Die Sau hat geworfen, die Göre will noch ein Ferkel oder: Ist Kohärenz im Lehrberuf möglich?

Beiträge in diesem Blog entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern gut durchlüftet in der taunusseitigen Frischluftzufuhr von Frankfurt am Main. – Oder aber im Frischluft zufächelnden Dialog mit all den anderen Denkenden im Netz und im Alltag. Dieses Mal sind Dörte Giebel (Die Göre lebt [DGL]) und somit indirekt (mal wider) Jean-Pol Martin (JPM) „schuld“.

Jean-Pol schreibt, es sei in seiner „dynamischen Vorlesung“ nunmehr „alles raus“ und er fühle sich „wie eine Sau, die gerade 15 Ferkel abgeworfen hätte (normal: 13,1). Glücklich, aber erschöpft.“

Und jetzt kommt Dörte (Die Göre lebt) und will „ein Ferkel“ von Jean-Pol, verbunden mit der Sorge, Jean-Pol könne nun ins Schweigen verfallen. (Ganz nebenbei: Ich halte das für eine völlig unbegründete Sorge 😉 )  Dörte schreibt (und es soll noch einmal jemand behaupten, Blogger seien introvertierte Einzelgänger, die von Vernetzung und Dialog keine Ahnung hätten, dieses Blogger-Twitter-Real-Life-Networking, das ich in den letzten Monaten erlebe, ist das glatte Gegenteil davon) – also, Dörte schreibt:

„1.) Wehe, der hört jetzt auf zu schreiben – ich möchte gern weiterhin gefüttert werden!
2.) Von so einem kohärenten Produkt bin ich meilenweit entfernt – also muss ich endlich aufbrechen, mein Ureigenstes zu finden…“

Und damit bin ich endlich beim Thema dieses Beitrages, der genau durch diesen Dialog von JPM und DGL angeregt wurde: Die Sache mit der Kohärenz von Entwürfen, hier auf den Lehrberuf bezogen, obwohl DGL selbst gar keine Lehrerin ist.

Schnell, damit es kein „böses“ (weil von nur wenigen verstandenes) Wort wird: Was meint „Kohärenz“? Das ist mal wieder ein aus dem lateinischen abgeleitetes Wort, abgeleitet von cohaerentia = Zusammenhang und im Sinne einer Theorie damit ein in sich geschlossener, zur Diskussion und Erweiterung aber dennoch verfügbarer Zusammenhang gemeint, bei JPM ist das die wissenschaftliche Untermauerung von „Lernen durch Lehren“.

Für mich ist das in der vernetzen Welt mit der Kohärenz, dem in sich geschlossenen Zusammenhang, ein Problem, das mit der Struktur dieses Netzwerkes zu tun hat, dazu aber an dieser Stelle nicht mehr, sondern gleich in die tosende Brandung gesprungen, nämlich in die Annahme, dass für mich  als Mensch im Lehrberuf  das mit der Kohärenz eigener Denkansätze zumindest ein Problem ist, so sehr diese auch angestrebt wird.

Ich behaupte – durchaus bewusst provokant: Kohärente Modellbildung ist im Lehrberuf kohärent nicht möglich, solange man nicht bereit ist, die unterschiedlichen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, die mit dem Lehrberuf verbunden sind. – Um bei dem so schönen Wort zu bleiben: Lehrende haben es nicht mit einem kohärenten Zusammenhang zu tun, sondern mit x Zusammenhängen, in denen sie jeweils Praxiserfahrung und von Theorie geleitetes, diese aber auch entwickelndes, Handeln zu den unterschiedlichsten kohärenten Konzepten zusammenfügen müssen.

JPM kommt zu einer Kohärenz bezogen auf ein Modell, das eine Möglichkeit für guten, weil aktiv Denkprozesse (kognitive Prozesse) anstoßenden, Unterricht vorstellt und theoretisch auf der Höhe der Kognitionsforschung und Hirnphysiologie unserer Zeit zu begründen vermag.

Dennoch kommt es im Zusammenhang mit der Vorstellung dieses in der Praxis von vielen Seiten als hilfreiche und erfolgreich beschriebenen Modells immer wieder zu kritischen Anfragen. An anderer Stelle habe ich von dieser Beobachtung im Rahmen des Ludwigsburger LdL-Tages schon geschrieben. Diese Anfragen argumentieren mit Zusammenhängen, auf die das in sich kohärente Modell von „Lernen durch Lehren“ scheinbar nicht direkt Antworten zu geben vermag, da sie nicht direkt mit dem Unterricht im Sinne von LdL verbunden scheinen: Wie ist das mit Störungen, mit Lerngruppen, die sich verweigern, mit Schulkulturen in sozialen Brennpunkten?

