Faust 1 – Verweile doch, du bist so schön (V 1700)
Faust 1 – Verweile doch, du bist so schön (V 1700) von Torsten Larbig steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
MotorFM ist ein alternatives Musikprogramm. Doch auch den Faust scheinen die Onlineredakteure dieses Musikprogramms (Motto: Alternative Musikpropaganda) sehr alternativ zu lesen:
»Schon Goethe belehrte uns in seinem ›Faust‹, dass man im richtigen Moment sagen sollte: ›Verweile doch, du bist so schön.‹!«
So schön das Zitat – »Verweile doch, du bist so schön« – für sich genommen ist, weder Faust noch Goethe propagieren das Verweilen.
Wir befinden uns mitten in der Szene (Studierzimmer), in der Faust dem Mephistopheles eine Wette vorschlägt. Faust wettet, dass es Mephistopheles nicht gelingen wird, ihn von seinem Streben nach immer mehr Wissen abzubringen: Wenn Faust sich aus dem Streben nach Wissen in die Bequemlichkeit verabschiede, so Fausts Angebot, dann dürfe ihn Mephistopheles ins Verderben mitnehmen, dann solle dies sein letzter Tag sein. (V 1692–1706)
Faust sagt hier wörtlich:
»Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« (V 1699–1702)
Und ein wenig später:
»Wie ich beharre [d. h. nicht weiter strebe], bin ich Knecht, / Ob dein, was frag ich, oder wessen.« (V 1710f – Ergänzung von herrlarbig.)
Wenn also jemand sagt, Faust haben das Verweilen des schönen Augenblickes »gelehrt«, dann hat er entweder den Text nicht (genau) gelesen [was ich für die wahrscheinlichere Option halte] oder aber er will genau das erreichen, was Mephistopheles dem Faust gegenüber erreichen will: Einen Menschen dazu zu bringen, nicht weiter zu streben, nicht mehr wissen zu wollen, zu verharren und sich letztlich auf dem »Faulbett« (V 1692) auszuruhen.
Das Problem am Kanon ist doch, dass ihn alle zitieren und niemand gelesen hat, oder? Ich habe auch nicht alles gelesen, aber wenn ich schon mit meinem Wissen prahle, dann habe ich doch wenigstens mal den Kontext abgecheckt, um meine Unkenntnis nicht gleich bloß zu stellen. Na gut, den Faust habe ich ausnahmsweise gelesen, mehrfach, und noch eins, Wiliam Blakes „The Marriage of Heaven and Hell“. Hat mich stark beeinflußt. Dort heißt es an einer Stelle: „Expect poison from standing water.“ (Erwarte Gift von sehendem Gewässer.) Blake stellt eine Philosophie vor, in der die zwei Kräfte Reason (Vernunft) und Desire (Leidenschaft) einander Maß halten. „Without contraries there’s no progression.“ – Beide müssen, seien sie auch noch so gegensätzlich wie Himmel und Hölle, vorhanden sein, denn sonst gibt es keine Entwicklung und Entwicklung muß es geben, weil wir sonst stehenbleiben und versumpfen und vergiften. Deshalb ist es zwar schön, sich an einem schönen Moment zu erfreuen. Doch, ganz ehrlich, würde er „ewig“ verweilen, so wäre das auf Dauer ziemlich langweilig.
Das Motiv ist viel älter und somit auch irgendwie überzeitlich. Ich fühle mich da gerade an eine Szene aus dem Aeneas-Roman Heinrich von Veldekes erinnert, da sich der Held Eneas und seine Geliebte, die phönikische Prinzessin Dido, im Bett „verligen“. Klar, wer kennt das nicht, frisch Verliebte finden selten den Weg aus dem Bett! Für den mittelalterlichen Leser schien das im Bett Sein offenbar gar nicht so problematisch. Anstoß wird eher am Im Bett Verweilen genommen, schließlich kann der Held so nicht die Taten vollbringen, die von einem Helden erwartet werden.
Vielleicht eines der wichtigsten Goethe-Zitate überhaupt, allerdings nur, wenn man es vollständig zitiert. Ich halte es für ein Dilemma, dass der „Faust“ heute kein verbindlicher Lehrplaninhalt des Deutschunterrichts mehr ist.
Danke für den Kommentar. Nur an einer Stelle kann ich nicht zustimmen: Faust 1 ist verbindlicher Inhalt des Deutschunterrichtes; in Jahrgangsstufe 13, quasi als Höhepunkt- und so nehmen das viele Schüler und Schülerinnen auch wahr. So zumindest in Hessen.
Ich kann den Kommentar nicht ganz zustimmen. In Faust 2 auf dem Sterbebett hat Faust die Vision von einer zukünftigen Gesellschaft: Er sagt: „Verweile doch, du bist so schön, es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht Aeonen untergehen.“ Er möchte die Welt noch weiter zum Guten verändern und das kann er nicht, wenn das Leben endet. Er zieht Resümee und möchte den Augenblick nicht enden lassen. So sehe ich die Interpretation von Faust. Wenn man aber nur bis zum Faust 1 gekommen ist, also auf halber Wegstrecke aufgehört hat zu lesen, kommt man zu oben genannter Interpretation. Dr. Krauß
Ich bin ganz bei Krauß! Die Aussage in Faust 2 gibt erst das volle Verständnis. Ob nun Faust 1 in der Schule gelehrt wird, liegt am jeweiligen Lehrplan, am Niveau der Klasse und der Ambition des Lehrers. Faust 2 wird meines Wissens weder in D noch in Österreich in der Schule gelehrt oder gelesen! Gerd Mirtl
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, verpestet alles schon Errungne. Den faulen Pfuhl auch abzuziehen- das Letzte wär‘ das Höchsterrungne. In der Tat, ich erinnere mich an so manche Deutschstunde in der ehemaligen DDR. Ob Goethe oder Fontane… die Klassiker hatten ihren festen Platz im Repertoire des DDR- Bildungswesens. Alles selbstverständlich eingebunden in die sozialistische Doktrin mit Vorbereitung des Eintritts in die SED als „Speerspitze“ (sic!) der Arbeiterbewegung. Demzufolge kam bei der Behandlung des Stoffes außer Fausts Vision einer zukünftigen Gesellschaft so ziemlich alles andere zu kurz… Gerade mal noch Gretchens Selbstmord wurde am Rande erwähnt und zum Schluss noch der Streit um Fausts Seele, wem sie denn nun nach seinem Tod gehöre. Dass der Teufel nicht zum Zuge kam war zumindest in der anti-idealistischen Staatsphilosophie der Margot Honecker eine Erwähnung wert.
