Vernetzen macht Spaß – und ist lehrreich

1985, lange bevor Computer und Internet bei mir einzogen, machte ich als Jugendlicher erste Erfahrungen mit „Vernetzung“: Ich schrieb und erhielt Briefe – aus fast allen Regionen der Welt. Heute kaum mehr vorstellbar, gab es zu dieser Zeit viele Jugendliche, die sich nicht in Online-Communities trafen, sondern über Brieffreund-Agenturen Kontakte in unterschiedlichsten Ländern suchten. Der Grund war zunächst ein ganz einfacher. Es ging oberflächlich betrachtet darum, erworbene Fremdsprachenkenntnisse endlich einmal anwenden zu können. Und da ich gerade, nach zwei Sprachaufenthalten in England, im Englischen „drinnen“ war, suchte ich mir also englischsprachige Brieffreunde und -freundinnen, die dann entweder auch auf Englisch antworteten oder es sogar auf Deutsch versuchten.

Das ging meist zögerlich und mit den üblichen Erzählungen über das eigene Land einher, das schlief oft schnell wieder ein. Es gab aber ein paar Kontakte, die lange hielten, ohne dass man sich je gesehen hätte. Im Rückblick weiß ich heute, was diese Kontakte am Leben erhielt: Dort, wo schnell gemeinsame Interessen, über die man ins Gespräch kommen konnte, gefunden wurden, hielten die Kontakte so lange, bis eine der beiden Seiten – und das kommt bei Jugendlichen ja durchaus vor – andere Interessen entdeckte, die sich dann nicht mehr mit denen der anderen Seite deckten.

Täglich lief ich in diesen Zeiten zum Briefkasten, hoffte auf Post, saß am Schreibtisch und schrieb teilweise viele Seiten lange Briefe (schon damals konnte ich mich schriftlich nicht kurz fassen, das übe ich jetzt aber über twitter 😉 ), wusste genau, wann der Briefkasten geleert wurde und wie lange die Brieflaufzeiten waren: Nach Singapur waren es damals z.B. 2-3 Tage, was für mich beeindruckend schnell war. Ging Montags ein Brief raus, konnte er am Mittwoch ankommen, am Donnerstag lag dann meist die Antwort dort im Briefkasten, kam meist Samstags an, so dass am Montag wieder ein Brief rausgehen konnte und ich den ganzen Sonntag zum Schreiben hatte.

Es gab aber auch Freunde und Freundinnen in Deutschland verstreut, mit denen über Telefon und mit Briefen kommuniziert wurde, so sie nicht irgendwo in der Nähe wohnten und man sich eben einfach treffen konnte.

Im Rückblick waren das meine ersten Vernetzungen und ich lernte enorm viel dabei. Der ständige Austausch und vor allem das Schreiben über unterschiedlichste Themen, zwangen mich dazu, mir immer wieder Klarheit über die Inhalte zu verschaffen. Der Unterschied zum schulischen Lernen war enorm: Ich schrieb Englisch, weil ich mit jemandem in den Austausch treten wollte (dass es dabei um das Lernen der Sprache ging, war eher das Argument gegenüber den Erwachsenen, eigentlich ging es um die Inhalte oder auch einfach nur darum zu entdecken, dass Papier in unterschiedlichen Ländern völlig unterschiedliche Qualitäten hatte, Leute deren Muttersprachen nicht in lateinischen Buchstaben notiert sind ganz andere Handschriften entwickeln etc.).

So erinnere ich mich noch gut daran, wie ich die als Sechszehnjähriger nach Erfahrungen in einer Bücherei die Hessische Landesbibliothek entdeckte und meinen ersten echten Bibliotheksausweis in Händen hielt. Meine erste Ausleihe – und jetzt bitte nicht lachen, war wirklich so – waren 1. ein Buch zur Handschriftenkunde und 2. eine Einführung in philosophische Ontologie. Ich verstand natürlich erst einmal gar nichts. Hatte aber das Problem, dass ich einem Brieffreund davon erzählt hatte und der jetzt unbedingt wissen wollte, was denn um Himmels Willen „Ontologie“ sei. – Jetzt hatte ich das Problem, ich brauchte eine Antwort. Also las ich – und mein Gegenüber wartete und wartete auf meine Antwort.

Weil ich einen Brief schreiben musste, lernte ich zumindest in den Grundzügen, was es mit Ontologie auf sich hat – und zwar beim Schreiben des Briefes selbst, das pure Lesen war da damals nicht sehr fruchtbar.

