kaum von der Formulierung „Sieger-Gen“ begeistert sein würde, war für mich sehr früh absehbar. So ist das für mich bei Begriffen, die eher vermieden werden sollten.