Keine Frage: JPM und auch Joachim Grzega können auf diese Fragen angemessen antworten und die Lösungspotentiale aufzeigen, die LdL für diese Fragen zur Verfügung stellt. Das haben sie beim LdL-Tag in Ludwigsburg gerade wieder gezeitg. – Für viele Lehrende stellen sich die Arbeitsbereiche im Lehrberuf aber dennoch wesentlich komplexer dar, als dass sie alleine mit LdL angemessen zu kohärenten, aus der Praxis (Aktion) heraus notwendigen und diese Praxis reflektierenden, für die Praxis relevanten und anwendbaren Theorien kommen können (so die Lehrenden an der den Beruf begleitenden Theoriebildung interessiert und beteiligt sind).

Die Komplexität, die LdL als einen Baustein der für die Berufsausübung notwendigen kohärenten Theorien qualifiziert, entsteht durch die äußerst pluralen Rollenerwartungen, denen ein Lehrender gerecht werden soll und die nicht nur mit dem Unterricht als seinem „Kerngeschäft“ zu tun haben. Lehrende sind eben nicht nur Unterrichtsprofis. Sie haben sich auch mit der Beratung von Schülern und Eltern, mit Fragen der Bewertung, der Schulentwicklung, mit Unterrichtsdokumentation und anderen Verwaltungstätigkeiten, ja selbst mit Beiträge zu schulpolitschen Diskussionen zu befassen (was für mich allerdings bislang nicht in diesem Blog geschieht) zu befassen.

Alle diese Fragen werden in meinen Augen durch die gesamte hinter LdL stehende Theorie bereichert. Aber eine Theorie reicht für all die komplexen Herausforderungen nicht aus, die im Lehralltag zu bewältigen sind. Lehrer sind Führungskräfte, arbeiten im mittleren Management, mit all den damit verbundenen Herausforderungen. Hier reicht LdL  als kohärentes Konzept alleine nicht aus. Eine Kohärenz ist für die Arbeit an der Schule zu wenig. (Und einen solchen Absolutheitsanspruch hat LdL auch nie erhoben!)

Die kritischen Anfragen, denen sich LdL oft stellen muss, haben ihre Ursachen möglicherweise auch darin, dass LdL als ein Konzept gesehen wird, das auf alles eine Antwort wisse und gleichzeitig übersehen wird, dass erst die kohärente Verknüpfung von kohärenten Modellen den Anforderungen im Beruf gerecht werden kann.

Wenn JPM also sagt, dass in Sachen LdL nunmehr „alles raus“ sei und im gleichen Atemzug die intellektuellen Mitstreiter erwähnt, dann ist das ein Zeugnis, dass die Theorie steht und – um weiter zu wachsen – neue Anknüpfungen an andere Theorien benötigt, um sich somit im Netzwerk der für den Lehrberuf notwendigen Kohärenzen weiter zu etablieren.

Hier muss jeder Lehrende einen eigenen Weg finden und sich quasi ein Netzwerk von Kohärenzen aufbauen, die jeweils in sich gedacht und verstanden werden müssen, um dann über Knotenpunkte im neuronalen Netzwerk der praxisrelevanten Theorien miteinander verbunden zu werden.– Einen solchen Versuch der Vernetzung habe ich im Zusammenhang von LdL und TZI bereits versucht.

Treibe ich die hinter diesem Beitrag stehenden Gedanken einmal auf die Spitze: Lehrende brauche kohärente Kohärenzen, die über kohärente Schnittstellen miteinander angemessen (hier könnte auch „kohärent“ stehen) verbunden sind, um angesichts der unterschiedlichsten Rollenerwartungen souverän und professionell agieren und interagieren zu können.

Wenn also JPM sagt, dass „alles raus“ sei und DGL dennoch ein weiteres „Ferkel“ will, dann spiegelt sich hier für mich genau der hier (hoffentlich verständliche und nachvollziehbare) Zusammenhang wider, dass JPMs Denken von nicht wenigen Praktikern als äußerst anregend und hilfreich angesehen wird, dass aber gleichzeitig mit dem Erreichen des kohärenten Theorie-Praxiszusammenhangs im Kontext von LdL nun die kohärente Verknüpfung mit den anderen, über den Unterricht hinausgehenden Anforderungen an Lehrende erfolgen muss, um LdL nicht nur als eine Methode unter anderen zu etablieren, sondern als Teil eines anderen Denkens in der Schulwirklichkeit.

Somit bin ich wieder bei der Frage der Überschrift dieses Beitrages gelandet: Ist Kohärenz im Lehrberuf möglich? Meine Antwort: Ja, aber nur als eine Vernetzung von Kohärenzen, als ein Zusammenspiel von aufeinander einwirkender, einander ergänzender und dennoch ein Gesamtes ergebendes praxisrelevanter Theorien.