Ich war zwar kein miserabler Schüler, aber ein solches Engagement in Sachen Lernen war für mich völlig neu. Ich hatte mich vernetzt und jetzt hatte ich gefälligst auch was zu bieten, wollte ich die Kontakte am Leben erhalten. Das machte riesigen Spaß, war spannend und eben auch lehrreich, sodass mich diese Form des Gedankenaustausches, insbesondere über den Brief und somit in schriftlicher Form, auch noch in Studienzeiten begleitete.

Doch als wir in einem Seminar zur künstlerischen Ästhetik einmal auf ein Buch stießen, dass nun wirklich niemand von uns verstand (später merkten wird, dass es da auch nichts zu verstehen gab), warben wir im Seminar für eine Lektüregruppe – und als unsere Dozentin das mitbekam, schloss sie sich uns an und gab ihr Wohnzimmer als Treffpunkt her. Heute würde man das dann wohl eine Community nennen, denn natürlich lasen wir nicht nur. Nachdem wir das ursprünglich den Anlass für diese Gruppe bildende Buch mangels erkennbarer Qualität zum Verstauben ins Regal gestellt hatten, lasen wir dann eben Kants Kritik der Urteilskraft und brauchten dazu immerhin zwei Jahre mit Treffen im Zweiwochenrhythmus.

Eine Veränderung dieser Formen der Vernetzung kam  erst mit dem Einzug des Internets in mein Leben. Das war 1999.

Die E-Mail hatte ich so ziemlich sofort ins Herz geschlossen, meine erste Website entstand im Jahr darauf. Für Vernetzung spielte sie als klassische Web 1.0 Website keine Rolle, auch weil sie einfach keiner lesen (oder anschauen?) wollte. Aber immerhin: Ich lernte ein wenig html und konnte davon fasziniert sein, dass das jetzt theoretisch in der ganzen Welt in Sekundenbruchteilen lesbar war.

Und dann kam das Web 2.0. Es dauerte nicht lange und ich hatte mein erstes Blog und kurz danach sogar eine eigene Domain, ich entdeckte IRC, Chat, InstantMessaging als Möglichkeit des Austausches, trug mich in Newsgroups ein – und es passierte erst einmal gar nichts.

Knapp neun Jahre war ich im Internet vertreten, bis sich dies änderte. Ich legte mir eine zweite Domain zu und begann ein Blog, in dem zunächst einmal einfach Texte abgelegt werden sollten, die im Rahmen meiner Arbeit entstanden sind: Textinterpretationen vor allem, aber zur Auflockerung eben auch ein paar Sachen, die mit meinem Hobby der Fotografie zu tun haben.

Es gab erste Kommentare und erste neue Gespräche kamen in Gang. Und dann kam twitter, über twitter stieß ich auf ldl.mixxt.de und maschendraht.mixxt.de, zwei Communities mit lauter an Bildungsfragen interessierten Menschen. Und ich mache, wir sind mittlerweile in der Gegenwart angekommen, wieder die Erfahrung, dass Kommunikation in vernetzten Strukturen dann gelingt, wenn man ein gemeinsames Interessengebiet hat.

Mein Blog veränderte sich in dieser Zeit. Ich schrieb weniger über Inhalte, die mich im Unterricht gerade beschäftigen, obwohl es auch für solche Einträge mal wieder Zeit wird, ist da doch das eine oder andere an (handschriftlichen) Texten aufgelaufen, sondern mehr und mehr über bildungstheoretische Fragen, die unmittelbar mit der Praxis verbunden sind. – Ich konnte gar nicht anders, spätestens seit mir in diesem Kontext Jean-Pol Martin, Melanie Gottschalk und Christian Spannagel begegnet sind. Es folgten noch einige mehr, aber diese drei nenne ich mit Namen, weil sie der Anstoß waren, mit ihrem Engagement im Internet auch meine Gedanken anzuregen. Und kaum begann ich diese zu äußern, war ich „endgültig“ im Web 2.0 gelandet: Kommentare in anderen Blogs schreiben, twittern, neue Blogs entdecken, Kommentare im eigenen Blog vorfinden und reagieren müssen / wollen.

Plötzlich war ich in einem Prozess drinnen, den ich für mich Fortbildung 2.0 nenne, weil hier für mich, neben dem Spaß des gemeinsam an gemeinsamen Themen Arbeitens und den Anregungen zu neuen Themen und Fragestellungen, die auf diesen Wegen entstehen, die Situation zum Dauerzustand geworden ist, die ich mit dem Erzählen von dem Buch über philosophische Ontologie und der Nachfrage, was das denn sei, zum ersten Mal erlebt hatte: Es tauchen Fragen auf, die mich beschäftigen und die irgendwie bearbeitet werden müssen / wollen. So war das in dem philosophischen Lesekreis während des Studiums und so ist es jetzt wieder.

