Ermutigung: Lest Lektüren laut einander im Unterricht vor

Während meines persönlichen Wochenrückblicks erinnere ich diese Szene aus dem Deutschunterricht, Kl. 9: Wir lesen in der Klasse gemeinsam Hesses »Unterm Rad« einander vor. Plötzlich ein*e Schüler*in mit einem tiefen Ausatmen: »Was für ein schöner Satz.«

Es war dieser Satz:

»Er war in den Kleidern eingeschlafen, und die leise, mütterliche Hand des Schlummers ebnete die Wogen in seinem unruhigen Kinderherzen und löschte die kleinen Falten auf seiner hübschen Stirn.« (Hermann Hesse, Unterm Rad, S. 17.)

Ich ermutige: Nehmt euch Zeit, mit Klassen Lektüren wirklich zu lesen. – Wie oft verlagern wir die erste Rezeption längerer schriftlicher Gedankengänge in die Eigenverantwortung der Schüler*innen »nach Hause«, statt das Lesen zu praktizieren. Texte zu lesen muss man lernen und üben. Auch(!) miteinander.

Mein Vorgehen dabei ist immer ähnlich: Eine Person, ja auch ich, liest vor, alle anderen lesen leise mit. Gewechselt wird, wenn der / die Lesende weitergeben will.

Doch das Vorlesen lebt von den Unterbrechungen.

  • Wer ein Wort nicht versteht, unterbricht sofort mit »Stop«, auch mitten im Satz.
  • Wer einen Gedanken zu dem Text hat, unterbricht sofort mit »Stop«, auch mitten im Satz.
  • Wer Widerspruch zu einer Aussage formulieren will, unterbricht sofort mit »Stop«, auch mitten im Satz.
  • Wer sich an andere Texte erinnert, in denen Ähnliches vorkam, ob in der Schule gelesen oder privat, unterbricht sofort mit »Stop«, auch mitten im Satz.
  • Wer sich an Filme, Computerspiele, Fantasy-Rollenspiele und so weiter erinnert fühlt, unterbricht sofort mit »Stop«, auch mitten im Satz.
Bei diesem Vorlesen steht das Teilen dessen im Vordergrund, was einem dabei durch den Kopf geht. Zumindest, wenn man das will – denn vielleicht tauchen beim Lesen Gedanken auf, die man nicht teilen mag.
 
Dieses Lesen habe ich im Studium kennengelernt. Wir haben es damals gemeinsam mit einer nach wie vor von mir sehr geschätzten Dozentin (und heute Lehrerin) mit Kants »Kritik der Urteilskraft« so praktiziert – allerdings trafen wir einander über zwei Jahre hinweg alle zwei Wochen.
 
Ich weiß nicht, ob das mit »SharedReading®«verwandt ist, weil ich mich mit diesem nie befasst habe, von diesem nur den Namen kenne. Aber es ist auf jeden Fall ein Lesen, bei dem die Lesenden etwas teilen. Es ist ein Lesen, bei dem die Leser*innen eine große Rolle spielen.
 
Ja, das kostet Zeit. Aber der Lern- und Bildungseffekt, der mit dieser »Investition« einhergeht, ist meiner Erfahrung nach ertragreicher, als ich es in vielen Unterrichtsszenarien erlebe, die sehr früh sehr analytisch an Literatur herangehen, ohne dass immer sichergestellt ist, dass die Literatur auch als solche erlebt und entsprechend gelesen wurde.
Wir unterrichten das Entziffern der Buchstaben in Kombinationen (das Lesen); wir lehren das Schreiben und spätestens ab Klasse 7 verlagern wir das Lesen oft nach Hause, statt dem Wissen zu folgen, dass das Lesenlernen weit mehr verlangt, als in der Primarstufe Lesen zu lernen.
 
Wer von sich aus das Bedürfnis zu lesen entwickelt, wer den Wert des Lesens für sich selbst entdeckt, kann sehr viel während der Lektüre lernen, findet eigene Strategien des Lesens. – Doch wir sollten uns nichts vormachen: Systematisches Lesen (langer Texte), deren Entschlüsselung auch zwischen den Zeilen, gelingt vielen Menschen nicht »einfach so«. Und dass sich die Anstrengung des Lesens lohnt, vermittelt sich im Konkurrenzverhältnis zu anregenden Filmen, anregenden Spielen etc. nicht von alleine.
 
Allerdings ist es nicht von Nachteil, wenn dieses gemeinsame einander Vorlesen literarischer Texte in der Schule von einer Lehrperson begleitet wird, die z. B. auf literarische Motive und Themen aufmerksam machen kann, die poetologische Verfahrensweisen kennen und erklären kann.
 
Damit kein Missverständnis entsteht: Diese Art des Lesens beschränkt sich weder auf den Deutsch- noch auf den Sprachenunterricht, sie kann in jedem Unterricht gewinnbringend eingesetzt werden, in dem längere Texte gelesen werden (können / sollten).
 
Ich lade dazu ein, diese Art des Lesens im eigenen Fach einmal auszuprobieren und freue mich über Erfahrungsberichte, die hier gerne als Kommentar hinterlassen werden dürfen.
Foto: Torsten Larbig