Die Macht der Sprache
Ich finde, die Bedeutung des reflektierenden Schreibens und Sprechens wird oft völlig unterschätzt.
Anders kann ich mir nicht erklären, wie häufig das „Tun“ dem „Denken“ gegenübergestellt, entgegen gesetzt wird. Und spätestens wenn ein Denkprozess zu einer kritischen (Kritik bedeutet übrigens nicht „negative Kritik“, sondern Differenzierung eines Sachverhaltes) Position gelangt, holt mit Sicherheit jemand die Praxiskeule hervor. „Wenn dir das nicht gefällt“, wird dann gesagt, „dann tu doch was dagegen“. – Als ob die Sprachhhandlung der Kritik nicht schon ein Tun wäre!
Ich weiß natürlich, was gemeint ist, wenn Praxis eingeklagt wird. (Na, dann gründe doch einen Verein.) Dabei wird aber unterschätzt, dass bereits die sprachliche Äußerung eine Handlung ist.
Früher war (kaum etwas besser, aber) weit bekannter als heute, dass das Kennen eines Namens Macht über das Benannte bedeutet. („Ach wie gut, dass keiner weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“) Nicht nur in Märchen, sondern auch in religiösen Zusammenhängen (Dämon, wie heißt du?) wird dieser Zusammenhang immer wieder benannt.
Wo immer wir heute auf Unbekanntes stoßen, ist es oft zunächst die Suche nach einer Sprache für ein Phänomen, die uns umtreibt. Deshalb ist die Frage, wer Begriffe wie definiert oft so bedeutend.
Wer ein Phänomen benennt, kann dies auch wertend tun. In der Werbung, der Politik und interessanterweise auch in der Wissenschaft gibt es für diese Frage nach der „Definitionsmacht“ reichlich Beispiele.
Ja. Es ist Macht über etwas, die jemand hat, der etwas definiert.
In moderner, sprichwörtlicher Ausdrucksweise: „Wissen ist Macht.“ In sprachlicher Hinsicht ist das tatsächlich genau so.
Wissen bedeutet aber in vielen Fällen, über die entsprechende (Fach)Sprache verfügen zu können. Mathematische Formeln, die Fähigkeit, wissenschaftliche Experimente zu verstehen und darstellen zu können etc. verstehe ich hier als eine Form der (Fach)Sprache.
Um so erstaunlicher ist es, wie oft auf sprachliche Reflexionshandlungen die Aufforderung folgt, man möge dann doch bitte etwas tun, wenn schon die sprachliche Erfassung eines Problems erfolge.
Es wird immer wieder unterstellt, sich der Sprache zu bedienen sei keine Handlung. Was für ein Irrtum. – Jede Reaktion auf einen Text zeigt ja schon, dass man etwas getan hat. Auf Nichtstun (das es übrigens genau genommen gar nicht gibt) kann man nicht reagieren.
Weil aber Sprache so viel mächtiger ist, als es heute oft angenommen wird, hat Sprache und die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, im Zusammenhang mit demokratischer Teilhabe, ein sehr großes Gewicht.
Aus diesem Grunde ist sprachliche Bildung von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Individuums.
Sprache bedeutet nämlich nicht nur, dass man der Welt mächtig wird. Sprache spielt auch im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle.
Das wird spätestens dann nachvollziehbar, wenn ein Mensch psychotherapeutische Unterstützung sucht, weil er sich selbst nicht mehr versteht und seiner selbst (wieder) mächtiger werden will.
In den meisten Therapien spielt die Sprachfindung eine zentrale Rolle, die dazu verhilft, das eigene Ich wieder benennen zu können und somit ihm gegenüber „Macht“ zu gewinnen, hat einen doch dieser Machtverlust über sich selbst womöglich genötigt, sich Unterstützung zu holen.
Es ist also wichtig, Menschen zu einem möglichst großen, differenzierten Wortschatz hin zu begleiten, um ihnen neben der demokratische Teilhabe auch im Prozess der Identitätsfindung unterstützend zur Seite zu stehen.
Entsprechend bedeutet das für alle, die solche Identitätsfindungsprozesse begleiten, dass sie selbst der Sprache mächtig sein müssen.
Dabei gilt, dass man sich eben nicht immer an das Sprachniveau von z. B. Schülern und Schülerinnen anpasst, sondern auch, dass man dieses gezielt weiter entwickelt.
Sprache ist nicht nur handlungsrelevant, Sprache selbst ist ein Tun.
Entsprechend gilt es, die Sprachentwicklung (bei jeder Altersgruppe) in den Vordergrund zu stellen.
Das Ziel dabei ist, Menschen (sprachlich) so autonom zu machen, wie das möglich ist. – Und vor jedem Verein, vor jeder Kritik steht diese Autonomität. Sie wird bis heute viel zu selten erreicht. Doch gerade dies sollte Erzieherinnen, Erzieher, Lehrer, Lehrerinnen und alle, die mit der Ich-Werdung von Menschen betraut sind, nicht davon abhalten, genau dieses sprachliche Ziel ständig vor Ohren zu haben und auf reiche Wortschätze der Individuen hin zu arbeiten.
hallo herr larbig,
ein wichtiges fass, das du da aufmachst! und mit dem ich mich und wir uns in den letzten tagen im elearnig-kontext ebenfalls beschäftigt haben. sprache und lernen aus der perspektive des lernenden – hier kann man von nlp-sprachmustern und den modellen eines milton erickson propper profitieren, wenn es darum geht „Sprache kunstvoll vage und weitgehend inhaltsfrei einzusetzen, um Prozesse des Denkens und Fühlens zu steuern. „
wie mir überhaupt die neurologischen und (lern)psychologischen erkenntnisse in der web 2 diskussion häufig zu kurz kommen, die ich lerntheoretisch für weitaus fundierter, sinnvoller und pragmatischer halte, als viele der pädagogischen skripte und papers. mehr darüber auf den nächsten educamps?