Aus heutiger Sicht, wo die Öko-Fundies uns am liebsten wieder auf die Kautschuk-Plantagen schicken würden, anstelle die Reifen wie gehabt aus den Abfällen der Ölindustrie herstellen zu lassen, ist Faust‘s Vision doch so mindest aus ökologischer Sicht das ziemlich Verwerflichste, was man sich vorstellen kann…
„Eröffne ich Räume vielen Millionen, nicht sicher zwar doch tätig frei zu wohnen…“ aus DDR-Sicht mit ihren ausufernden Wohnungsprogrammen eine sehr willkommene Vorstellung und der ideologische Grundstein für Betonwüsten a la Berlin-Marzahn, Hellersdorf oder Halle-Neustadt.
Heute würde Goethe wahrscheinlich seinen Faust über Deichrückverlegung und Schaffung von Schwemmland nachdenken lassen. Vermutlich würde er die letzten Sumpf-Biotope nicht austrocknen wollen und die Leidtragenden dieser touristischen Attraktionen, nämlich die Touries selbst, nicht mit aus Agrarflugzeugen. versprühten DDT-Nebels vor den resultierenden Mückenschwärmen schützen wollen. Tatsächlich so geschehen in der Uckermark.
Zurück zum eigentlichen Thema, das doch sehr gut zur Uckermark passt, denn in der Tat bleibt man fasziniert an so manchem See stehen oder sitzen und lauscht einfach nur dem lieblichen Gesang der vielfältigen Vogelwelt. Vorausgesetzt man hat sich gut mit Autan o.ä. eingesprüht. Dem Verweilenkönnen muss ein Verweilenwollen vorausgehen. Den Augenblick genießen zu können ist ein Privileg, das nicht jedem vergönnt ist!
Die Ursachen sind vielfältig: schlechte Gesundheit, fehlendes Geld um an die schönen Orte zu fahren, familiäre Verpflichtungen, berufliche Belastungen oder eben schlichtweg Ignoranz und Desinteresse.
Wo bleibt nun dabei das „Faustische“ in uns Deutschen, das ja auch von den Nationalsozialisten beschworen wurde, übrigens in Analogie zur Ablehnung des Christentums in der DDR. Die Nazis haben den Grundstein zur Abschaffung des Christentums in Ostdeutschland gelegt, die SED hat es letztendlich vollzogen. Heute spielt die Kirche wieder eine bedeutendere Rolle im Osten, doch was verloren ist bleibt verloren. In einigen Regionen ist sie schlichtweg marginalisiert.
Worum geht es also heute? Sich gewaltsam an die Macht zu bringen um über andere Völker zu herrschen wie bei den Nazis, die Schöpfung zu bewahren und Gott zu ehren wie bei den Christen oder die elende Gleichmacherei der Sozialisten? Was die Zukunft bringt, worin unsere Hoffnung besteht, das kann wohl jeder nur für sich beantworten… ob Gott oder die Weltrevolution oder die Klimawende alles an sich erscheint unendlich weit. Letztlich ist das Leben zu kurz für diese Ziele. Goethes Botschaft lautet: wir sind letztlich in allen Dingen zum Scheitern verurteilt. Gretchen geht ins Wasser, Faust allein wird von Gott begnadigt. Aber sterben müssen wir alle. Ob unsere Seele danach in den Himmel gelangen kann, wissen wir nicht. Wird sie gewogen, kommt sie an den Cherubin vorbei und wie habe ich mir das Elysium vorzustellen? Oder bleibt doch nur die ewige Verdammnis… Diese Fragen will eigentlich niemand wirklich hören… und trotzdem beschäftigen wir Menschen uns mit diesem Thema seit Tausenden von Jahren! Der Sinn des Lebens. Ist es wirklich das ewige Streben nach Vollkommenheit, nach Glück, Wohlstand und Gesundheit? Oder doch nur der nächste Rausch, der nächste Kick, die nächste Ekstase? In dieser Ambivalenz, in diesem Dilemma befindet sich die Menschheit seit ihrer Existenz. Die Verführung, der Sündenfall, der Verlust des Paradieses. Viele verschiedene Kulturen haben ähnliche Geschichten zu erzählen.
Meiner Meinung nach ist die Suche nach Erkenntnis Gottes Strafe für den Sündenfall. Der Apfel vom Baum der Erkenntnis, von dem die ersten Menschen nicht naschen durften… das Bibelzitat: denn selig sind die da geistlich arm sind, denn ihnen gehört das Himmelreich… lassen in mir die Schlussfolgerung zu, dass Erkenntnisgewinn nicht der Weisheit letzter Schluss ist… Denn der verdient sich Freiheit, wie das Leben, der täglich sie erobern muss.