Es mag nicht so scheinen, aber das Schreiben der Texte für dieses Blog ist für mich Lernen, begleitet von der Lektüre anderer Blogs (und natürlich weiterhin von Büchern), dem einen oder anderen Kurzaustausch auf Twitter etc. – Und das alles neben der nicht gerade geringen Arbeit in Sachen Unterricht, denn das läuft ja alles im Grunde in der Freizeit. – Der persönliche und fachliche Gewinn sind aber so hoch, dass es Spaß macht und eben lehrreich ist.

Dabei hat sich, wie ich jetzt zu meinem eigenen Erstaunen feststelle, das Grundprinzip der Vernetzung nicht verändert, wohl aber die Form: Im Internet gibt es so etwas wie Brieflaufzeiten nicht, der Adressatenkreis eines Eintrages ist deutlich größer, es gibt schnelle Reaktionen, die aber nicht unüberlegter erscheinen als in Briefzeiten.

Digitale Technologie hat aber auch ein Eigenleben insofern sie die Vernetzungen komplexer und geographisch deutlich unabhängiger werden lässt. Darüber hinaus ist die Pluralität der Menschen beeindruckend, die mir im Netz begegnen und die mich bereichern oder mir auch einmal zurückmelden, dass meine Arbeit sie bereichert. Viele Anregungen und mancher Gedankenaustausch wären im analogen Kontext entweder nicht,  nur per Zufall, unter hohem Aufwand oder eben gar nicht zustande gekommen.

Warum aber arbeitet man zusammen? Klar, da stehen Themen im Vordergrund. Über diese würde man aber im Internet nicht miteinander reden, wenn das gemeinsame und vernetzte Nachdenken nicht auch von Sympathie und Wertschätzung getragen würden. Und genau diese weiche Faktoren fördern die Arbeit. – Ich kenne bislang noch niemanden all der engagierten Lehrenden und Unterrichtsinteressierten persönlich, mit denen ich seit einiger Zeit mehr oder weniger regelmäßig im Austausch stehe, weiß aber, dass in diesem Netzwerk, in das ich da glücklicherweise hineingeraten bin, die meisten sich eben doch auch persönlich kennen und ich freue mich schon darauf, dass in wenigen Wochen auch ich einige in Ludwigsburg auf dem LdL-Tag kennenlernen werde.

Und damit ist ein weiterer Faktor angesprochen, der vernetztes Arbeiten so wohltuend sein lässt (zumindest wenn alles gut läuft): Die eigene Arbeit ist mehr oder weniger öffentlich, bietet also auch Dritten Anknüpfungsmöglichkeiten, die ich eben noch nicht kenne.

Zeit für ein Fazit: In selbst verantworteten Bildungsprozessen spielen für mich schon seit Jahren Netzwerke eine Rolle, zunächst analoger und heute digitaler Art. Umgekehrt habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Netzwerke selbst in der Lage sind, das selbst verantwortete Lernen anzuregen und enorm zu fördern. Es scheint mir sogar so zu sein, dass selbst verantwortetes Lernen von solchen Netzwerken lebt, da sie den ständigen Austausch über das eigene Nachdenken ermöglichen und so den entsprechenden „Spaßfaktor“ mit ins Spiel bringen, der für nachhaltiges Lernen einfach wichtig ist.

Vor diesem Hintergrund eigener Lernerfahrungen, bin ich so ein Verfechter von Netzwerken geworden. Sowohl Lehrende als auch Lernende sollten sich untereinander und miteinander an Themen orientiert vernetzen, um gemeinsam zu lernen. Und da solche Strategien der auf Lernen hin ausgerichteten Vernetzungen nicht jeder autodidaktisch lernt (lernen kann, lernen will), finde ich es wichtig, dass solche Strukturen zunehmend auch im Unterricht bzw. in die Lernkultur im schulischen Kontext Einzug halten. Es gibt Blogs, in denen Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe gemeinsam arbeiten und dabei zum Teil erste Erfahrungen mit sozialen Lernformen im digitalen Zeitalter machen, die über (oft kommerzielle) Hausaufgabenforen und Schülercommunities hinaus gehen. Es wird gechattet, getwittert (in meiner Wahrnehmung sind Microbloggingsysteme bei Schülern und Schülerinnen in Deutschlang bislang nicht sonderlich weit verbreitet, wohl aber bei den Lehrenden, die im Netz aktiv sind).  Es werden aber auch zunehmend im Unterricht Arbeitsformen (zum Beispiel „Lernen durch Lehren“, Projektarbeit, Forschungsprojekte…) eingesetzt, die Kollaboration (auch digitaler Art) unausweichlich machen.