Lehrer sollten in diesem Sinne immer auch als Wissenschaftler tätig sein, ihren reichen Erfahrungsschatz konzeptualisieren und ihn nicht für sich allein behalten bzw. ohne theoretische Reflexion wirksam werden lassen.

Neben all den Kohärenzen, die der Beruf von Lehrenden verlangt, treten auch noch die Kohärenzen der im Unterricht bearbeiteten Themen, also die fachwissenschaftliche Seite des Unterrichts. Sachanalyse, didaktische Analyse, methodische Überlegungen, gute Kenntnisse über die Individuen einer Lerngruppe, Beratung von Lernenden und deren Erziehungsberechtigten, Bewertungen und deren oft Biographien mitschreibende Bedeutung, Schulentwicklung, kollegiale Beratung, schulpolitische Positionierung, Umgang mit der kollektiven Lust an der Lehrerkritik und der Aufbau professioneller persönlicher Beziehungen zu den Personen, die Lehrenden anvertraut sind und mit denen sie gemeinsam den Bildungsprozess der Lernenden begleiten, verlangen äußerst differenzierte Kohärenzen (im Plural – sic!), die einen professionellen Umgang mit all diesen an einen Lehrenden heran getragenen Anforderungen ermöglichen.

Der mit diesen Herausforderungen verbundene Aufwand scheint mir bislang in der Debatte um Bildungsprozesse weitgehend unberücksichtigt zu sein – und das auch bei den Interessenvertretern der Lehrenden, die die den Beruf begleitende theoretische Arbeit – vielleicht auch, weil nicht jeder Lehrende ein Freund von Theorie ist – meist nur recht allgemein unter dem Begriff der „Fortbildung“ subsumieren. Doch mit „Fortbildung“ im Sinne des Konsums hilfreicher Ideen für den Unterricht und den Lehreralltag ist es meines Erachtens nicht getan. Viel zu sehr wird zwischen Unterricht und (der in Deutschland nach wie vor kaum stattfindenden) Unterrichtsforschung getrennt.  Während wir viel von der Kompetenzenförderung der Lernenden sprechen, scheint mir der Bereich der zur Theoriebildung nötigen Kompetenzenförderung der Lehrenden in der Diskussion bislang vor allem auf einen stärkeren Praxisbezug der Ausbildung hinaus zu laufen, mit dem gleichzeitig von vielen eine größere Theoriebildungsferne gemeint zu sein scheint.

Umgekehrt wird aber erst ein Schuh daraus: Eine an der Praxis orientierte Lehrerbildung muss immer mit der Förderung der Kompetenz zur Theoriebildung verbunden sein. Praxis muss konzeptualisierend reflektierbar sein, um den sich ständig ändernden Voraussetzungen der Praxis auf Dauer angemessen und kohärent begegnen zu können.

In der Praxis sieht es meiner Wahrnehmung nach so aus, dass der gesamte Bereich der Entwicklung von praxisrelevanten Theorie entweder Hochschullehrern, die auch unterricht (wie z.B. JPM) anvertraut wird oder als Freizeitbeschäftigung von Lehrenden gesehen wird, da die  Zahl der Lerngruppen, Unterrichtsstunden, Korrekturen, Beratungen, zu betreuenden Lernenden etc. nach wie vor so umfassend sind, dass sie alleine bereits die offizielle Arbeitszeit von Lehrenden (inklusive der von vielen als Urlaub missverstandenen unterrichtsfreien Zeit) voll ausfüllen. Die Arbeit an der praxisrelevanten Theorie ist nach wie vor kein selbstverständlicher Bestandteil des Berufs, des Selbstbewusstseins von Lehrenden und der Strukturen, in denen Unterricht angesiedelt ist.

Deshalb ist Kohärenz angesichts der Komplexität des Berufes im Lehrberuf nur schwer zu erreichen und deshalb stimme ich DGL sehr zu, wenn sie von Denkern wie JPM nach wie vor weitere Konezptualisierungen erhofft, die das Konzept LdL weiter voranb treiben. Aus diesem Grunde ist es auch notwendig, dass die von JPM genannten nachhaltigen Denkpartner wie Michael Wald, Maik Riecken, Dörte Giebel und auch ich, die Kohärenzen von JPM aufgreifen, anreichern und weiter entwickeln. Dabei bedarf es möglichst des weiteren Inputs von JPM und auch von dem bislang leider ein wenig im Schatten JPMs stehenden Joachim Grzega, denn, wie in diesem Beitrag vielleicht deutlich geworden, ohne diesen praxisrelevanten theoretischen Beitrag und die damit verbundene Vernetzung von Lehrerberuf und an der Hochschule angesiedelte Forschung und Praxisreflexion, ist die Bildung von Kohärenzen in der Praxis der Lehrenden an Schulen heute nur schwer möglich.