Ja, aber:
Mit Sprache baust du keine Häuser, entwirfst keine Mikrochips, schaffst allgemein keine neuen Technologien – du brauchst sie natürlich zur Deskription der Prozesse, die zu diesen Entwicklungen geführt haben, um sie allgemein verfügbar zu machen. Nietzsche hat mal ganz hübsch gerade die Fachsprachen völlig logisch demontiert.
In Therapien ist Sprache ein initialer Schritt, um Verhalten zu ändern, mit Sprache allein wird das Leben auch da nicht besser. Mir gehen zurzeit die ganzen „Wasmatiker“ („Ja, was muss geschehen?“) ziemlich auf den Geist, weil sie auf der initialen Stufe stehen bleiben. Die anstrengende Arbeit fängt immer bei dem „Wie?“ und „Welche konkreten Schritte?“ an – wenn ich den Eindruck habe, dass da wer in seiner Wasmanie verharrt – wie der der Klischeelehrer, der mit Googlewissen den Handwerker beklugscheißt, dann finde ich den Ruf nach der „Praxiskeule“ (Was für eine sprachliche Wertung in diesem Begriff steckt!) mehr als berechtigt.
@lutz
Bei den Neurologen stelle ich mir immer die Frage nach Ursache und Wirkung: Ist das Hirnarreal x bei Handlung y immer besonders aktiv, weil Hirnarreal x ursächlich für Handlung y ist?
Oder hat die sich verselbstständigende Handlung y überhaupt erst zu den neuronalen Verschaltungen im Hirnarreal x geführt?
Wird AD(H)S vererbt oder durch Einflüsse aus der Umwelt begünstigt oder gar erzeugt? Ist das ein Prozess oder eine von vornherein statische Geschichte? Neuronale Netze bilden sich ja erst im Laufe des Lebens… Kann man dazu irgendwo was Substanzielles lesen? AD(H)S-Forschung beim Säugling oder so?
Gruß,
Maik
hallo maik, sprache baut keine häuser, steht nicht hinter mikrochips und neuen technologien? sind es nicht oft einzelne worte und sätze, die ein ganzes leben verändern? auf eine (andere) spur bringen? und in vielen therapien ist sprache, von tranceindutionen bis posthypnotischen aufträgen, der zentrale wirkmechanismus. und von der (leichten) trance in die schulstunde ist es nur ein kleiner schritt! insofern ist das sprachliche instrumentarium, von der metapher über die muster von erickson bis zum storytelling etwas, das nicht nur schüler BEWEGEN kann.
zum adhs/ads/add komplex kann ich dir keine empfehlenswerte materialsammlung nennen, dafür eine episode aus palm springs, wo ich den jährlchen neurofeedback.kongress besuchte. ich glaube es war das ehepaar othmer, das mit vielen hundert add-schulkindern (attention deficit disorder) gearbeitet hat, meist in amerikanischen grosstädten.
zwei drittel der add-verdachtsfälle schieden nach medikamentöser behandlung (spurenelemente und vitamine versus junk food) und reduktion des tv-konsums (im schnitt 8 stunden) nach etwa vier wochen aus. die tatsächlichen problemfälle lagen deutlich unter 40 prozent.
@Lutz
Wir schauen unterschiedlich auf Sprache: Ich schaue mehr auf meine Trockenestrichplatten, die ich durch kein Wort dazu bewegen kann, sich in den Fußboden auf dem Dachboden einzufügen. Ich schaue auf das oft anzutreffende Metageseier im Netz, das beschreibt und wieder beschreibt, was sich alles ändern müsste oder was an x jetzt nicht so gut ist und wie es eigentlich sein müsste. Finde ich alles wichtig, wenn man auf der Stufe nicht stehen bleibt, was aber oft geschieht – und genau dann halte ich Sprache für wertlos – wenn sie nicht ins Handeln übergeht – und das ist ja etwas anderes, als das von Torsten aufgemachte Oppositionsmotiv.
Im Coachingbereich legst du wahrscheinlich den Leuten Trockenestrichplatten hin und zeigst auf, was man damit tun muss und wie man sich besten trägt. Aber hochtragen kannst du die Dinger für die anderen nicht – das müssen sie schon selbst machen und dann ändert sich tatsächlich etwas. Als Lehrer bin ich im Idealfall ein Katalysator von Lernprozessen und natürlich initiiere ich durch Sprache selbige. Dann finde ich Sprache als Instrument schon ok und auch wertvoll. Der Wert entsteht aber erst durch das Handeln meiner Lerngruppe.
Also besser eine Dichotomie denn eine Opposition.
Mir ist aufgefallen, dass Frauen in der Sprache kaum vorhanden sind und dass sich der Gendergedanke in der Sprache kaum bis gar nicht durchsetzt. Die weiblichen Bezeichnungen werden in so gut wie allen Publikationen, unter dem Vorwand, es seien ja eh beide Geschlechter gemeint, unter den Tisch fallen gelassen. Solange aber Frauen in der Sprache nicht sichtbar sind, werden sie auch in der Gesellschaft nicht sichtbar und somit benachteiligt sein. Sprache ist mächtig, absolut, und sie trägt auch dazu bei, dass Frauen in vielen Bereichen der Gesellschaft nicht „vorhanden“ sind. Übrigens, sehr nettes Video „Power of words.“ 🙂